Jana, Elena und die Droge

Crack ist in der Provinz angekommen. Eine junge Frau ist verschwunden. Und immer wieder die Frage: Wie geht es jetzt weiter? Ein normaler Tag am Bremer Platz.
TEXT: CELINE SCHÄFER
LEKTORAT: RALF HEIMANN
FOTOS: MERLE TRAUTWEIN
Jana fällt auf hier am Bremer Platz. Sie hat ihre dunklen Haare zu einem Dutt zusammengebunden, trägt einen schwarzen Pullover, in der Hand hält sie ihr Smartphone. Jana hat eigentlich einen anderen Namen, sie gehört nicht hierher, und sie wird nicht lange hier bleiben. Jana sucht ihre Schwester.
Auf dem Bremer Platz, der Platte, wie sie hier sagen, sitzen, stehen und stromern an diesem späten Morgen etwa 20 Menschen herum. Die vielen Männer und wenigen Frauen spritzen sich Heroin, sie essen Weintrauben, trinken Bier und Erdbeermilch. Sie dösen auf Bänken, lachen und streiten, immer laut, sie laufen umher, immer schnell, als wären sie auf dem Weg zu einem wichtigen Zahnarzttermin.
Sie rauchen Zigaretten, viele auch Heroin, meistens aber Crack, die Droge, die Deutschland seit etwa anderthalb Jahren überschwemmt. Vor wenigen Jahren war Crack vor allem in großen Städten wie Frankfurt, Berlin oder Hannover ein Problem – in Städten, die ohnehin als Drogen-Hotspots gelten. Inzwischen ist die Crack-Welle in der Provinz angekommen, unter anderem in Münster, auf dem Platz zwischen Hauptbahnhof und Montessori-Schule.
Jana geht langsam, sie bewegt sich vorsichtig, als wolle sie auf keinen Fall jemanden wecken. Dabei schläft hier niemand mehr, es ist halb eins am Mittag. Elena, Janas Schwester, ist wieder abgehauen. Auch sie heißt eigentlich anders, aber sie kommt öfter hierher. Elena ist cracksüchtig. Wie lange schon, das weiß Jana nicht.
Ein ICE, der durch dein Gehirn fährt
Elena hat lange in Bremen gelebt. Meistens auf der Straße, manchmal in der Klinik. Gestern hat Jana sie in Bremen abgeholt. Sie will ein Auge auf ihre große Schwester haben. Elena ist nicht nur süchtig, sie ist auch schizophren.
Crack wird oft von Menschen konsumiert, die mit psychischen Krankheiten leben. „Sich gesund machen“, nennen die Abhängigen den Konsum dann. Crack ist Kokain, das die Konsumenten durch eine Pfeife rauchen. Es wirkt innerhalb von zehn Sekunden, der Rausch dauert nur wenige Minuten und fühlt sich an wie ein ICE, der durch dein Gehirn rast, sagen manche.
Crack macht extrem schnell süchtig. Wer einmal geraucht hat, raucht oft drei, vier Tage lang durch, alle zehn Minuten, bis zur völligen Erschöpfung, oder bis kein Geld mehr da ist. Irgendwann sieht man es den Menschen an.
Die Debatte um den Bremer Platz und die Szene ist zuletzt hitziger geworden. Weil der Platz umgebaut wird, hat die Szene sich auf andere Orte verteilt, in die Straßen rund um den Bahnhof, vor allem auf den Platz um vor dem Iduna-Hochhaus auf der anderen Bahnhofsseite. Mit den Abhängigen kamen auch die Dealer dorthin, kam die Gewalt, kam die Kleinkriminalität.
Geschäftsleute beschweren sich, Eltern machen sich Sorgen. Die Abhängigen versperrten den Weg, säßen im Hausflur, pöbelten herum, sagen sie. „Diese Menschen brauchen ihren Platz, das wissen wir nun besser denn je“, hat ein Mitarbeiter des städtischen Ordnungsamts dem WDR gesagt. In einigen Wochen soll der Bremer Platz fertig sein. „Wir hoffen, dass die Szene ihn dann auch wieder annimmt als ihre Heimat“, sagte der Mann. Er hoffe, dass dann bald wieder Ruhe einkehre.
Die Debatten verlaufen ähnlich
Der Plan für den Bremer Platz sieht vor, dass sich auf etwa einem Drittel der Fläche die Drogenszene niederlassen darf. Schlafen, quatschen, essen, und ja, vermutlich auch konsumieren. Es wird einen Abfalleimer für Spritzen geben und Toiletten. Aber im Oktober kam eine schlechte Nachricht, dass alles nicht Ende des Jahres fertig wird, sondern erst Ostern. In dieser Woche meldete die Stadt die nächste Verzögerung.
In der Ratssitzung im September war das Problem Thema einer Aktuellen Stunde. Man redete darüber, immerhin, aber viel rumgekommen ist dabei nicht. Die Debatten verlaufen in den meisten Städten ähnlich. Politiker rechts der Mitte wollen mehr Sicherheitspersonal, damit sich schnell etwas ändert. Ganz rechts findet man außerdem jene, die den Migranten die Schuld geben. Links der Mitte sieht man, dass Sucht eine Krankheit ist, ein komplexes Problem, das sich nicht lösen lässt, indem man Menschen vertreibt – das sich vor allem nicht schnell lösen lässt, nicht durch Härte, das sich aber vielleicht doch ein bisschen kontrollieren lässt, mithilfe von Beratungsstellen wie dem Drogenhilfezentrum Indro.

Dort gibt es im Erdgeschoss einen Konsumraum, in dem sich die Klienten mit sauberem Besteck spritzen und rauchen können. „Beim Konsum von illegalen Drogen rufen wir ohne Vorwarnung sofort die Bullen“, steht auf einem Schild, und „Realität ist was für Menschen, die nicht mit Drogen zurechtkommen“. Ein schwerer Geruch von Desinfektionsmittel und Rauch liegt in der Luft. Vorne am Empfang falten Praktikantinnen Alufolie. Im Büro stapeln sich Aktenordner, an die Wand sind Telefonnummern von Ämtern gepinnt.
Ein warmer Ort. Ein Ort, an dem viel gelacht wird. „Na, wie war das Wochenende?“, fragt eine junge Frau einen, der sich gleich den ersten Schuss der Woche setzen wird.

Im Indro arbeiten sieben Festangestellte, die meisten als Sozialarbeiter, dazu sieben Praktikanten. Das sei zu wenig Personal, sagt Indro-Leiter Stefan Engemann. Und es sei erst recht zu wenig, seit Crack in Münster ist. Jana hat auf der Suche nach ihrer Schwester am Morgen auch in der Beratungsstelle nach ihr geschaut. Doch da war Elena nicht.
Die Szene ist gewachsen, 60 bis 70 Leute konsumieren regelmäßig rund um den Hauptbahnhof. Ein Drittel mehr als noch vor ein paar Jahren, schätzen die Leute vom Indro. Seit der Umbau läuft, bleibt den Abhängigen nur noch ein Bruchteil des Platzes, der bislang ihre feste Anlaufstelle war. Und: Crack macht, anders als Heroin, nicht ruhig oder gelassen. Sondern hektisch, unruhig, aggressiv.
„Also ist Crack keine Droge?“
Als zwei Indro-Sozialarbeiterinnen am Montagmittag am Bremer Platz ihre Runde drehen, sucht Jana noch immer. „Habt ihr einen Tipp für mich, was ich machen kann?“, fragt sie die beiden. Dann erzählt sie von Elena, ihrer Sucht, der Schizophrenie.

Wirklich helfen kann das Indro-Team Menschen wie Elena nicht. Die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter machen aufsuchende Arbeit, das bedeutet: Sie leisten begleitende Sozialarbeit, akzeptieren die Sucht ihrer Klienten und drängen sie nicht zum Entzug oder Therapie. Aber um Einzelne zu betreuen, die Abhängigen zu Terminen zu begleiten, zu denen sie eigentlich gar nicht hingehen wollen, fehlt die Zeit. Menschen wie Elena brauchen viel Zeit – manchmal Wochen, manchmal Monate, manchmal Jahre, um sich helfen zu lassen.
Und dann, plötzlich, ist Elena da. Fast wie aus dem Nichts. Vielleicht hat sie etwas abseits gestanden, vielleicht hat sie konsumiert. Elena trägt eine Leopardenfelljacke, an ihrem Hals baumelt eine Perlenkette mit Schneeflocken-Anhängern. Einer der Sätze, die Elena sagt, lautet: „Ich bin nicht süchtig, und ich nehme keine Drogen.“
„Also ist Crack keine Droge?“, fragt Jana.
„Crack ist ein Nahrungsergänzungsmittel“, sagt Elena. Sie wolle keine Hilfe vom Staat, sie habe auch kein Bürgergeld beantragt.
Elena möchte auch keine Hilfe von ihrer Schwester. Jana wird Elena nicht in die Beratungsstelle bringen. Zumindest nicht jetzt. Als sie später alleine im Indro-Büro sitzt und von ihrer Elena erzählt, spricht sie mit fester Stimme. Am Handy ist eine Freundin der Familie zugeschaltet.
„Ich glaube, man muss Elena ein bisschen an die Hand nehmen“, sagt die Freundin.
„An die Hand nehmen, das können wir hier nicht leisten“, sagt der Sozialarbeiter, tippt auf seiner Tastatur herum und reicht Jana Telefonnummern. Jana bedankt sich, dann verabschiedet sie sich.
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