„Wachstum bedeutet weniger Grünfläche“

Das Coronavirus zeigt, wie verwundbar Städte sind. Es trifft Arme eher als Reiche, es legt soziale Probleme offen. Die Geographin Iris Dzudzek erforscht, wie Städte in Zukunft aussehen werden. Constanze Busch hat mit ihr darüber gesprochen, wie die Pandemie die Stadtplanung beeinflusst, welche Rolle freie Flächen dabei spielen – und welche die Menschen selbst.
Interview: CONSTANZE BUSCH
Titelfoto: NIKOLAUS URBAN
Frau Dzudzek, was wird die Krise in einer Stadt wie Münster verändern?
Das ist noch sehr schwer zu sagen. Wir stecken gerade mitten in einem enormen Lernprozess. In gewisser Hinsicht wird die Zukunft jetzt und in den nächsten Monaten entschieden, weil wir wichtige Weichen stellen müssen.
Welche sind das?
Die wissenschaftliche Forschung und die Gesellschaft konzentrieren sich gerade sehr stark auf technologische und medizinische Möglichkeiten, die Pandemie in den Griff zu bekommen: die Corona-Warn-App und die Impfung. Dadurch erleben wir einen sehr starken Digitalisierungsschub, einen Schub in Richtung Kontrolle und Tracking über das Smartphone – und der könnte dazu führen, dass technologische und medizinische Überwachung auch nach der Pandemie stärker im Alltag verankert sein werden. Das müssen wir sehr kritisch begleiten.
Das klingt aber eher nach einer Aufgabe für den Bundestag. Was hat die Stadt damit zu tun?
Bundes- und Landesgesetze sind natürlich der Rahmen, aber die Stadt hat großen Handlungsspielraum. Sie kann zum Beispiel entscheiden, welche Form einer digitalen oder smarten Verwaltung sie umsetzen möchte. Sie kann auswählen, welche Dienstleistungen sie dafür bei großen Unternehmen einkauft und wo sie stattdessen mit einer Hochschule zusammenarbeitet, um strengere Datenschutz-Standards durchzusetzen.
Wird es in der Stadt nach Corona denn nur um Technologie gehen? Viele Menschen stellen sich vor, dass sie grüner, nachhaltiger und sozialer wird.
Ja, diese Chance sehe ich durchaus. Während der Krise sind ja einige Dinge, die ohnehin schon im Fokus der Stadtentwicklung standen, überlebenswichtig geworden: Parks und andere Freiräume, in denen Menschen sich treffen können, zum Beispiel. Beengte Wohnverhältnisse waren auch vor der Pandemie schon ein Problem. Jetzt sehen wir, dass sie die Übertragung des Virus begünstigen. Dadurch trifft die Pandemie Menschen zunehmend ungleich. Je länger sie dauert, desto schwieriger wird es für arme Familien und viele Menschen mit Migrationshintergrund. Es wird eine wichtige Zukunftsaufgabe sein, neben technologischen auch soziale Innovationen voranzutreiben und Städte gesundheitsgerecht zu gestalten.
Was meinen Sie damit?
In einer gesundheitsgerechten Stadt hätten alle Menschen dieselben Möglichkeiten, sich zu entfalten und gesund zu leben. Tatsächlich ist diese Möglichkeit aber sehr ungleich über Städte verteilt, nicht nur jetzt während der Pandemie. In armen Kommunen sterben Menschen im Schnitt fünf Jahre früher als in reichen. Und auch innerhalb einer Stadt unterscheidet sich die Lebenserwartung zwischen armen und reichen Stadtteilen um bis zu zehn Jahre.

Was können Städte dagegen tun?
Wir wissen aus Studien, dass Menschen ihren Gesundheitszustand nur zu einem Drittel individuell beeinflussen können, etwa durch Sport oder gesunde Ernährung. Zwei Drittel sind strukturell bedingt, und diese Strukturen kann eine Stadt mitgestalten. Lärm ist zum Beispiel ein wichtiger Stressfaktor, der krank machen kann. Menschen mit geringerem Einkommen sind davon stärker betroffen, weil sie häufiger an den lauten Ausfallstraßen wohnen. Planer:innen müssen Wohnviertel anders konzipieren und viel stärker auf einen wirkungsvollen Lärmschutz setzen. Außerdem sollten sie sicherstellen, dass alle Menschen einen Zugang zu medizinischer Grundversorgung bekommen.
Ist das in Münster ein großes Problem?
Münster schneidet im Vergleich sicher ganz gut ab. Es gibt aber auch hier Menschen, die nicht krankenversichert sind oder für die es im Gesundheitssystem zum Beispiel aus psychischen Gründen sehr hohe Hürden gibt. Es ist sehr wichtig, diese Menschen zu erreichen, damit Erkrankungen nicht chronisch und zu einer noch größeren Belastung werden.
Und wie kann man sie erreichen?
In Hamburg, Berlin, Dresden und Leipzig und demnächst auch in Köln gibt es Initiativen, die Stadtteil-Gesundheitszentren oder Polikliniken heißen. Das sind niedrigschwellige Anlaufstellen in den Stadtteilen, in denen Menschen medizinisch versorgt werden. Gleichzeitig wird an diesen Orten oft klar, dass scheinbar individuelle Probleme tatsächlich ein Stadtteilproblem sind.
Das müssen Sie erklären.
Ein typisches Beispiel, das in der Poliklinik Veddel in Hamburg aufgefallen ist: Wenn jemand Stress auf der Arbeit und Schimmel in der Wohnung hat und davon Bauchschmerzen bekommt, dann hilft es nicht, ihm einen Säurehemmer aufzuschreiben. Davon wird er nicht gesund, sondern es müsste sich etwas an seinen Lebensumständen ändern. Und an denen seiner Nachbar:innen und Kolleg:innen, die ja wahrscheinlich auch unter einem nicht sanierten Haus und schlechten Arbeitsbedingungen leiden. So etwas fällt in Gesundheitszentren vor Ort auf, und dann muss die Politik sich damit beschäftigen und eine Lösung finden.
Und wie steht es mit der Vision von der nachhaltigen und grünen Stadt? Was glauben Sie, wird sich alles dahin entwickeln?
Nicht von selbst, es wird sicher Konflikte geben. Münster wird in den nächsten 30 Jahren noch einmal massiv wachsen, und das geht immer auch auf Kosten von Grün- und Freiflächen. Allerdings glaube ich, dass bei vielen Bürger:innen und Verantwortlichen schon ein Umdenken eingesetzt hat. Früher hat man in Städten neue Viertel gebaut und am Schluss geschaut, ob noch irgendwo Platz für einen Park ist. Inzwischen sagen mir Planer:innen bei der Stadt Münster: Wir werden in Zukunft keine Quartiere mehr bauen, ohne uns ein gutes Grünkonzept zu überlegen.

Wer wird denn entscheiden, wie die Stadt der Zukunft aussieht? Machen das die Politik und die Menschen im Rathaus unter sich aus?
Politik und Verwaltung sind natürlich sehr zentrale Player, genauso wichtig wären aber zivilgesellschaftliche Initiativen. Die werden in Deutschland sträflich vernachlässigt. In dieser Hinsicht könnten wir viel von Ländern des sogenannten Globalen Südens lernen, auch für unseren Umgang mit der Corona-Krise. Viele Länder auf der Erde haben ja mehr Erfahrungen mit Epidemien als Europa, zum Beispiel asiatische Länder mit dem ersten Sars-Virus oder afrikanische Staaten mit Ebola und mit HIV.
Was können wir von ihnen lernen?
Ich habe neulich bei einer Veranstaltung mit Expert:innen aus Afrika über ihre Erfahrungen im Umgang mit Ebola gesprochen und sie gefragt, welchen Rat sie europäischen Ländern geben würden. Die zentrale Botschaft war: Nehmt eure Zivilgesellschaft mit. Das ist auch mit Blick auf die „Querdenken“-Bewegung in Deutschland sehr wichtig. Nené Morisho, ein Public Health Experte und Geograph aus der Demokratischen Republik Kongo, berichtete zum Beispiel, dass auch dort viele Menschen staatliche Anordnungen zur Bekämpfung von Epidemien sehr kritisch sehen. Solche Bewegungen gibt es überall, und dagegen hilft nur, die Menschen einzubeziehen. Maßnahmen dürfen nicht nur durch die Politik von oben verordnet werden, sondern müssen von der Zivilgesellschaft mit erarbeitet werden.
An wen denken Sie da konkret?
Grundsätzlich sollten natürlich alle die Möglichkeit haben, mitzumachen. Man könnte die Menschen über die Vereine erreichen, in denen sie sich sonst engagieren – Sportvereine, Chöre, all dieses Engagement liegt ja gerade brach. Das müssen wir ändern, damit unsere Stadt nicht nur von oben gesteuert wird, sondern auch durch die Bürger:innen.
Wie könnte das gelingen? Die Stadt kann ja kein bürgerschaftliches Engagement anordnen.
Das muss sie auch gar nicht. Die Bereitschaft, sich zu engagieren, ist hoch. Das haben wir am Anfang der Krise gemerkt: Viele Menschen haben Gabenzäune für Obdachlose aufgestellt und gefüllt oder angeboten, für ältere Nachbar:innen einzukaufen.
Im Moment hört man von solchen Initiativen kaum noch etwas.
Das stimmt. Aber ich glaube, dahinter steckt keine Gleichgültigkeit, sondern Unsicherheit. Die Menschen haben zurzeit Angst, sich oder andere zu gefährden. Eine Lösung könnte sein, dass Initiativen zusammen mit dem Ordnungsamt Hygienekonzepte erarbeiten, sobald sich wieder kleine Gruppen treffen können. Die Stadt und die Uni könnten Räume dafür zur Verfügung stellen, die sowieso gerade nicht genutzt werden, etwa Seminarräume oder Sporthallen, in denen Treffen auf Abstand unter Einhaltung der Hygieneregeln möglich sind. Dort könnten Menschen zusammenkommen, diskutieren und Lösungen entwickeln. So etwas ist enorm wichtig und fehlt uns gerade.
Können wir uns da auch etwas aus anderen Ländern abschauen?
Ja, eine Menge. Das regionale Netzwerk für Gesundheitsgerechtigkeit in Ost- und Südafrika hat Initiativen weltweit zusammengetragen, in denen Menschen gegen die Corona-Krise aktiv werden. Lokale Kooperativen und Frauenvereinigungen aus der Region Mabyan im Jemen haben beispielsweise im April Schulungen zur Herstellung von Masken und Schutzanzügen entwickelt, die den klinischen Standards entsprechen. Wegen des Bürgerkrieges, der seit 2015 im Jemen geführt wird, ist die Gesundheitsversorgung unzureichend und Schutzkleidung Mangelware. In Brasilien haben sich engagierte Gruppen zusammengefunden, die psychisch belastete Menschen in der Krise unterstützen. Andere haben Gemeinschaftsküchen gegründet. Dort kochen sie für das Pflegepersonal und andere Menschen in ihrer Stadt, die gerade besonders belastet und gefordert sind. Es gibt viele spannende Beispiele, die uns auch für die Stadtentwicklung und unser Engagement nach der Krise inspirieren können.
Iris Dzudzek ist Juniorprofessorin für Kritische Stadtgeographie an der Uni Münster.
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