Im Spiegel des Abfalls

Einmal im Monat holt die Stadt alte Sofas und Schränke ab, manchmal auch goldene Stilettos. Was erzählt der Müll über die Menschen? Unterwegs auf dem Müllwagen.
TEXT: DENNIS ANDREW FRASCH
REDAKTION: RALF HEIMANN
FOTOS: KIM OPPERMANN
Auf dem Bildschirm seiner Rückfahrkamera sieht Michael Carrington, 50 Jahre alt, 1,97 Meter groß, seine beiden Lader in orangefarbenen Overalls. Robert Scheike, Spitzbart und verschmitztes Lächeln, seit sieben Jahren dabei. Und Michael Krüger, kleine Lücke zwischen den Schneidezähnen, seit 31 Jahren Lader. „Das sieht man ihm auch an, so verbraucht, wie er aussieht“, sagt Scheike über Krüger. Das klingt nicht sehr liebevoll, aber irgendwie so ist es doch gemeint.
Es ist die zweite Tour an diesem Tag. Heute steht der Stadtteil Coerde auf dem Programm, einer von 20 Sperrmüllbezirken in Münster. Das Trio ist seit halb sieben unterwegs. Drei Stunden sind vorbei. Nach etwa 40 Sofas ist der Bauch des Zoeller Magnum XXL voll und muss geleert werden. In Coerde müsse man immer zweimal fahren, sagt Michael Carrington.
In Coerde landet einfach alles auf der Straße. Ob Sperrmüll oder nicht. In einem Land wie Deutschland ist das verhängnisvoll: Kaum ein Thema wird so kontrovers und emotional diskutiert wie der richtige Umgang mit Müll. Der aus Syrien geflohene Journalist Mohamad Alkhalaf schrieb einmal: „Erst wer recycelt, ist in Deutschland richtig integriert.“ Gelber Sack, Blaue Tonne, Bioabfall, Restmüll – Abfall ist ein Politikum.



Müll ist wie ein kleiner Steckbrief. Jeder Gegenstand, den das Trio an diesem Morgen in die hydraulische Presse wirft, erzählt eine Geschichte. Von dem Menschen, der ihn wegwirft. Oder von dem Stadtteil, in dessen Straßen er landet. So gesehen dürften Carrington, Scheike und Krüger Münster sehr gut kennen. „Schau, da sind zwei Schränke, das ist Sperrmüll, alles andere nicht“, sagt Carrington.
Er steuert auf einen Müllberg zu, der auf einer Wiese liegt. Neben den Schränken liegen ein Windeleimer, Teppiche und Styroporkisten, ein Flüssigkeitsbehälter für Nebelmaschinen, Wäschekörbe voller Kleidung, ein ausgebranntes Batteriefeuerwerk und eine Carrera-Bahn. Vieles davon ist kein Sperrmüll, und viele Menschen wissen auch gar nicht, was genau Sperrmüll ist.
Ein komplexes soziales Konstrukt
Manchmal fragen Anwohner Carrington, was denn eigentlich auf den Sperrmüll darf. Dann nimmt er eine sorgfältig gefaltete Liste von der Ablage seines Fahrersitzes und reicht sie aus der Fahrerkabine. Möbel und Gartenabfälle sind Sperrmüll. Aber Bauschutt, WC-Schüsseln, Türen, alte Zäune, Elektrogeräte, Spiegel, Autoreifen oder Stoßstangen sind kein Sperrmüll.
In Coerde nimmt Carrington trotzdem alles mit. Sonst gäbe es bald ein Rattenproblem und die Menschen würden im Müll ersticken, sagt er. Warum das mit dem Müll hier so ist? „Ach, keine Ahnung“, sagt Carrington. Das sei halt die Mentalität. „Die Leute gehen nicht malochen und werfen ihren Müll auf die Straße“, sagt Carrington.
Dabei ist Müll weit mehr als, nun ja, Müll. Er ist ein komplexes soziales Konstrukt. Ein Einhorn-Plüschtier wird erst dann zu Abfall, wenn es in einer Mülltonne landet. Oder am Sperrmülltag auf der Wiese vor dem Haus liegt. Das Plüschtier im Mülleimer gilt als sauber und korrekt, das auf der Wiese vor dem Haus als schmutzig.

Dass die Menschen in Deutschland immer mehr wegwerfen, spielt dabei nur eine unwesentliche Rolle. 2021 wurde ein neuer Rekord aufgestellt: Pro Kopf wurden im Durchschnitt 483 Kilogramm Haushaltsabfälle eingesammelt. In Münster waren es weniger: 416 Kilogramm. Dafür fällt in Münster mehr Sperrmüll an: Im Schnitt 40 Kilogramm, der Bundesdurchschnitt liegt bei 37 Kilogramm.
„He Meister, kannst du mich eben rauslassen? Ich bin Busfahrer“, sagt ein Mann mit dunkler Sonnenbrille. Die Straßen in Coerde sind kaum drei Meter breit, links und rechts parken Autos. Viele hätten Probleme, hier einen Opel Corsa zu wenden. Carrington braucht ein paar Sekunden. Dann hat er den Lkw gedreht.
„Der war nett“, sagt er, „geht doch!“ Das sei nicht immer so. „Fahr an die Seite, du Pisser“, das sei üblicher, sagt er. Einmal habe jemand gedroht, ihm den Kopf abzuschneiden. Carrington lacht. „Ja, ja, was willste machen.“
Vielleicht sind es die fünf Kinder und drei Enkelkinder, die ihn so gelassen machen. Oder die morgendlichen Spaziergänge mit seiner Hündin Erna. Wenn ihm jemand dumm komme, dann lasse er die Fenster hoch und gut ist, sagt er, was solle er sich hier aufregen?
Mitnehmen ist verboten
Der Busfahrer fährt mit seinem schwarzen Mercedes vorbei. Carrington steuert den nächsten Müllberg an. In den anderen Stadtteilen sehe es anders aus.
Im „High-Society-Viertel“ Mauritz sei der Sperrmüll immer schön gebüschelt. Meistens sei es auch wirklich Sperrmüll. Auf der Sentruper Höhe wundere er sich oft, was die Leute alles wegwerfen. Einmal habe er einen voll funktionsfähigen Laptop mit Ledertasche gefunden. Ein anderes Mal eine Kiste mit einer Nintendo Wii samt Spielen und Controllern. Vor ein paar Wochen stand ein neuer Tisch mit acht Stühlen auf der Straße, die Tischbeine waren noch originalverpackt, Schrauben und Anleitung lagen auf der Platte.
Das muss alles weg. „Wenn ich einen Anhänger hinten dran machen könnte, dann wär dat Ding voll. Aber meine Frau würde es sowieso nicht erlauben“, sagt Carrington.
Manchmal finden die drei lustige Dinge. Dann schmücken sie damit ihr Auto. Am Zoeller Magnum XXL hängt rechts ein goldener Stiletto. Links baumelt ein ergrauter Schlumpf. An der Windschutzscheibe ist ein Halter für ein Tablet mit einem Saugnapf befestigt. Carrington benutzt ihn als Bananenhalter.


Das Sperrmüllsystem in Münster ist außergewöhnlich. Kaum eine andere Stadt in Deutschland bietet noch eine kostenlose Sperrmüllabfuhr an. In manchen Stadtteilen Münsters ist es eine Art Happening: Studierende und Händler auf Mofaanhängern ziehen am Vorabend durch die Straßen, um sich die besten Stücke zu sichern. Carrington sagt: Besser als wegwerfen. Die Abfallwirtschaftsbetriebe sagt auf Anfrage Ähnliches. Sie dulden das Sammeln, obwohl es eigentlich illegal ist, den Sperrmüll mitzunehmen.
Seinen schrecklichsten Fund machte Carrington in diesem Sommer am Hansaring. „Da liegt einer auf dem Sofa“, schrie Michael Krüger, der Lader mit der Zahnlücke, von hinten. Carrington blieb ruhig. Das letzte Mal, als so etwas passierte, hatte er den Mann geweckt und ihm eine Zigarette mit auf den Weg gegeben. Aber an diesem Morgen war es anders. Carrington stieg aus dem Auto und zog die Decke vom Körper des Mannes. Die Totenstarre hatte bereits eingesetzt. Carrington rief Polizei und Krankenwagen, sie nahmen den Mann mit.
„Es brennt, es brennt“
„Stopp!“, ruft einer von hinten. Carrington tritt auf die Bremse und drückt einen Knopf auf seinem Bedienterminal. Zischen. Die Fahrerkabine hebt sich. Ob die Sache ihn mitgenommen hat? „Tot ist tot, was soll ich tun?“, sagt er und zuckt mit den Schultern. Er schaut auf den Bildschirm der Rückfahrkamera, Krüger und Scheike werfen Autofelgen, Schrankbretter und ein Dreirad in die Presse. „Zum Glück haben sie den Kerl da nicht reingeworfen.“
Es ist Mittag, man merkt Krüger und Scheike die Müdigkeit an. Scheike wirft ab und zu etwas daneben, Krüger bleibt einmal zu nah an der Presse stehen. „Vorsicht, Kollege“, sagt Scheike dann und zieht ihn ein Stück zurück.

Das Leben als Lader ist gefährlich, vor allem in Coerde, wo alles in die Presse geworfen wird. Vor ein paar Monaten flog Krüger ein Stück Spiegelglas an die Stirn und verletzte ihn. Ein großer Hautlappen habe danach heruntergehangen. Sie nähmen die Spiegel trotzdem weiter mit. Da spielten ja auch Kinder, sagt Krüger.
Ende August brannte das Fahrzeug plötzlich. „Es brennt, es brennt“, riefen sie. Es war wahrscheinlich eine Batterie. Carrington suchte sich eine freie Stelle, überall waren Bäume und Häuser, dann eine Lücke links auf dem Parkstreifen. Sofort entleerte er den Sammelbehälter auf die Straße, Flammen schlugen aus dem hinteren Teil des Behälters. Zum Glück war das Tiefbauamt in der Nähe. Ein Wasserschlauchwagen kam und löschte. Carrington sagt, das liege an all den Elektrogeräten. Es würden immer mehr. Und die Qualität der Produkte werde immer schlechter, sagt er.
Carrington sitzt entspannt in seinem Führerhaus. Bald ist Feierabend. Ob er in Münster etwas ändern würde? „Vielleicht eine Müllpolizei wie in anderen Städten“, sagt er. Aber die Gratis-Sperrmüllabfuhr abschaffen? Das käme für ihn nicht infrage. „Was gibt es Schöneres“, sagt er, „als durch Münster zu fahren, und wenn du in den Rückspiegel schaust, ist alles sauber?“
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