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Von Monogrammist G.V.H. / Gerard ter Borch - Stadtmuseum Münster, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=204420

Nahostkonflikt: Kann der Westfälische Frieden helfen?

Frieden beginnt nicht mit Verträgen. Er beginnt damit, einander zuzuhören. Aber passiert das im Nahostkonflikt? Der Nahost-Experte Thomas Nehls erklärt, warum der 20-Punkte-Plan ein Fehler sein könnte und was der Westfälische Frieden damit zu tun hat.

von Sebastian Fobbe • Redaktion: Ralf Heimann und Anna Niere • Titelfoto: Stadtmuseum Münster

Nichts Geringeres als „ewigen Frieden“ verspricht US-Präsident Donald Trump: Vergangene Woche hat er zusammen mit Benjamin Netanjahu einen 20-Punkte-Plan im Weißen Haus vorgestellt, der den Krieg im Gazastreifen beenden soll (den Wortlaut können Sie hier nachlesen, eine deutsche Übersetzung finden Sie beim „Spiegel“). Am Wochenende hat die Terrorgruppe Hamas Teilen des Plans zugestimmt. Seit gestern laufen Verhandlungen in Ägypten darüber, wie es mit dem Friedensplan weitergehen könnte.

Thomas Nehls ist allerdings skeptisch, ob Trumps Plan ansatzweise hält, was er verspricht. Nehls ist Vorsitzender der Deutschen Initiative für den Nahen Osten (DINO), die die Prinzipien des Westfälischen Friedens auf den Nahostkonflikt anwenden will. Der Frieden von 1648 ist keineswegs eins zu eins auf 2025 zu übertragen – aber es gibt Parallelen.

2025-10-06-Interview-Thomas Nehls

Interview mit Thomas Nehls

Solange man Bomben wirft, kann man nicht über Frieden reden

Herr Nehls, wie viel Westfälischer Frieden steckt in dem 20-Punkte-Plan?

Nehls: Leider wenig. Vor rund 380 Jahren schien man seiner Zeit voraus gewesen zu sein. Damals führten drei Prämissen zum Ende des Dreißigjährigen Kriegs: „Pax optima rerum“, der Frieden ist das höchste Gut. „Befleißigt euch der Gerechtigkeit, die ihr auf Erden richtet“. Und: „Man höre beide Parteien“. Daran gemessen sind einige Zweifel angebracht, wenn man sich die 20 Punkte durchliest.

Warum?

Nehls: Man muss anzweifeln, ob bei der israelischen Regierung und der Hamas die Suche nach Frieden die höchste Priorität hat. Auch bei der Tragödie, die sich seit zwei Jahren im Gazastreifen abspielt, muss man hinterfragen, ob es hierbei um Gerechtigkeit geht.

Als der Westfälische Frieden in Münster und Osnabrück verhandelt wurde, haben neutrale Kräfte zwischen den Kriegsparteien vermittelt. Jetzt hat ausgerechnet US-Präsident Donald Trump gedealt – einzig und allein mit Benjamin Netanjahu. War das eine gute Idee?

Nehls: Zugegebenermaßen schon, denn Netanjahu akzeptiert die USA als Gesprächspartner. In der Vergangenheit hatte er sonst nur nach langen Vermittlungspausen auch andere Unterhändler zugelassen. Trump sagte auch, er habe seinen Friedensplan mit arabischen Staaten abgestimmt. Ob auch Netanjahu mit den Nachbarländern in der Region gesprochen hat, wissen wir nicht. Dennoch ist der 20-Punkte-Plan von zwei Männern vorgestellt worden, nicht etwa Beratern und Mediatoren oder unter Beteiligung der Palästinenser, die direkt betroffen sind.

Wenn man die Homepage der DINO öffnet, liest man den Appell, den Sie eben zitiert haben: „Man höre beide Parteien“. Klingt nachvollziehbar, aber wen soll man anhören? Die radikal-islamische Terrororganisation Hamas und Israels in Teilen rechtsradikale Regierung?

Nehls: Man sollte nicht nur beide Seiten anhören, man muss es sogar. Die Hamas hat am 7. Oktober 2023 ein mörderisches Massaker in Israel angerichtet, bei dem vor allem jüdische Israelis getötet wurden. Daraufhin haben die Rechtsradikalen in der israelischen Regierung Vergeltung gefordert und auch nicht davor zurückgeschreckt, die Menschen in Gaza auszuhungern. Die Hamas und die israelische Regierung sind die beiden Konfliktparteien in diesem Krieg – und man kann sich seine Feinde nicht aussuchen. Mit ihnen muss man reden, sonst hätte die Diplomatie nie erfunden werden müssen.

Die DINO will die Prinzipien des Westfälischen Friedens auf den Nahostkonflikt anwenden. Was macht Sie so sicher, dass ein fast 380 Jahre alter Friedensschluss einen so komplexen Konflikt lösen könnte?

Nehls: Einerseits war der Dreißigjährige Krieg ähnlich komplex: Vordergründig bekriegten sich Protestanten und Katholiken in Europa, doch im Grunde ging es um die Vorherrschaft auf dem Kontinent. Andererseits wurde der Verlauf dieses langen und blutigen Kriegs durch Verhandlungen abgemildert und schließlich gelöst.

1648 waren alle Kriegsparteien überzeugt, dass sie nur gemeinsam Frieden erreichen können. Das war eine wichtige Voraussetzung für den Westfälischen Frieden. Heute ist das im Nahen Osten anders. Was könnte Israelis und Palästinenser:innen näher zusammenbringen?

Nehls: Heute bekriegen sich Hardliner auf beiden Seiten. Weder die Hamas noch die Kriegsherren in der israelischen Regierung wollen den Krieg beenden. Sie müssen aber an einen Verhandlungstisch kommen. Die Mitgliedstaaten der Arabischen Liga, die Vereinigten Staaten und Europa haben Interesse daran, ihre diplomatischen Dienste anzubieten. Wichtig für eine solche Mediation ist aber der Wille, sich beraten zu lassen und zuzuhören. Wenn diese Bereitschaft fehlt, nützt keine Beratung irgendwas.

Der Dreißigjährige Krieg war nicht nur ein Krieg unter Christ:innen, sondern auch ein Kampf um die Vorherrschaft in Europa. Anders als 1648 fehlt heute vielleicht eine gemeinsame religiös-kulturelle Basis, denn im Gazakrieg stehen sich Jüd:innen und Muslim:innen gegenüber. Für wie groß halten Sie dieses Hindernis?

Nehls: Religion spielt im heutigen Nahostkonflikt durchaus eine Rolle, aber die Situation ist nicht direkt vergleichbar mit dem Dreißigjährigen Krieg. Denn wenn sich Katholiken und Protestanten bekriegen, könnte es noch komplizierter werden, weil sie eine Art christlichen Bürgerkrieg führen. Heute erkennen wir auch Spannungen innerhalb von Israel und Palästina. Auf israelischer Seite liegen beispielsweise orthodoxe und zionistisch denkende, aber nicht-gläubige Juden überkreuz. Zu der Hardliner-Forderung nach einem Großisrael kann man nur sagen: Ihr wollt doch nicht die Bibel über den Dialog stellen und das Alte Testament als Grundlage für die heutige Staatsbeschreibung machen. So würde man den Palästinensern den Staat verwehren, der ihnen 1947 von den Vereinten Nationen zugesprochen wurde.

Trotzdem erheben die radikalen Kräfte in Israel und in Palästina beide einen göttlichen Anspruch auf das gesamte Gebiet zwischen Jordan und Mittelmeer.

Nehls: Das macht es nicht leichter. Gerade in Deutschland wird diese Forderung von Palästinensern als antisemitisch empfunden. Wenn jüdische Israelis mit der Bibel argumentieren, sieht man das hier oft weniger kritisch. Das macht alles schwieriger, aber es ist nicht der Mittelpunkt der ganzen Auseinandersetzung.

Das Weiße Haus fordert im 20-Punkte-Plan einen interreligiösen Dialog. Ist das überhaupt realistisch?

Nehls: Diese Forderung ist nichts Neues, sondern wurde lange Zeit erfüllt. Es gibt reihenweise Austauschprogramme oder Initiativen, die sich in Israel für Palästinenser oder andersherum in den besetzten Gebieten für Juden öffnen. Diese Dialoge gibt es zuhauf. Nur politisch sind Annäherung und Versöhnung kaum noch präsent, wenn überhaupt. Das war früher anders: Der 1995 ermordete israelische Ministerpräsident Jitzchak Rabin hat beispielsweise eine Politik der Gemeinsamkeit betreiben wollen.

Die DINO möchte diese Annäherung wieder stimulieren. Wie machen Sie das?

Nehls: Wir sind in Israel und Palästina mit verschiedenen Gruppierungen in Kontakt. In unserem Kuratorium sitzen unter anderem Mitri Raheb, der Begründer einer privaten Universität in Bethlehem, Israels ehemaliger Botschafter in Deutschland Avi Primor und der israelische Publizist und Historiker Moshe Zimmermann. Hier vor Ort in Deutschland bringen wir Betroffene zusammen und organisieren regelmäßig Veranstaltungen, bei denen wir informieren und über Hintergründe aufklären. Natürlich sind wir auch mit Politikern und Experten im Austausch, um Vorschläge und Stellungnahmen zu erarbeiten.

Wie kommen Sie an?

Nehls: Viermal im Jahr veranstalten wir „Nahosttalks“, die wir zusammen mit der Europäischen Akademie Berlin oder der Bonner Gustav-Stresemann-Stiftung ausrichten. Das ist nicht viel, aber immerhin waren das letzte Mal neunzig Leute vor Ort und ein paar Hundert weitere zugeschaltet. Wir hoffen natürlich, dass wir bekannter werden und künftig mehr Menschen erreichen.

Noch mal zurück zum Frieden von 1648. Damals einigte man sich auf eine weitreichende Amnestie für Kriegsverbrechen – als bitterer Kompromiss. Müssen auch die grausamen Verbrechen im Gaza-Krieg ungestraft bleiben?

Nehls: Die Amnestie ist heute auch Teil des 20-Punkte-Plans. Der Vorschlag ist, dass Hamas-Kämpfer sicher aus dem Gazastreifen ausreisen dürfen, wenn sie ihre Waffen abgeben. Auch Streitkräfte der israelischen Armee sollen nicht bestraft werden. Außerdem sollen die Geiseln aus den Hamasbunkern freikommen und im Gegenzug soll Israel mehrere hundert Palästinenser aus der willkürlichen Administrativhaft entlassen. Das ist keine regelrechte Amnestie, aber es ist ein Stückweit Straffreiheit.

Aber was ist mit Kriegsverbrechen? Israel und Palästina werfen sich gegenseitig Genozid vor. Im Falle von Israel ist eine Klage am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag anhängig. Anerkannte Wissenschaftler:innen und auch der Menschenrechtsrat sehen Tatbestände des Völkermords in der israelischen Kriegsführung vollendet. Muss man auch diese bittere Pille schlucken, dass solche Grausamkeiten ungesühnt bleiben?

Nehls: Auf keinen Fall. Das Gericht kann nicht einfach eine Anklage fallen lassen, sobald ein Friedensabkommen geschlossen wird. Benjamin Netanjahu wird beispielsweise per internationalem Haftbefehl gesucht und müsste auch nach einem Friedensschluss verurteilt werden. In der Vergangenheit sind Kriegsverbrecher auch dann zu langjährigen Haftstrafen verurteilt worden, nachdem die Kriege beendet wurden. Wenn das nicht möglich wäre, könnten wir den Rechtsstaat begraben. Das ist ein weitreichender Unterschied zu 1648, weil damals noch kein internationales Strafrecht existierte. Eine Amnestie für überführte Kriegsverbrecher oder Völkermörder hat es heutzutage noch nie gegeben.

Nach dem Dreißigjährigen Krieg haben externe Mächte den Frieden in Europa kontrolliert. Nach dem Trump-Plan soll ein internationaler Friedensrat mit Sicherheitskräften über den Gazastreifen wachen. Kritiker:innen sehen darin eine Form des Kolonialismus. Was denken Sie?

Nehls: Es gäbe durchaus Alternativen zu der vorgeschlagenen Aufsicht über Gaza. Eine naheliegende Möglichkeit wäre, dass die arabischen Anrainerstaaten ein mögliches Friedensabkommen überwachen. Ein anderes Problem ist, dass Donald Trump an der Spitze des Friedensrates stehen soll, der sich deutlich zugunsten der israelischen Seite positioniert. Denkbar wäre, den Vereinten Nationen die Regie zu übergeben. Aber das würde Israel wahrscheinlich nicht akzeptieren, weil Israel den Vereinten Nationen eine israelfeindliche bis antisemitische Grundhaltung vorwirft.

Es geht hier um die Verwaltung des Gazastreifens. Die Zweistaatenlösung ist das nicht.

Nehls: Nein, die Zweistaatenlösung wird in den 20 Punkten mit keiner Silbe erwähnt. Auf Drängen von Trump wurde immerhin eine Annexion des Gazastreifens und eine Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung ausgeschlossen. Aber über das Westjordanland und Ost-Jerusalem ist noch nichts beschlossen. Immerhin hat die Mehrheit der Länder in dieser Welt einen palästinensischen Staat anerkannt.

Strich drunter. Ist der 20-Punkte-Plan ein Fortschritt oder schafft er neue Probleme?

Nehls: Neue Probleme schafft der Plan nicht, aber alte werden überschrieben. Man könnte sich darüber freuen, wenn die Hamas und die gesamte Netanjahu-Regierung zustimmen und ihn zum Ausgangspunkt für konkretere Verhandlungen nehmen. Erst dann kann aus dem Plan eine Chance werden. Solange man weiter Bomben wirft, kann man nicht ernsthaft über Frieden reden.

Korrekturhinweis:
In einer früheren Version stand, auch der Zweite Weltkrieg sei mit einer Verhandlungslösung zu Ende gegangen. Das ist nicht korrekt. Der Zweite Weltkrieg endete mit der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands und Japans, erst danach folgten Verhandlungen.

Thomas Nehls lebt in Berlin und ist seit 2022 Vorsitzender der Deutschen Initiative für den Nahen Osten (DINO). Zuvor hat er als Geschäftsführer und Repräsentant der DINO gearbeitet. Internationale Erfahrung hat Nehls als langjähriger Korrespondent für die ARD und den WDR in den Vereinigten Staaten gesammelt und über die Kriegs- und Krisengebiete im Nahen Osten berichtet. Die DINO wurde 2006 gegründet. Zum Kuratorium gehört auch RUMS-Kolumnist Ruprecht Polenz.

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