Lieber tot als zurück

Ein jun­ger Mann möch­te leben. In sei­ner ira­ni­schen Hei­mat ist das nicht mög­lich. Woan­ders auch nicht. Am Ende ver­sucht er, sich umzu­brin­gen – obwohl er nicht ster­ben möch­te. Die Geschich­te eines Men­schen, der nie nach Deutsch­land wollte.

Text: ANDREAS HOLZAPFEL
Redak­ti­on: CONSTANZE BUSCH, RALF HEIMANN
Titel­fo­to: LAURA SCHENK


Warnhinweis

In die­sem Text wer­den ein Sui­zid­ver­such und selbst­ver­let­zen­de Hand­lun­gen, Kriegs­hand­lun­gen, Gewalt, Flucht und Abschie­bung sowie ein Hun­ger­streik geschil­dert. Bei man­chen Men­schen kön­nen die­se The­men nega­ti­ve Reak­tio­nen aus­lö­sen. Bit­te sei­en Sie acht­sam, wenn das bei Ihnen der Fall ist.


Shaky kramt die Schach­tel Beru­hi­gungs­ta­blet­ten aus der Hosen­ta­sche. Er sitzt auf den Flie­sen zwi­schen der Toi­let­te und dem Wasch­be­cken, die Tür hat er abge­schlos­sen. Er drückt ein paar Pil­len aus der Ver­pa­ckung und wirft sie sich in den Mund. Dann nimmt er das Mes­ser. Als er fer­tig ist, steckt er sich eine Ziga­ret­te zwi­schen die Lip­pen. Er sitzt da und raucht. Er war­tet. Irgend­wann ver­liert er das Bewusstsein.

Als Shaky vier Tage spä­ter auf­wacht, viel­leicht waren es auch fünf, so genau weiß er das nicht mehr, liegt er im Kran­ken­haus. Die Bil­der im Kopf ver­schwim­men, nur das gan­ze Blut hat er vor Augen. Er will sei­nem Bru­der eine Nach­richt schrei­ben. Er schickt sie jemand ande­rem. Es ist alles noch trüb. Aber zum ers­ten Mal ist da die­ses Gefühl: Ich bin sicher.

So erzählt er die Geschich­te, heu­te, knapp zwei Jah­re später.

Zwei Mal, sagt Shaky, habe er sich bei­na­he umge­bracht. Ein­mal mit dem Mes­ser. Ein­mal mit Tablet­ten. Er sagt: Er woll­te nie ster­ben. Er woll­te nur blei­ben. Aber dafür habe er ris­kie­ren müs­sen, zu ster­ben. Wer labil ist, darf nicht abge­scho­ben wer­den. „Für mich war alles total klar: Ent­we­der ich lebe hier. Oder ich ster­be. Aber ich las­se nicht zu, dass sie mir mein Leben nehmen.“

Für ein Leben in Frie­den müs­sen Geflüch­te­te oft den Tod ris­kie­ren. Auf der Flucht, aber auch vor der Abschie­bung. Vie­le ster­ben lie­ber, als in ihrer Hei­mat zu leben. In den fünf Jah­ren zwi­schen 2015 und 2019 hat es in Deutsch­land min­des­tens 1.792 Sui­zid­ver­su­che und Selbst­ver­let­zun­gen gege­ben, doku­men­tiert der Ver­ein „Anti­ras­sis­ti­sche Initia­ti­ve“ (Ari). Min­des­tens 134 Geflüch­te­te haben sich umge­bracht oder sind auf der Flucht vor der Abschie­bung gestorben.

„Etwa alle zwei Monate geht jemand ans Fenster“

Wahr­schein­lich sind es noch viel mehr. Die Ari, die in Ber­lin sitzt und sich gegen Ras­sis­mus ein­setzt, doku­men­tiert nur jene Fäl­le, die jeweils von zwei ver­schie­de­nen Quel­len berich­tet wor­den sind. Offi­zi­ell wer­den sie nur in weni­gen Bun­des­län­dern erfasst, etwa in Ham­burg oder Bay­ern. Aber genau dort gebe es über­pro­por­tio­nal vie­le Fäl­le. Vie­le Schick­sa­le blei­ben jedoch hin­ter den Mau­ern der Hei­me, so auch in Nordrhein-Westfalen.

Nur weni­ge Fäl­le wer­den bekannt. Das letz­te Mal lös­te der Tod des 23-jäh­ri­gen Jamal Nas­ser M. Empö­rung über die Abschie­be­pra­xis der Bun­des­re­pu­blik aus. M. war einer der von Innen­mi­nis­ter Horst See­ho­fer stolz ver­kün­de­ten 69 Afgha­nen, die 2018 aus Deutsch­land abge­scho­ben wur­den. Schon vor der Abschie­bung ver­such­te er, der acht Jah­re lang in Ham­burg leb­te, sich das Leben zu neh­men. Weni­ge Tage spä­ter gelang es ihm in Kabul.

M. ist nur einer von Hunderten.

Auch in Müns­ter gibt es das, sagt ein Kran­ken­pfle­ger eines Flücht­lings­hei­mes, der uner­kannt blei­ben möch­te. Er arbei­tet seit etwa ein­ein­halb Jah­ren dort, bald hört er auf. „Ich will den Men­schen ja hel­fen“, sagt er, „aber ich ertra­ge das nicht mehr.“ Vie­le der Geflüch­te­ten sei­en trau­ma­ti­siert, sie leb­ten auf engs­tem Raum, zusam­men mit Frem­den, immer in der Angst, dass sie wie­der zurück müss­ten, obwohl sie nicht zurück könn­ten. „Etwa alle zwei Mona­te geht jemand ans Fens­ter oder schnei­det sich die Puls­adern auf, weil er nicht mehr kann.“ Gestor­ben sei in dem Heim noch kei­ner, sagt er. „Zum Glück.“

An einem Tag Ende August, nicht weit vom Dort­mund-Ems-Kanal, spie­geln sich die Son­nen­strah­len im Was­ser­film auf dem Tritt­stein. Shaky öff­net die Haus­tür. In der Küche ent­schul­digt er sich für die Unord­nung – ein paar Tel­ler ste­hen in der Spü­le –, sein Vater habe ihn gera­de wei­nend ange­ru­fen: Sein Onkel sei gestor­ben. Im Wohn­zim­mer schenkt er Tee ein und lässt einen Löf­fel Zucker in sei­nen rie­seln, dann beginnt er zu erzählen.

„Die meisten Haare habe ich in Deutschland verloren.“

Vie­le Stun­den, über drei Tage, wird Shaky von sei­nem Leben erzäh­len, davon, zurück­zu­müs­sen, zurück­zu­wol­len, aber nicht zurück­zu­kön­nen. Sein Schick­sal ist auch eine Geschich­te über soge­nann­te siche­re Her­kunfts­staa­ten, die eben nicht sicher sind, und EU-Staa­ten, die Geflüch­te­te schla­gen oder ins Gefäng­nis ste­cken las­sen, um sie los­zu­wer­den. Shaky hat sich den Platz, den das Sys­tem für ihn nicht fin­den woll­te, ein­fach genom­men. Die Nar­ben aber sind geblie­ben, auf der Haut und darunter.

Shaky trägt eine beige Stoff­ho­se und ein wei­ßes Unter­hemd, eine sil­ber­ne Ket­te um den Hals, an den Füßen schlab­bern aus­ge­latsch­te Flip-Flops. Er hat kräf­ti­ge Schul­tern, eine knub­be­li­ge Nase und buschi­ge Augen­brau­en, sei­ne Stirn ragt ein wenig über die Augen. Geheim­rats­ecken haben sich in sein ras­pel­kur­zes Haar gefressen.

Er zeigt ein Foto: Vor zehn Jah­ren wuchs da, wo noch Stop­pel oder kei­ne mehr sind, eine dun­kel­brau­ne Mäh­ne, mit der er für Haar­pfle­ge­pro­duk­te hät­te wer­ben kön­nen. „Stress“, sagt Shaky und zieht die Augen­brau­en hoch, so wie er es immer macht, wenn er etwas beto­nen möch­te. Er ist in sei­nem Leben oft weg­ge­rannt, vor schie­ßen­den Sol­da­ten, vor fal­len­den Bom­ben, hat sich aus der sek­ten­ar­ti­gen Orga­ni­sa­ti­on der Volks­mud­scha­he­din befreit, sei­ne Eltern seit 18 Jah­ren nicht umarmt. Und den­noch sagt er, der erst seit zwei Jah­ren hier ist: „Die meis­ten Haa­re habe ich in Deutsch­land verloren.“

Shaky, die Kurz­form von Shaki­ba, ist nicht sein rich­ti­ger Name. Den Namen „Shaki­ba“ hat er sich selbst gege­ben, als er sich ent­schloss, vor der Sek­te zu flie­hen, so sagt er. „Shaki­ba“ ist per­sisch und bedeu­tet „gedul­dig“. Er habe gewusst, er müs­se gedul­dig sein, um all das, was noch kom­men wür­de, durchzustehen.

Shakys rich­ti­gen Namen kennt nur, wer ihn ken­nen darf. Er fürch­tet sich vor der Aus­län­der­be­hör­de, vor der Sek­te, von der er sich los­ge­ris­sen hat, und vor dem ira­ni­schen Geheim­dienst, der die Volks­mud­scha­he­din bekämpft und Abtrün­ni­ge zur Mit­ar­beit zwingt, sie fol­tert oder tötet. Daher: kei­ne genau­en Orte, kei­ne rich­ti­gen Namen, nichts, was ihn ver­ra­ten könnte.

Bescheide, Bescheide über Bescheide

Im Wohn­zim­mer steht ein spe­cki­ges Leder­so­fa in der Ecke, von der Decke hängt eine Schau­kel aus wei­ßem Lei­nen­stoff, an den Wän­den Rega­le mit Büchern, dazwi­schen getusch­te Bil­der in bun­ten Far­ben. Shaky schlägt eine dicke, blaue Klad­de auf, dar­in Brie­fe, Schrei­ben, Doku­men­te, nega­ti­ve Beschei­de, posi­ti­ve Beschei­de, Beschei­de über Beschei­de. Er blät­tert sich durch den Sta­pel und grinst. „Ich bin seit zwei Jah­ren in Deutsch­land“, sagt er, „aber ich habe schon drei Kilo Papier.“

Shaky hat sein Leben in der Klad­de abge­hef­tet. Man­che Papie­re ste­cken in gel­ben Brief­um­schlä­gen, eines in Klar­sicht­fo­lie: der posi­ti­ve Asyl-Bescheid. Die Klad­de hilft, den Weg von Shaky nach­zu­zeich­nen, genau­so wie Fotos, Vide­os, der Flücht­lings­aus­weis aus den USA, jener von den Ver­ein­ten Natio­nen und sei­ne zwei Nar­ben am Arm. Die vie­len Doku­men­te haben mög­li­cher­wei­se sein Leben geret­tet. Ein Freund, der einen ähn­li­chen Weg gegan­gen sei wie er, habe kein Asyl bekom­men. Er habe die Doku­men­te auf der Flucht verloren.

Trotz der drei Kilo Papier las­sen sich nicht alle Tei­le von Shakys Geschich­te nach­prü­fen. Man­che beru­hen ein­zig auf sei­ner Erzäh­lung. Auch die beginnt mit einem Stück Papier, mit einem Brief, den er sei­nen Eltern hinterlässt.

Eines Nachts, Shaky hat gera­de sei­nen Schul­ab­schluss gemacht, schul­tert er sei­nen Ruck­sack, dar­in ein paar Kla­mot­ten, etwas zu essen, eine Fla­sche Was­ser und eine Taschen­lam­pe, und schließt die Tür sei­nes Eltern­hau­ses zum letz­ten Mal. Gemein­sam mit zwei Freun­den macht er sich auf den Weg. Ihr Ziel: Camp Ashraf, Haupt­quar­tier der ira­ni­schen Volks­mud­scha­he­din, in dem 3.500 Mit­glie­der leben, es liegt im Irak, unweit der Gren­ze zum Iran.

Er hatte Glück. Hatte er Glück?

Die Volks­mud­scha­he­din (MEK) sind die viel­leicht stärks­te Oppo­si­ti­ons­be­we­gung im Iran. Sie wol­len, so sagen sie, das isla­mi­sche Regime stür­zen und einen demo­kra­ti­schen Staat nach mar­xis­ti­schem Vor­bild errich­ten. 1979 hat­ten sie zusam­men mit Aja­tol­lah Cho­mei­ni das Regime des Schahs gestürzt, sich dann aber mit dem neu­en Macht­ha­ber über­wor­fen. Die Anhän­ger der Volks­mud­scha­he­din wur­den gefol­tert und getö­tet, spreng­ten Gebäu­de der Regie­rung und erschos­sen Mit­glie­der. Sie gin­gen in den Irak ins Exil und kämpf­ten mit Sad­dam Hus­sein gegen das Regime; ihre Ideo­lo­gie wur­de immer mehr zum Per­so­nen­kult um die exi­lier­ten Füh­rer. 2007 beschloss der Euro­päi­sche Rat ein­stim­mig, die Volks­mud­scha­he­din wei­ter als Ter­ror­or­ga­ni­sa­ti­on zu behan­deln und ihr ein­ge­fro­re­nes Ver­mö­gen nicht frei­zu­ge­ben. Zwei Jah­re spä­ter strich er sie dann aber nach einem jah­re­lan­gen Rechts­streit von der Lis­te der ter­ro­ris­ti­schen Orga­ni­sa­tio­nen.

Bis zu sei­nem Auf­bruch lebt Shaky ein gutes Leben. Er wächst in Schi­ras auf, einer Stadt mit etwa ein­ein­halb Mil­lio­nen Einwohner:innen im Süden Irans. Sei­ne Fami­lie ist weder reich noch arm, aber gebil­det. Sei­ne Nach­barn aber haben nicht viel mehr als eine klei­ne Woh­nung und gro­ßen Hun­ger. Ihnen bringt er öfter Obst und Gemü­se. Auf der Stra­ße sieht er, wie Kin­der im Müll wüh­len und sich Essens­res­te in den Mund stop­fen, hört, dass Män­ner ihre Frau­en ver­ge­wal­ti­gen dür­fen, liest, dass Män­ner und Frau­en, die ihre Mei­nung sagen oder gleich­ge­schlecht­li­che Partner:innen lie­ben, bis zum Hals ver­gra­ben gestei­nigt wer­den. All das erschüt­tert ihn und weckt sei­nen Zorn gegen das Regime.

Shaky und sei­ne Freun­de wis­sen nicht viel über die Orga­ni­sa­ti­on MEK, aber was sie wis­sen, fin­den sie gut. Ihren Eltern ver­ra­ten sie nichts. Mit­glie­der der Volks­mud­scha­he­din wer­den im Iran gefol­tert und getö­tet, auch ihre Ange­hö­ri­gen wer­den bestraft.

Die Odys­see beginnt.

Sie sind noch nicht lan­ge dabei, da fal­len im Jahr 2003 die Ame­ri­ka­ner in den Irak ein, sie beset­zen das Camp und ent­waff­nen die Kämp­fer. Sie sind gut zu ihnen, aber auch bald wie­der weg. Die ira­ki­sche Regie­rung soll die MEK schüt­zen. Dafür kas­siert sie zwar Gel­der von den Ver­ein­ten Natio­nen, doch der Schutz bleibt aus. Immer wie­der wird das Camp ange­grif­fen, von ira­ki­schen Sol­da­ten, aber auch von ira­ni­schen Para­mi­li­tärs. Mit Geweh­ren, Rake­ten und Mörsern.

Als Shaky davon spricht, steht er plötz­lich auf und holt den Lap­top aus sei­nem Zim­mer. Er öff­net You­tube, klickt Vide­os an: Kampf­jets schmei­ßen Bom­ben auf ein Camp, Sol­da­ten jagen Men­schen und schie­ßen auf sie, Män­ner lie­gen gefes­selt am Boden, mit einem Loch im Kopf. Shaky zeigt mit dem Fin­ger auf den Bild­schirm. „Die waren gefes­selt und trotz­dem…“ Er steht auf, schüt­telt den Kopf und wedelt mit dem Zei­ge­fin­ger, dann öff­net er die Tür zum Bal­kon. Er zün­det sich eine Ziga­ret­te an und zieht kräf­tig dar­an, dann dreht er sich wie­der in Rich­tung Lap­top. Sieht die Bom­ben, sieht, wie die Men­schen ren­nen, sieht, wie sie fal­len. Er wen­det sich ab. Der Qualm umschließt ihn. Er hat­te Glück. Hat­te er Glück?

„Ein Freund. Auch tot.“

Nach der Ziga­ret­te setzt er sich wie­der. Er stützt sei­nen Ell­bo­gen auf den Tisch, legt sein Kinn auf die Han­din­nen­flä­che und ver­birgt sei­nen Mund hin­ter der Faust. Er zeigt mit dem Fin­ger auf eine Lei­che, dann fährt er mit dem Cur­sor über sie. „Das war mein ehe­ma­li­ger Kom­man­dant“, sagt er. Im Hin­ter­grund läuft ein trau­ri­ges Lied. „Ein Freund. Auch tot.“ Zwi­schen den Kriegs­sze­nen blen­det das Video Fotos von Opfern ein. „Den habe ich gekannt.“ Er schluckt. Ein paar Bil­der wei­ter. „Den auch. Ein guter Mann.“ Sei­ne Augen wer­den feucht, sei­ne Nase und Wan­gen errö­ten, die ver­äs­teln­den Blut­ge­fä­ße schei­nen durch, er lässt die Hän­de auf den Tisch fal­len. „Kannst du dir das vorstellen?“

Bis zum Jahr 2013 ster­ben im Camp über ein­hun­dert Volks­mud­scha­he­din, vie­le mehr wer­den ver­letzt. Die Bewoh­ner gel­ten nicht mehr als Ter­ro­ris­ten, son­dern als Flücht­lin­ge, ver­folgt von ira­ni­schen sowie ira­ki­schen Akteu­ren, aner­kannt nach der Gen­fer Kon­ven­ti­on. Das Flücht­lings­hilfs­werk der Ver­ein­ten Natio­nen (UNHCR) will sie außer Lan­des brin­gen. Doch es fin­det sich lan­ge nie­mand, der alle 3.000 Bewoh­ner auf­neh­men will. Die Füh­rer der MEK wol­len sie zusam­men hal­ten. Erst im Sep­tem­ber 2016 kom­men die letz­ten Flücht­lin­ge, dar­un­ter auch Shaky, nach Albanien.

Für Shaky sind die MEK längst zum Gefäng­nis gewor­den. Von Frei­heit und Demo­kra­tie, für die er kämp­fen woll­te, kann er hier nur träu­men. Frau­en und Män­ner leben getrennt von­ein­an­der, an Sex dür­fen sie nicht mal den­ken. Sie dür­fen sich nicht mit nur einem Freund unter­hal­ten, alles muss in der Grup­pe pas­sie­ren. Wer zwei­felt und kri­ti­siert, wird geäch­tet. In den Ver­samm­lun­gen müs­sen sie in die Mit­te tre­ten und sich vor allen ande­ren selbst gei­ßeln. Report able­gen, so heißt das. Shaky steht dann da und schreit sich selbst an, dass er an Sex gedacht habe, dass er sich nach Frei­heit seh­ne, dass er es nicht wert sei, ein miss­ra­te­nes Stück. Die ande­ren zei­gen mit dem Fin­ger auf ihn und rufen im Kanon: „Du hast gesün­digt, du hast gesündigt.“

Shaky ist der Musi­ker des Lagers, sein Lieb­lings­in­stru­ment ist das Tan­bur, ein bau­chi­ges Sai­ten­in­stru­ment. Meis­tens übt er, manch­mal tritt er auf die Büh­ne oder spielt für den Fern­seh­sen­der der MEK. Er liest viel, auch Bücher, die ande­re Mit­glie­der hin­ein­ge­schmug­gelt haben, etwa Karl Pop­pers „Die offe­ne Gesell­schaft und ihre Fein­de“. Er liest die Sät­ze und merkt, was er schon lan­ge geahnt hat. Einer die­ser Fein­de ist die MEK.

In Alba­ni­en dür­fen die Mit­glie­der das Camp auch mal ver­las­sen. Die MEK, ihr Quar­tier liegt direkt neben dem Büro der UN, wol­len sich als offe­ne demo­kra­ti­sche Orga­ni­sa­ti­on prä­sen­tie­ren, die sie nicht sind. Shaky genießt die Frei­heit, er redet viel mit Freun­den, spa­ziert durch die Stra­ßen und bleibt den Ver­samm­lun­gen fern. Er will raus. Er spricht mit sei­nem bes­ten Freund, der will auch gehen. Sie sagen es ihren Kom­man­deu­ren. Die reden auf sie ein. Aber es ist nur noch eine Fra­ge der Zeit.

Er sieht seine Eltern, zum ersten Mal seit 15 Jahren

Shaky kann nicht ein­fach gehen. 15 Jah­re hat er nur im Camp gelebt. Er hat kaum Geld und kei­nen Besitz. Er weiß nicht, wie das Inter­net funk­tio­niert, hat kei­ne Aus­bil­dung, spricht nur Per­sisch und Ara­bisch. Er hat weder eine Arbeits- noch eine Auf­ent­halts­er­laub­nis außer­halb vom Camp. Außer­dem sucht der Geheim­dienst nach Abtrün­ni­gen, um Infor­ma­tio­nen aus ihnen her­aus­zu­pres­sen. Er zwei­felt. Was soll ich da drau­ßen machen? Wie soll ich über­le­ben? Und wo soll ich über­haupt hin? Es ist die Abhän­gig­keit, die ihn hält.

Über ein Jahr nach der Ankunft in Alba­ni­en ver­lässt er die MEK. Er zieht zu einem Bekann­ten. Raus geht er nur, um Essen zu kau­fen. Er muss ler­nen, zu leben. Er kauft sich ein gebrauch­tes Tablet, macht sich mit dem Inter­net ver­traut, büf­felt Eng­lisch, übt Tan­bur, lässt sich Geld von Freun­den und Ver­wand­ten schi­cken, orga­ni­siert sei­ne Wei­ter­rei­se nach Deutsch­land. Er lässt den Bart wach­sen. Der Geheim­dienst soll ihn dar­un­ter nicht finden.

Eines Tages tippt er eine Num­mer in das Tablet. Auf dem Bild­schirm sieht er sei­ne Eltern, das ers­te Mal seit 15 Jah­ren. Trä­nen flie­ßen, alle schluch­zen. Plötz­lich erschrickt er. Sie sind grau gewor­den, Fal­ten durch­zie­hen ihr Gesicht. Sei­ne Eltern sind ohne ihn alt gewor­den. Wer­den sie ohne ihn sterben?

Acht Mona­te spä­ter, im März 2018, machen sich Shaky und sein Freund auf den Weg nach Deutsch­land. Sie stei­gen in Bus­se, fah­ren mit Taxis. Die Gren­zen pas­sie­ren sie zu Fuß. Auf­rei­bend, aber rei­bungs­los. Bis Poli­zis­ten in Kroa­ti­en sie in den Strei­fen­wa­gen schie­ben. Ver­haf­tet. Wegen ille­ga­ler Ein­rei­se. Die Zel­le dür­fen sie nur zum Essen ver­las­sen. Früh­stück, Mit­tag, Abend­brot, wenn sie Glück haben. Shaky läuft den klei­nen Flur vor der Zel­le auf und ab, damit er nachts zumin­dest ein wenig schla­fen kann. Nach 20 Tagen sagt ihnen die Lei­te­rin, dass sie gehen dürf­ten. „Sie­ben Tage habt ihr Zeit, das Land zu ver­las­sen. Danach dürft ihr zwei Jah­re nicht ein­rei­sen.“ Zurück wol­len sie sowie­so nicht.

Ein Freund bringt sie mit dem Auto nach Deutsch­land, sie lan­den erst in Duis­burg, dann in Rhein­berg. Nach zwei Wochen bekommt Shaky einen Brief vom Bun­des­amt für Migra­ti­on und Flücht­lin­ge (BAMF): „Der Antrag wird als unzu­läs­sig abge­lehnt. Die Abschie­bung nach Kroa­ti­en wird angeordnet.“

Sein Fin­ger­ab­druck hat ihn ein­ge­holt. Ein Geflüch­te­ter muss da sei­nen Asyl­an­trag stel­len, wo er zuerst euro­päi­schen Boden betre­ten hat. Oder in der Pra­xis: da, wo er zuerst regis­triert wor­den ist. Aber es gibt einen Weg: Brin­gen ihn die Behör­den nicht inner­halb von sechs Mona­ten zurück, darf er blei­ben. Das Ver­steck­spiel beginnt.

„Die Heime sind Ghettos“

Shaky will nicht zurück nach Kroa­ti­en. Nicht zurück ins Gefäng­nis. Kroa­ti­en geht harsch gegen Geflüch­te­te vor. Mehr­fach kamen in den letz­ten Jah­ren an Kroa­ti­ens Gren­zen Men­schen ums Leben. Soge­nann­te Grenz­schüt­zer wür­den Geflüch­te­te mit Schlag­stö­cken zurück­prü­geln, Hun­de auf sie het­zen, sogar dro­hen, die Geflüch­te­ten zu erschie­ßen, berich­ten Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­tio­nen. Das Bor­der Vio­lence Moni­to­ring Net­work doku­men­tier­te allein bis Ende 2019 mehr als 600 Fäl­le. Das Euro­pa­par­la­ment hat Kroa­ti­ens Pra­xis immer wie­der ver­ur­teilt, eben­so wie das UNHCR. Alles Lügen, sagen dazu kroa­ti­sche Behör­den. Ende 2019 aber muss­te Kroa­ti­ens Innen­mi­nis­ter ein­räu­men, dass ein Afgha­ne „aus Ver­se­hen“ ange­schos­sen wur­de. Hoch­ran­gi­ge EU-Politiker:innen blie­ben stumm. Fach­leu­te sagen, es wer­de gedul­det, weil sie so die Geflüch­te­ten fernhielten.

So lan­ge hat Shaky von Deutsch­land geträumt. Nun ist er da. Er lebt mit vier ande­ren in einem klei­nen Zim­mer, zu essen gibt es ein paar Schei­ben Brot, Wurst und Käse, dazu ein Stück Möh­re oder Gur­ke. Abends stopft er Kla­mot­ten in den Ruck­sack und setzt sich in die Bahn, fährt von Rhein­berg nach Essen, von Essen nach Duis­burg. Und zurück. Drei bis vier Stun­den Schlaf, sechs bis acht, wenn er zwei Mal fährt. Die Poli­zei holt Abschie­be­pflich­ti­ge meist nachts. Das weiß er. Manch­mal schläft er auch bei Bekann­ten auf der Couch oder klemmt sich eine Decke unter den Arm und legt sich in den Wald am Rhein. Tags­über muss er wie­der ein­stem­peln im Heim. Fehlt er län­ger als drei Tage, gilt er als flüch­tig. Die Behör­den hät­ten dann 18 Mona­te Zeit, ihn nach Kroa­ti­en zu bringen.

Das gute Gefühl vom Anfang – zer­trüm­mert von einem Blatt Papier. Da ist nur noch die Angst: Wer­den sie mich holen? Und wenn ja, was bringt das alles noch?

Shaky tippt auf ein Foto: Völ­lig aus­ge­zehrt liegt er auf den Trep­pen­stu­fen in einer ori­en­ta­li­schen Aula, die Augen kaum geöff­net – als wäre er zusam­men­ge­bro­chen. „Hier habe ich fast drei Mona­te nichts geges­sen, aus Pro­test wegen der Angrif­fe auf unser Camp“, sagt er. In der Zeit habe er 25 Kilo abge­nom­men. Er blickt auf. „In Deutsch­land habe ich in den ers­ten neun Mona­ten 15 Kilo ver­lo­ren. Die Hei­me sind Ghet­tos. Die, die noch nicht depres­siv sind, wer­den es da drin.“

Als die Blät­ter im Jahr 2018 von den Bäu­men fal­len, kann Shaky nicht mehr. Er weiß nicht, wie er die zwei, drei Mona­te über­ste­hen soll, bis er lan­ge genug in Deutsch­land ist, um blei­ben zu dür­fen. Er weiß nur eins: Es gibt kein Zurück. Kroa­ti­en bedeu­tet Gefäng­nis oder Rück­kehr in den Iran. Iran bedeu­tet Zusam­men­ar­beit mit dem Geheim­dienst oder Gefahr für Leib und Leben. Für ein Leben in Deutsch­land wür­de er sterben.

„Solange ich hier bin, stirbst du nicht“

Blei­ben darf nur, wer an einer „lebens­be­droh­li­chen oder schwer­wie­gen­den Erkran­kung“ lei­det. Nicht, wer nur vor­täuscht. Also muss es echt sein: Shaky schließt sich in der Toi­let­ten­ka­bi­ne ein, schluckt Beru­hi­gungs­ta­blet­ten und sackt irgend­wann all­mäh­lich in sich zusam­men. Dann drückt von außen jemand die Klin­ke, Stim­men, es kracht. Ein paar Leu­te stür­men hin­ein. Die Lei­te­rin des Heims kniet sich zu Shaky. „Lasst mich ein­fach ster­ben“, sagt er. Sie schüt­telt den Kopf: „Solan­ge ich hier bin, stirbst du nicht.“

Die Ziga­ret­te hat ihm womög­lich sein Leben geret­tet, so habe es ihm die Lei­te­rin nach­her erzählt. Ein ande­rer Mann habe nur Hil­fe geholt, weil er den Qualm gero­chen hat­te. Eigent­lich habe er nur auf die Toi­let­te gewollt.

Shaky bekommt Anti­de­pres­si­va, nimmt sie auch. „Ich woll­te mich nicht umbrin­gen, aber ich war schon depres­siv“, sagt er. Nach drei Wochen wird er ent­las­sen. Den Behör­den bleibt noch mehr als Monat.

Wie­der ist Shaky nachts über­all, nur nicht im Zim­mer. Sechs Wochen. Fünf Wochen. Vier Wochen. Dann will er es ein für alle Mal ent­schei­den. Er schluckt eine Hand­voll Pil­len, jenes Anti­de­pres­si­vum, das sie ihm im Kran­ken­haus gege­ben hat­ten. Ein Freund fin­det ihn recht bald, Shaky über­lebt. Er hat­te ihn eingeweiht.

Shaky bleibt im Kran­ken­haus, bis die Frist ver­stri­chen ist. Dann kommt er in ein Flücht­lings­heim in Müns­ter. Er hat es geschafft. Ein Brief ein paar Wochen spä­ter: Abschie­bung ange­ord­net. Schock. Wider­spruch. Wie­der ein Brief: ein Feh­ler, sor­ry. Er hat es geschafft. Den ers­ten Schritt. Er darf Asyl beantragen.

Shaky flieht nicht vor Krieg oder weil er etwa wegen sei­nes Glau­bens oder sei­ner Sexua­li­tät ver­folgt wür­de. Er muss nach­wei­sen, dass aus poli­ti­schen Grün­den sein Her­kunfts­staat hin­ter ihm her ist. Das gelingt nur etwa einem von Hun­dert. Ins­ge­samt zehn Stun­den lang fra­gen sie ihn aus, über sein Leben, über sei­ne Fami­lie, sei­ne Flucht, die Orga­ni­sa­ti­on, das Regime. Er muss auf­zeich­nen, wie die Camps aus­ge­se­hen haben, muss sagen, wel­che Ritua­le sie pfleg­ten, wer die Kom­man­deu­re waren. Shaky muss sei­ne Doku­men­te vor­le­gen, sei­nen Pass, die Beschei­ni­gung der US-Army, den Aus­weis von den UN, als Flücht­ling nach der Gen­fer Konvention.

Nach dem Gespräch wei­sen sie ihn dar­auf hin, dass die Ent­schei­dung dau­ern wür­de. Und sie dau­ert. Und dau­ert. Anfang 2020 ein Brief. Dies­mal vom Sozi­al­amt: Er möge sich bit­te beim Job­cen­ter mel­den. Shaky ver­steht nicht, wie­der mal. Soll er jetzt arbei­ten, kriegt er kei­ne Unter­stüt­zung mehr? In der Bera­tungs­stel­le für Geflüch­te­te wun­dert sich die Mit­ar­bei­te­rin. Das Job­cen­ter sei erst zustän­dig, wenn der Antrag aner­kannt wor­den ist. Sie ruft sei­nen Anwalt an. Der sagt: Shaky ist aner­kannt wor­den. Er hat­te nur ver­ges­sen, es ihm zu sagen.

Zum ersten Mal frei, nur nicht von Sorgen

Für Shaky beginnt end­lich der Rest sei­nes Lebens. Er paukt flei­ßig Spra­chen, im All­tag kommt er mit Deutsch zurecht, Eng­lisch spricht er inzwi­schen flie­ßend. Er wird ein­ge­la­den, auf Eng­lisch zu refe­rie­ren, obwohl er bis vor drei Jah­ren das latei­ni­sche Alpha­bet nicht kann­te. Er gibt Kon­zer­te, spielt etwa bei einer Ver­an­stal­tung des Flücht­lings­rats oder der See­brü­cke, einer Hilfs­or­ga­ni­sa­ti­on für Geflüch­te­te. In sei­ner Frei­zeit geht er gern zum Bas­ket­ball­platz und zockt mit denen, die da sind.

Er hat ihn gewon­nen, den Über­le­bens­kampf. Aber als gro­ßer Gewin­ner fühlt er sich nicht. Er wür­de lie­ber heu­te als mor­gen zurück in den Iran. „Wenn es die­se Dik­ta­tur nicht gäbe, wäre ich schon lan­ge wie­der zuhau­se“, sagt er. „Was will ich denn hier? Mei­ne Fami­lie, mei­ne Freun­de – ich habe die seit 18 Jah­ren nicht mehr gese­hen. Im Iran haben Musi­ker, die nur halb so talen­tiert sind wie ich, ein gutes Leben. Aber hier? Was soll ich hier machen mit ira­ni­scher Musik? Hier muss ich erst noch mal zur Schu­le. Oder eben LKW fahren.“

Obwohl Shaky schon 35 ist, muss er sich mit Fra­gen beschäf­ti­gen, die sich hier­zu­lan­de Teen­ager stel­len. Er muss nun erst mal flie­ßend Deutsch spre­chen, dann will er Abitur machen. Wenn es mit der Musik nicht klappt, wür­de er gern stu­die­ren, am liebs­ten Phi­lo­so­phie, viel­leicht aber auch Infor­ma­tik. „Am Ende wer­de ich Musi­ker sein, ganz sicher. Ich weiß, die Rea­li­tät ist bru­tal. Aber ich habe den Preis schon bezahlt. Ich wer­de mein Leben nicht verschwenden.“

Wenn Shaky dar­über spricht, wie er fast gestor­ben wäre, kne­tet er sei­ne Hän­de, sei­ne Füße ruhen aber meist. „Ich bin kein Robo­ter“, sagt er, „natür­lich geht mir das nahe. Aber ich wuss­te, war­um ich das tue. Ich woll­te mir neh­men, was mir zusteht. Und ich war bereit, dafür zu ster­ben.“ Wer, wenn nicht er, ver­die­ne das Recht, blei­ben zu dür­fen? „Auf der Stra­ße sehe ich Men­schen, die von über­all her­kom­men und hier stu­die­ren. Das ist wun­der­bar. Aber ich soll zurück? Ich weiß nicht, was pas­sie­ren wür­de, wenn ich zurück in den Iran käme. Und ich will es auch gar nicht wissen.“

Shaky ist zum ers­ten Mal frei, nur nicht frei von Sor­gen. Wird er hier Hei­mat fin­den? Darf er je wie­der in den Iran? Wird er sei­ne Eltern noch mal in den Arm neh­men? Shaky ris­kier­te sein Leben für ein Leben in Deutsch­land. Aber eigent­lich will er hier gar nicht sein. —

Kor­rek­tur:
In einer frü­he­ren Ver­si­on des Tex­tes hat­ten wir geschrie­ben, der Iran gel­te als siche­res Her­kunfts­land. Das stimmt nicht. Das Bun­des­amt für Migra­ti­on und Flücht­lin­ge stuft den Iran nicht als sol­ches ein. Wir haben den Feh­ler korrigiert. 


Andre­as Holz­ap­fel ist eine von elf Reporter:innen an der Repor­ta­ge­schu­le Reut­lin­gen, die Ende August 2020 in Müns­ter Geschich­ten für RUMS recher­chiert und geschrie­ben haben. Dabei wur­den sie von den drei Fotograf:innen Lau­ra Schenk, Ange­li­ka Wie­schol­lek und Niko­laus Urban beglei­tet. Die Repor­ta­gen, Inter­views und Fea­tures ver­öf­fent­li­chen wir in unre­gel­mä­ßi­gen Abständen.