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Julius Thesing arbeitet an seinem Schreibtisch in seiner Wohnung.

„Du siehst gar nicht schwul aus“

Der Illustrator Julius Thesing beschäftigt sich in seiner Arbeit mit Homophobie. Er hat sich mit 24 Jahren geoutet und vieles erlebt. Seine Antwort ist: Humor. Paulina Albert von der Reportageschule Reutlingen hat ihn für RUMS getroffen.

von Paulina Albert • Redaktion: Ralf Heimann • Lektorat: Maria Schubarth • Fotos: Rosa Tägtmeyer

Wenn Julius Thesing nach Hause kommt, geht er durch eine dunkelgrüne Tür und schaut auf eine hellgrüne Wand in seinem Wohnzimmer. Durch das Fenster neben der Couch sieht man die Spitze der Herz-Jesu-Kirche in Münster. Die Wohnung gehört „irgendwie dem Bistum“, sagt er, deswegen war er sich eigentlich sicher, dass er und sein Mann sie nicht bekommen würden.

Julius Thesing lehnt an seinem Schreibtisch und guckt nach links aus dem Bild.
Julius Thesing an seinem Schreibtisch. Seit er sich vor zehn Jahren geoutet hat, hat er immer wieder Diskriminierung erlebt. In seiner Arbeit setzt er sich damit auseinander.

So wie die Wohnung, auf die sie sich vorher beworben hatten, als einzige Bewerber:innen. Der Kontakt lief über eine Bekannte, sie hatten sich schon bei der Hausverwaltung vorgestellt. Eigentlich passte alles, aber die Hausverwaltung meldete sich nicht mehr. Als Thesing und sein Mann nachhakten, kam zurück, die Bekannte solle sich doch bitte nach Alternativkandidaten umschauen, „weil es ja ins soziale Umfeld passen muss“.

Es ist nicht die erste Diskriminierungserfahrung, die Thesing gemacht hat, seit er sich vor zehn Jahren als homosexuell geoutet hat. Einige dieser Erfahrungen hat er in seinem Comicdebüt „You don’t look gay“ festgehalten. Da sind die Schwulenwitze im Zug, die Frage, wer von ihm und seinem Mann eigentlich die Frau sei, die Aussage eines Freundes, er wisse nicht, ob er mit jemandem, der einen Mann küsst, noch befreundet sein könne.

Viele davon sind Momente, die man als Kleinigkeiten abtun könnte, als nicht böse gemeint. Aber für Thesing bedeuten sie, dass er sich über Jahre hinweg nicht vor seinen Freunden outete, dass sich ein Buchclub wie Arbeit anfühlt, weil er auch dort erklären muss, dass es in einer schwulen Ehe keine Frau gibt, dass er sich oft nicht sicher fühlt.

Queerfeindlicher Hass nimmt zu

Homosexuellenfeindlichkeit betrifft, verletzt und gefährdet viele. In Thesings Comic steht sie in dicken roten Lettern zwischen seinen Erfahrungen:

„Und dann hat er ihm so richtig in die Fresse geschlagen. Wir haben die Schwuchtel aus dem Club geboxt.“ – ein Bekannter von Thesing.

„Ich würde es vorziehen, dass mein Sohn bei einem Unfall ums Leben kommt, als dass er hier mit einem Typen mit Schnurrbart auftaucht.“ – Jair Bolsonaro, Staatsoberhaupt Brasiliens.

Julis Thesing blättert durch sein Buch "You dont look gay".
„You don’t look gay“: Mit diesem Buch schaffte Julius Thesing den Durchbruch als Illustrator.

In 73 Staaten gilt Homosexualität als strafbar, in zwölf davon steht darauf die Todesstrafe. Dass das in Deutschland anders ist, hindert Menschen auch hier nicht daran, queeren Menschen Gewalt anzutun. Die Zahl queerfeindlicher Hasskriminalität nimmt seit Jahren zu. Menschen werden bespuckt, beleidigt, verprügelt, weil sie nicht „heterosexuell“ aussehen.

An Thesings Ohren baumeln kleine Gänseblümchen aus Perlen, die blondierten Haare fallen ihm auf die Brillenränder. In Thesings Wohnung ist alles pastellig, rosa, hellblau, fliederfarben, er auch.

Thesing wuchs in Dülmen auf, hatte eine „typische Kleinstadtkindheit und typische Kleinstadtjugend“. Viel Alkohol auf Spielplätzen, homophobe Sprüche auf dem Pausenhof, aber auch Freundschaften, die ihn bis heute begleiten.

Julius Thesing sitzt am Schreibtisch und illustriert auf seinem Tablet.
„Ich finde, man merkt Liebe daran, dass die Menschen, die man liebt, einem nicht Energie kosten, sondern Energie geben“: Julius Thesing bearbeitet eine Illustration am iPad.

Manchmal überlegt er, ob er etwas verpasst hat, weil er seine Homosexualität „erst“ mit 24 öffentlich machte. Auf der anderen Seite wäre er dann vielleicht in der Schule gemobbt worden. Und jetzt sei er glücklich verheiratet.

Sein Mann Felix machte ihm den Antrag am Tag nach Weihnachten, sie hörten eine selbst gebastelte Spieluhr unterm Weihnachtsbaum an. „Mystery of Love“, das Lied der Spieluhr, ihr Lied, wurde beim Eröffnungstanz ihrer Hochzeit gespielt. Es hätte eigentlich nicht besser laufen können.

Was bedeutet Liebe? Geborgenheit

Zum ersten Mal offenbarte Thesing sich bei einer Party, er war kurz davor, eine Frau zu küssen, als die plötzlich sagte: „Du, ich steh eigentlich mehr auf Frauen“, und er kurzerhand zugab: „Äh, und ich eigentlich eher auf Männer.“ Es folgten Tränen, danach vertraute er sich seinen besten Freundinnen Alex und Lena an.

Auf der Fensterbank im Wohnzimmer von Julius Thesing steht ein von ihm gestaltetes Kissen, was ihn und seinen Mann zeigt.
Auf der Fensterbank im Wohnzimmer von Julius Thesing steht ein von ihm gestaltetes Kissen, was ihn und seinen Mann zeigt. Daneben hängen an der Pflanze seine Freund:innen als kleine Fotoanhänger.

Alex und Lena, mittlerweile miteinander verheiratet, hängen in Form von Pappfiguren an der Yuccapalme auf der Fensterbank im Wohnzimmer. Daneben ein Kissen, bedruckt mit einer Illustration von Thesing, die ihn und seinen Mann händchenhaltend bei einem Spaziergang durch Berlin zeigt, ein Hochzeitsgeschenk.

Was bedeutet dir Liebe, Julius? „Geborgenheit“, sagt er. Und verschwindet kurz in Gedanken ganz woanders hin, zum Nah-am-Burnout-sein, zum Sich-verloren-fühlen im eigenen Leben. Er huscht in sein Arbeitszimmer und holt ein Comic.

Das Thema ist Angst, er hat es für sein Kollektiv „Sonder“ gezeichnet. Die Gruppe von Illustrator:innen veröffentlicht regelmäßig einen monothematischen Comicband.

Thesings Comicfigur fällt darin durch sein Bett, verheddert sich im Bettlaken und wird zum Gespenst. Er ghostet seinen Partner, läuft überfordert durch die Stadt auf der Suche nach Hilfe und bekommt Angst davor, für immer Geist zu sein, unsichtbar und ungeliebt. Am Ende kommt der Partner des Gespenstes nach Hause und zieht das Bettlaken weg. Die beiden umarmen sich.

„Ich finde, man merkt Liebe daran, dass die Menschen, die man liebt, einem nicht Energie kosten, sondern Energie geben“, sagt er.

Und Freundschaft, was bedeutet die für ihn? Darauf weiß er nicht gleich eine gute Antwort. Er druckst, überlegt, kommt schließlich zum Schluss: Im besten Fall ist sie Liebe. Muss ja nicht immer romantisch sein.

Genitalienschlüsselanhänger

Im November wird die neue Comicausgabe von Thesings Kollektiv „Sonder“ im Hansa 12, einem Kulturort am Hansaring, ausgestellt. Ein Orgatreffen steht an, er wisse gar nicht, wie lange das geht, viel zu besprechen gäbe es eigentlich nicht.

Auf dem Weg kauft er bei Edeka eine Mate, packt spontan zwei mehr ein, vielleicht wollen die zwei vom Hansa 12 ja auch etwas trinken. An den Wänden des Ausstellungsraums hängen Stickereien zum Thema queerer Sex, Vulven aus Wolle und nackte Frauenkörper.

Julius Thesing hält sein Smartphone in der Hand auf dem er eine Illustration aus dem "Sonder"-Comic zeigt.
Im Herbst zeigt Julius Thesing seine Arbeiten bei einer Ausstellung des Kollektivs „Sonder“, einer Gruppe aus Illustrator:innen, die Comics gestaltet haben.

Im Klappstuhlkreis wird jetzt besprochen, Kleinigkeiten, welche Farbe, welche Schrift. Felix, Thesings Mann, könne bestimmt Kekse backen, und Lavendellimo wäre toll.

Zwei Frauen platzen in die Ausstellung, ganz entzückt vom Vulvawandteppich, und zeigen stolz ihren Genitalienschlüsselanhänger, sie wirbeln wieder raus. „Streichen wir die Wand lila oder orange?“, fragt Thesing, als hätte niemand das Meeting gestört.

Auf Instagram postete er 2020 eine Illustration von sich und seinem Mann, ein Buch von Sibylle Berg lesend. Ein wenig unsicher markierte er Berg, die den Post und Thesings Debütcomic auf Twitter teilte und Thesing fragte, ob er nicht mit ihr zusammenarbeiten wolle. Er illustrierte ihre Podcastcover, dann ihre Kolumne, und schließlich das Kinderbuch „Mein ziemlich seltsamer Freund Walter“.

Zu 99 Prozent arbeitet er digital, sagt Thesing, aber er mag das Analoge, weil es nicht so perfekt sei. Als er das Kinderbuchskript von Sibylle Berg illustrierte, zoomte er deswegen beim Zeichnen nie nah ran, damit Schraffuren auch mal daneben gingen. Seinen Stil beschreibt er als warm und witzig. Er will dem Weltschmerz mit Humor begegnen.

Nur Nachsicht sei wichtig

In Thesings Arbeitszimmer steht ein Regal voll mit Spielen, ein anderes voll mit Büchern und Ordnern. Auf einem steht durchgestrichen „Job & Studium“, darunter handschriftlich „Erwachsen“ und eine kleine Zeichnung von Thesing, wie er auf einem Sessel lümmelt.

Er sei immer ein Spätzünder gewesen, sagt er und überlegt gleich, dass er darüber auch mal schreiben könnte. Das ganz Persönliche macht er oft zum Thema: den Tag nach einem Filmriss, der erste Besuch in einem queeren Sexshop, seine mentale Gesundheit.

„You don’t look gay“ hat er an einem Wochenende geschrieben, die erste Version war vor allem wütend. Also setzte er sich am nächsten Wochenende noch mal hin und schrieb eine versöhnlichere Variante.

Auf einem kleinen Tisch liegen Bücher gestapelt. Oben auf sieht man das Cover von "You don't look gay".
In Thesings Arbeitszimmer liegt ein Bücherstapel. Das sind alle Werke, die er veröffentlicht hat, zum Teil Comics, zum Teil Bilderbücher.

Er sagt, manchmal sei ihm die Welt zu schnell, Sachen, die er früher mochte, seien schlecht gealtert, jetzt erkenne er den Rassismus, die Diskriminierung. Er könne verstehen, dass Menschen sich an lieb gewonnene Bücher und an Filme von damals klammern, obwohl sie diskriminierend seien, sagt er, und dann: „wobei, eigentlich nicht.“ Nur Nachsicht sei wichtig, Menschen könnten sich ändern. Und man müsse ihnen zugestehen, manchmal etwas Zeit zu brauchen.

In seinem Bücherregal liegen „Der Steppenwolf“ und „Die Blechtrommel“ zwischen queeren Romanen und Walter Moers. Er habe angefangen, Klassiker zu lesen, sagt er und dass er erleichtert sei, dass es Spaß macht. Er empfiehlt „Narziss und Goldmund“, sogar Hesse habe sich darin schon kritisch mit Geschlecht auseinandergesetzt!

Thesing holt kurz vor Abschied den Gespenstercomic aus dem Regal, als Geschenk. Er fragt: „Soll ich es dir signieren?“ Es ist ihm sofort peinlich, das sagt er noch drei Mal. Muss es ihm gar nicht.

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