„Nicht mal mehr in unserem Alter wissen Leute, wo genau die Klitoris ist“

In über 40 deutschen Städten besuchen Studierende ehrenamtlich Schulklassen und sprechen über Selbstbefriedigung und Sex im Internet. Die Initiative „Mit Sicherheit verliebt“, kurz MSV, will junge Menschen sexpositiv aufklären. Das bedeutet: Sie will sich offen und wertfrei mit Sexualität auseinandersetzen. Anna Thimm und Jeanette Weinelt-Kriesemer gehören in Münster zum Leitungsteam. RUMS-Autorin Hannah Jäger hat sie getroffen. Weil sie in etwa gleich alt ist, haben sie sich für das Du entschieden – und über Defizite in der Sexualaufklärung, Vulva-Mythen und die häufigsten Fragen von Jugendlichen gesprochen.
INTERVIEW: HANNAH JÄGER
BILDER: INITIATIVE MSV
Ihr engagiert euch beide für eine sexpositive Aufklärung. Wie seid ihr selbst aufgeklärt worden?
Jeanette: Das erste Mal hatten wir in der Grundschule eine Art Sexual-Aufklärungsunterricht. Das hat aber da aufgehört, wo es hieß: „Und dann haben sich Mama und Papa ganz doll lieb und dann wandert das Spermium zur Eizelle.“ Deswegen war ich peinlich lange davon überzeugt, das Spermium würde nach dem Kuscheln nachts über die Bettdecke wandern. Und das wurde erst in der sechsten Klasse aufgelöst.
Anna: Das war bei mir ähnlich. Wir hatten zwar dreimal Sexualkunde, aber es ging viel um Veränderungen in der Pubertät, aber rein oberflächlich und steril. Und bei Sex an sich ging es nur um Verhütung mit AIDS-Projekttagen. Aber erst bei MSV habe ich gelernt, was der Unterschied zwischen AIDS und HIV ist.

Also ist Sexualkundeunterricht unzureichend. Seid ihr deshalb bei MSV gelandet?
Anna: Ja. Ich bin queer auf dem Dorf aufgewachsen. Da gab und gibt es riesige Lücken. Das merke ich jetzt auch als Lehrkraft. Mit MSV will ich die nachwachsende Generation fördern.
Jeanette: Sexualkundeunterricht ist sehr biologistisch an Schulen. Alles, was gesellschaftlich und persönlich ist, wird ausgeklammert. Das wollte ich schon immer ändern.
Und wieso denkt ihr, dass ihr besser geeignet seid als Lehrkräfte?
Anna: Ich merke das selbst als nebenberufliche Lehrerin. Egal wie viel Mühe man sich gibt, man ist nicht komplett auf Augenhöhe mit den Schüler:innen. Als MSVler:innen haben wir den Bonus, dass wir nur für einen Tag kommen, wir lassen uns duzen, benoten nicht und gehen dann wieder. Dadurch können wir viel offener und persönlicher auftreten.
Jeanette: Wir treten auch bewusst als Team auf, dass sich gegenseitig unterstützt und miteinander lacht. Dass es nicht die Lehrkraft oder ein Elternteil ist, das sagt: „Wir müssen jetzt über ein ernstes, peinliches Thema reden“. Wir wollen zeigen, dass wir zwar nicht die Freund:innen der Jugendlichen sind, aber auch nicht viel älter als sie.
Anna: Genau, das sorgt dann für eine positive Atmosphäre und lockert sehr auf.
Gibt es keine wichtigeren Themen als Sexualität für Projekttage?
Anna: Ich glaube, dass das Thema Sex, ob man ihn jetzt haben möchte oder nicht, sehr präsent in unserer Gesellschaft ist. Körperlichkeit, Pubertät und Veränderung – da geht jede:r durch.
Jeanette: Gerade bei den Themen ist es schwierig, Ressourcen zu finden, denen man vertrauen kann. Wir bieten deshalb an, darüber enttabuisiert zu sprechen und vertrauenswürdige Informationen zu geben.
Was wissen Jugendliche heute über Sexualität und Sex?
Anna: Da besteht viel Halbwissen und sie sind sich sehr unsicher. Schüler:innen reden auch nicht unbedingt offen und ehrlich miteinander über Dinge, die sie mal gehört haben. Wenn ich Gespräche auf dem Schulhof höre, geht es viel um das, was man auf TikTok oder von Influencer:innen aufgeschnappt hat.
Helfen oder schaden soziale Medien denn den Jugendlichen, wenn es um Sexualität geht?
Jeanette: Ich würde fast eine Lanze für TikTok brechen. Gerade bei queeren Themen oder Konsens, übernimmt die Plattform viel Bildungsarbeit. Die Jugendlichen kennen viel mehr Begriffe als ich in dem Alter.
Anna: Das stimmt, wir müssen zwar immer mal wieder homofeindliche Aussagen einordnen, aber die Jugendlichen scheinen viel toleranter zu sein als in meiner Schulzeit. Und schon 12-Jährige haben viel mehr Wissen über nicht-heterosexuellen Sex oder auch Sexspielzeuge als ich damals. Aber die Begriffe sind oft noch sehr abstrakt. Die eigenen Erfahrungen bleiben etwas auf der Strecke.
Wurde das durch die Pandemie verstärkt? In Zeiten, wo Jugendliche mehr auf Social Media als in der Schule vor Ort waren.
Jeanette: Ich habe auch vor Corona schon MSV-Projekttage durchgeführt und mir fällt der Unterschied schon auf. Die eigenen sexuellen Erfahrungen scheinen sich etwas nach hinten verschoben zu haben durch die zwei Jahre Pandemie.

Konntet ihr während der Pandemie in die Schulklassen?
Jeanette: Projekte wie MSV, aber auch Sexualkunde an sich haben während der Pandemie gelitten. Aber wir konnten ein paar Hybrid-Schulbesuche durchführen. Das heißt, wir waren online zugeschaltet und die Klasse vor Ort.
Hat das gut funktioniert?
Jeanette: Es war ein Pilotprojekt, hat aber erstaunlich gut funktioniert. Es war hilfreich, dass die Klasse zusammen vor Ort war und nur wir digital dabei waren. Schulbesuche vor Ort haben natürlich einen größeren Mehrwert, aber es hat definitiv etwas gebracht.
Wie startet ihr denn die MSV-Klassenstunde?
Anna: Wir gehen meist zu fünft in eine Klasse und bilden direkt einen Stuhlkreis. Dann stellen wir uns vor und stellen Vereinbarungen auf, wie dass niemand ausgelacht wird und niemand über jemand anderen eine Geschichte erzählt.
Jeanette: Genau, und jede:r darf lügen, da es ja viel um persönliche Dinge geht. Das ist ganz lustig, weil das für die Schüler:innen, aber auch für uns gilt. Und wird von beiden Seiten viel genutzt.
Und wie geht es dann weiter?
Jeanette: Wir haben ein riesiges Methodenarsenal. Oft fangen wir mit dem Sex-ABC an. Auf zwei Tafelhälften steht das ABC. Die Schüler:innen sollen in zwei Teams gegeneinander möglichst schnell alle Buchstaben füllen. Alle Begriffe sind erlaubt. Uns hilft das, um einzuschätzen, wo die Klasse steht und was sie interessiert. Danach sollen die Schüler:innen die Begriffe erklären und wir helfen nach.

Wie sprecht ihr dann über Sexualität?
Jeanette: Wir möchten einen Raum geben, in dem es normal ist, über Sex zu sprechen und in dem sich jede:r wohlfühlt. Dabei versuchen wir unsere Grundwerte von Sexpositivität, Konsens und Vielfalt beiläufig mitzugeben. Zum Beispiel, indem wir eine inklusive Sprache verwenden.
Anna: Genau, wir streuen permanent kleine Disclaimer ein. Wir sagen zum Beispiel „man kann, muss aber keine Beziehung führen“. „Man kann jemanden küssen, manche Menschen möchten das aber einfach nicht und das ist auch okay.“
Habt ihr das gelernt?
Jeanette: Ja, wir durchlaufen alle eine MSV-Ausbildung, die bundesweit einheitlich ist. Im Ausbildungsworkshop am Wochenende lernen wir vor Ort die medizinischen Basics wie Anatomie-Grundlagen. Danach machen wir zwei Schulbesuche als Hospitant:innen. Damit werden Nicht-Medizinstudierende auf das gleiche Level gebracht, aber viel wichtiger sind die Methoden, die wir alle lernen.
Gab es mal eine schwierige Situation bei einem Projekttag?
Jeanette: Nicht direkt schwierig, aber überraschend war ein Besuch in einer sechsten Klasse. Wir teilen die Klasse nicht nach Geschlechtern auf, aber gerade in sechsten Klassen wollen die Kinder das so. In der Mädchengruppe damals kam schnell auf, dass die Jungs sie seit einer Weile sexistisch beleidigen. Das war im Stil von „Ihr gehört an den Herd“ und noch schlimmere Dinge, die sie verletzt hatten. Das wurde uns vorher von der Lehrkraft nicht gesagt. Aber wir haben dann den Raum gelassen, das untereinander auszudiskutieren. Und am Ende war es dann sehr heilsam für die Klasse und hat gut funktioniert, denke ich.

Anna: Das stimmt, wir müssen zwar immer mal wieder homofeindliche Aussagen einordnen, aber die Jugendlichen scheinen viel toleranter zu sein als in meiner Schulzeit.
Was wollen die Jugendlichen von Euch wissen?
Anna: Oft geht es darum, abzuchecken, was „normal“ ist. Zum Beispiel, wenn wir gefragt werden, wie oft wir masturbieren. Dann ist eher die Frage: Was ist normal, woran kann ich mich orientieren? Mädchen stellen mir als Frau oft Fragen zum Thema Körper, vor allem zur Periode. Zum Beispiel, wie man Tampons benutzt, oder ob uns das schon mal passiert ist, dass der Tampon steckengeblieben ist.
Stehen Mädchen und Jungs in der Pubertät Sexualität unterschiedlich gegenüber?
Anna: Auch in der sechsten Klasse hat der Großteil der Klasse Kontakt zu Pornos gehabt, egal ob Mädchen oder Jungs. Aber Mädchen scheinen sich eher Sorgen um Sexualität zu machen. Es kommen oft Fragen, ob Sex wehtut und wie der Penis überhaupt da reinpassen soll.
Und wie sieht das bei den Jungs aus?
Jeanette: Anders. Es geht viel um eigene Erwartungen, aber auch darum, wie sie performen. „Ist mein Penis groß genug?“ ist eine häufige Angst. Aber ich glaube, man unterschätzt oft, dass Jugendliche eine Pornokompetenz haben und wissen, dass das alles nicht echt ist, was sie sehen.
Jetzt scheinen Jugendliche mehr über Sex zu wissen als früher. Aber gibt es Mythen, die sich trotzdem halten?
Anna: Oh ja! Es bestehen viele Mythen rund um die Vulva. Zum Beispiel das Jungfernhäutchen, an dem man nicht erkennen kann, ob eine Person penetrierenden Sex hatte. Da haben wir auch ein Modell aus Stoff, das zeigt wie dehnbar das Jungfernhäutchen ist. Oft werden wir gefragt, ob man einen Tampon in die Harnröhre stecken kann. Und die Unterscheidung zwischen Vulva, also dem sichtbaren Genital und der Vagina, die Verbindung der sichtbaren und inneren Sexualorgane, ist unklar.
Jeanette: Und dass die Klitoris nicht nur die Klitorisperle ist, die man außen sieht. Das wissen auch viele Leute in meinem Alter nicht. Deshalb haben wir in unserem Grabbelsack neben Schwangerschaftstests, der Spirale und weiteren Dingen auch ein lebensgroßes Vulva-Modell dabei.
Also dreht sich viel um das weibliche Geschlechtsorgan?
Jeanette: Ja, absolut. Aber apropos Jungfernhäutchen: Wir sprechen viel darüber, was Sex eigentlich ist und dass Sex nicht zwingend die Penetration von einem Penis in einer Vagina ist.
Bräuchte es eure Form der Sexualaufklärung nicht viel regelmäßiger als mit einem einmaligen Projekttag?
Anna: Auf jeden Fall. Meiner Meinung nach sollte Sexualaufklärung nicht nur Teil des Biologieunterrichts sein, sondern Sexualität fächerübergreifend mehr thematisiert werden. Dann würde das Enttabuisieren. Je öfter man über Themen spricht, desto normaler werden sie. Zum Beispiel könnte der Christopher Street Day in Englisch, Politik und Geschichte besprochen werden, wird es aber meist in keinem der Fächer.
Bräuchte es euch in diesem idealen Unterricht dann noch?
Anna: Ja, weil unbenotet und mit Peers ohne Lehrkraft im Raum nochmal anders wirkt. Wir öffnen quasi den Raum, um über Sexualität offen sprechen zu können und hoffen, dass das nachhaltig hält.
Jeanette: Aber wir sind kein Ersatz für Sexualaufklärungsunterricht, es braucht beides. Es ist ein Puzzle aus Quellen, auf das Jugendliche zurückgreifen. Rein zeitmäßig können wir nicht alles vermitteln und können Inhalte auch nicht wiederholen – wir kommen ja nicht wieder. Plus, wir sind keine Beratungskräfte oder ausgebildeten Schulsozialarbeiter:innen.
Aber ihr beschreibt Euch als „Peers“, also Gleichgestellte und Gleichaltrige, für die Schüler:innen. Seid ihr das wirklich?
Jeanette: Das diskutieren wir intern gerade kritisch. Uns muss bewusst sein, dass wir nicht nur älter als die Schüler:innen sind, sondern auch noch studieren. Wir sind größtenteils weiß. Wir haben die Zeit nebenbei ein Ehrenamt zu machen. Das heißt, wir sind nicht der Querschnitt der Gesellschaft. Aber wir sind wahrscheinlich trotzdem noch mehr Peers als die 65-jährige Biolehrerin.
Was fordert ihr von der Politik bezüglich Sexualaufklärung in Schulen?
Anna: Mehr Lehrer:innen-Fortbildung. Eine Dozentin für Sexualpädagogik meinte einmal, dass Schweigen immer Zustimmung bedeutet. Und das ist natürlich fatal, wenn zum Beispiel Lehrer:innen homo- oder transfeindliche Äußerungen stehen lassen. Lehrkräfte sollten lernen, wie sie Sexpositivität und Diversität positiv vermitteln, denn Lehrkräfte werden von Schüler:innen als kompetent wahrgenommen.
Jeanette: Wie Anna sagt, es geht viel um die Werte, die Lehrer:innen vermitteln. Wenn man zum Beispiel nur gruselige Bilder von Geschlechtskrankheiten zeigt, ist das kein Weg, um klarzumachen, dass Sexualität etwas Schönes ist, wenn man auf sich und andere achtet. Diese Grundbotschaft sollte man häufiger an Schulen hören.
Was geben euch Schüler:innen zum Abschied auf den Weg?
Anna: Wir haben eine Blackbox für Fragen und auch Feedback. Oft wünschen sich die Schüler:innen, dass wir wiederkommen.
Jeanette: Viele schreiben oder sagen: „Ich dachte es wird voll peinlich, aber dann war es doch ganz okay.“ Das ist glaube ich das häufigste Feedback, über das wir uns sehr freuen.
Mehr Informationen zu „Mit Sicherheit verliebt“ in Münster finden Sie hier.
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Vielen Dank für dieses spannende Interview!
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