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Gewalt gegen Frauen Symbolbild. Illustration: Pixabay

„Den Partner zu verlassen, ist der gefährlichste Moment“

Die häusliche Gewalt hat in der Corona-Zeit zugenommen. Die Frauenhäuser in Münster und Telgte spürten das erst mit Verzögerung. Wenn Frauen sich dort melden, sind sie noch nicht in Sicherheit. Die Plätze sind rar, und auch nach der Flucht kommt oft noch eine schwere Zeit.

von Johanne Burkhardt • Redaktion: Constanze Busch

Jede dritte Frau in Deutschland wird mindestens einmal in ihrem Leben Opfer von körperlicher oder sexualisierter Gewalt. Jede vierte Frau erfährt diese Gewalt durch ihren (Ex-)Partner. Wer mit einem gewalttätigen Menschen zusammenlebt und sich in Sicherheit bringen möchte, kann versuchen, bei Freund:innen oder Angehörigen unterzukommen. Für viele Frauen ist das nicht möglich, weil sie niemanden haben, der oder die sie und ihre Kinder aufnehmen kann oder will. Oder weil sie Angst haben müssen, dass ihr Ex-Partner sie finden könnte. In solchen Fällen sind Frauenhäuser eine erste Anlaufstelle: Sie bieten Frauen eine geschützte Unterkunft, Beratung und Unterstützung für ihren Start in ein neues Leben.

Porträt Ursula Saatz

Interview mit Ursula Saatz

Ursula Saatz vom Frauenhaus in Münster erzählt im Interview, mit welchen Herausforderungen und Schwierigkeiten Frauen trotz der gewonnenen Sicherheit zurechtkommen müssen.

Frau Saatz, könnte Ihr Haus im Moment noch Frauen aufnehmen?

Nein, seit letzter Woche sind alle 16 Zimmer belegt. Das kann sich zwar täglich ändern, aber der Bedarf ist leider immer größer als das Angebot. Und zwar nicht nur bei uns, es gibt schon seit Jahren bundesweit viel zu wenig freie Plätze in den Frauenhäusern.

Was bedeutet das für eine Frau, die Hilfe und eine Bleibe braucht?

Frauen müssen oft lange nach einem freien Platz suchen. Manche können dann zunächst bei Freund:innen oder Verwandten unterkommen. Andere bleiben bei ihrem gewalttätigen Partner, bis sie einen Frauenhausplatz gefunden haben. Eine große zusätzliche Belastung, an die kaum jemand denkt: Wenn ihr Ex-Partner sehr gefährlich ist, kann eine Frau nicht an ihrem Wohnort ins Frauenhaus ziehen. Dort könnte sie sich ja gar nicht frei in der Stadt bewegen.

Sie muss also irgendwo ganz neu anfangen.

Richtig. Ein Platz in einer fremden Stadt bietet zwar Sicherheit. Aber er bedeutet auch: Die Frau muss ihre Arbeitsstelle kündigen und eine neue finden. Wenn sie Kinder hat, müssen sie in eine neue Kita oder Schule wechseln. In so einer Situation wäre es eine große Unterstützung, wenn sie sich wenigstens eine Stadt aussuchen könnte, in der sie eine Freundin, Verwandte oder eine berufliche Perspektive hat. Aber das ist nicht möglich. Die Beratungsstellen oder die Frauen selbst müssen einfach schauen, wo überhaupt ein Platz frei ist.

Im Dezember hatten ja viele Menschen die Befürchtung geäußert, dass es über die Feiertage zu mehr häuslicher Gewalt kommen würde. Haben sich seit Anfang Januar mehr Frauen bei Ihnen gemeldet als sonst?

Nein, wir haben nicht mehr Anfragen als sonst auch. Unserer Erfahrung nach gibt es keine besonderen Tage, an oder nach denen es mehr werden. Man muss es eher umgekehrt sehen: Die Nachfrage ist ständig sehr hoch. Nur in den Sommerferien geht sie manchmal etwas zurück.

Hat sich durch die Corona-Pandemie etwas verändert?

Während des Lockdowns im Frühjahr hatten wir deutlich weniger Anfragen, danach gab es einen regelrechten Ansturm. Jetzt ist die Nachfrage wieder eher zurückgegangen. Wir erklären uns das so: Viele Partner sind zurzeit auch zu Hause, weil sie zum Beispiel in Kurzarbeit sind oder im Homeoffice arbeiten.

Die Frauen können also nicht einfach weg.

Genau. Den Partner zu verlassen, ist der gefährlichste Moment für sie und ihre Kinder. Oft rufen Frauen uns an und sagen: ‚Ich melde mich wieder, wenn ich hier weg kann.‘ Dazu kommt, dass ja auch die Schulen und Kitas geschlossen sind. Dort fällt häusliche Gewalt manchmal auf, und manchmal sprechen Erzieher:innen oder Lehrer:innen die Frauen an und informieren sie über Hilfe und Beratungsangebote oder vermitteln sie direkt zu einer solchen Stelle. Diese Unterstützung fehlt im Moment. Das ist die fatale Kehrseite des Lockdowns, auch wenn er insgesamt natürlich sinnvoll ist.

Was bedeutet die Pandemie für den Alltag in einem Frauenhaus?

Es ist sehr schwierig für die Frauen. Sie leben hier ja in einer Art Zwangswohngemeinschaft, alles ist sehr eng. Mit einem oder sogar drei Kindern in einem Zimmer zu leben und sich mit den anderen Bewohnerinnen eine Küche zu teilen, das ist immer eine schwierige Situation. Durch die Pandemie haben die Frauen jetzt auch kaum Kontakt zu anderen Menschen. Es ist schwerer, eine Wohnung zu finden oder neue Freundschaften zu schließen.

Seit Mitte Dezember müssen die Kinder ja auch bei Ihnen im Haus lernen. Wie klappt das?

Wir haben uns im ersten Lockdown darum gekümmert, dass die Kinder Laptops bekommen.

Unser Haus hat Alt-Geräte zur Verfügung gestellt, und wir haben einige alte Laptops geschenkt bekommen. Viele Frauen können ihre Kinder nicht beim Lernen unterstützen, weil sie nicht gut Deutsch sprechen oder einfach deshalb, weil sie in einer sehr prekären Lage sind. Also mussten wir ohne zusätzliches Personal auch die schulische Betreuung der Kinder übernehmen. Jetzt im zweiten Lockdown ist alles ein bisschen besser organisiert, einige Schulkinder können in die Notbetreuung.

Könnte eine Bewohnerin in Quarantäne gehen, falls sie sich mit dem Coronavirus ansteckt?

Ja, diesen Fall hatten wir auch schon. Wir haben dann Ferienwohnungen angemietet, in denen wir Frauen und Kinder unterbringen konnten, um die Situation zu entzerren. Inzwischen haben wir eine kleine, günstige Wohnung fest angemietet, die wir aus unseren Rücklagen finanzieren. Sie ist auch für Frauen gedacht, die positiv auf das Coronavirus getestet wurden und ganz neu bei uns einziehen. Das ist noch ein Problem, das kaum jemand sieht: Natürlich muss auch eine infizierte Frau einen Platz bekommen, wenn sie zu Hause geschlagen oder misshandelt wird. Die Frauenhäuser bekommen dafür jedoch keine finanzielle und personelle Unterstützung, auch FFP2-Masken und Desinfektionsmittel müssen wir aus Spenden finanzieren.

Das ganze Bild

Katja Hermsen vom Frauenhaus in Telgte hat gemeinsam mit ihren Kolleginnen für RUMS aufgeschrieben, was es für Frauen bedeutet, jetzt ihren Partner zu verlassen und im Frauenhaus Schutz zu suchen. Und sie erzählt, was sie und ihre Kolleginnen sich einfallen lassen, um den Lockdown für die Frauen und Kinder so erträglich wie möglich zu gestalten. Wir haben ihren Text behutsam journalistisch bearbeitet und nur um die Passagen gekürzt, in denen sie ähnliche Erfahrungen während der Corona-Pandemie schildert wie ihre Kollegin aus Münster.

„Die Statistik zur häuslichen Gewalt für das Jahr 2020 ist zwar noch nicht ausgewertet. Aber erste Studien zeigen schon, dass mehr Frauen und Kinder in ihrem sozialen Umfeld Gewalt ausgesetzt sind. Da liegt die Vermutung nahe, dass viele von ihnen in ein Frauenhaus fliehen. Das verkürzt allerdings die Problematik und zeigt nicht das ganze Bild.

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