„Wir haben beide experimentiert, er hat weitergemacht“

Mit 16 Jah­ren zog Til­man Hol­ze das ers­te Mal an einem Joint. Mit 24 starb er an einer Über­do­sis Fen­ta­nyl. Sei­ne Eltern wol­len nicht, dass der Tod das letz­te Wort hat. Sie grün­de­ten eine Stif­tung und ver­su­chen so, in ande­ren Fami­li­en das zu ver­hin­dern, was ihrem Sohn passierte.

TEXT: KATRIN GROTH
FOTOS: MERLE TRAUTWEIN
LEKTORAT: ANTONIA STROTMANN

Vor der Kapel­le brummt der Fried­hofs­gärt­ner auf einem Auf­sitz­ra­sen­mä­her her­um. Ein rie­si­ges wei­ßes Kreuz mar­kiert den Ein­gang. Chris­tia­ne Hol­ze kommt fast jeden Tag. Jetzt geht sie mit ihrem Mann und Sohn Titus die weni­gen Schrit­te bis zum Grab ihres Sohns.

Til­man Hol­ze
*30.01.1993
†19.03.2017

Chi­na­schilf biegt sich im Wind, Son­nen­hut blüht gelb, an der Zier­kir­sche neben dem Grab­stein bau­melt eine Solar­leuch­te. „Rich­tig Til­man wäre, wenn zwei Laser­strah­len bis ganz nach oben leuch­ten wür­den“, sagt Titus, der Jüngs­te, er ist 24 Jah­re alt. So alt wie sein gro­ßer Bru­der wurde.

Mit 16 zieht Til­man das ers­te Mal an einem Joint. Es ent­spannt ihn – den, dem die Welt oft zu bunt ist, zu laut. So beginnt es. Tablet­ten, Speed, Opi­ate, zum Schluss Fen­ta­nyl. Es gibt kaum einen Stoff, den er nicht pro­biert. Über­do­sis, so endet es.

Zurück bleibt eine Fami­lie. Wie geht sie mit dem Ver­lust um?

Laut dem aktu­el­len Dro­gen­be­richt haben in Deutsch­land rund 3,7 Mil­lio­nen Erwach­se­ne und mehr als 360.000 Jugend­li­che in den ver­gan­ge­nen zwölf Mona­ten Can­na­bis kon­su­miert. Es ist die belieb­tes­te unter den ille­ga­len Dro­gen. Und manch­mal ist sie der Ein­stieg in den Abgrund.

Wenn in Deutsch­land Men­schen an Dro­gen ster­ben, sind sie im Schnitt jün­ger als 40. Im Jahr 2021 waren es 1.826 Men­schen. Die Zahl steigt seit vier Jah­ren. Allein in Nord­rhein-West­fa­len star­ben im ver­gan­ge­nen Jahr 693 Men­schen an Dro­gen. Es war der höchs­te Wert seit über 20 Jahren.

„Seit Tils Tod sehen sie zehn Jahre älter aus.“

Chris­tia­ne Hol­ze sagt, sie wol­le nie wie­der etwas ande­res tra­gen als Schwarz. Auf dem blau­en Leder­so­fa schlägt sie die Bei­ne über­ein­an­der. Schwar­zes Kleid, schwar­ze Strumpf­ho­se, schwar­ze Bal­le­ri­nas. Ihre Haa­re leuch­ten weiß.

Sie stellt die Kaf­fee­tas­se auf dem Couch­tisch ab. Unter der Glas­plat­te lie­gen das Dos­sier der Zeit und eine Aus­ga­be Publik-Forum, eine Kirchenzeitung.

Chris­tia­ne Hol­ze, 61 Jah­re alt, ist Schul­pfar­re­rin am Annet­te-von-Dros­te-Hüls­hoff-Gym­na­si­um. Ihr Mann Erhard, ein Jahr älter, bil­det an der Uni­ver­si­tät Müns­ter Religionslehrer:innen und Pfarr­amts­kan­di­da­ten aus. Die bei­den sind seit 36 Jah­ren ver­hei­ra­tet. Sie haben drei Söh­ne: Tobi­as, Titus und Tilman.

Die Hol­zes leben in Meck­len­beck in einem Rei­hen­haus mit klei­nem Gar­ten und einer hohen Hecke. Neben der Bücher­wand im Wohn­zim­mer ist Til­m­ans Ecke. Auf dem Tisch steht ein Strauß aus wei­ßen Rosen, im Regal ein Vor­rat an Grab­ker­zen, rot und weiß. An der Wand hängt ein hand­ge­schmie­de­tes Kreuz, dane­ben ein gerahm­tes Foto. Til­m­ans Gesicht, überlebensgroß.

Ein blon­der Jun­ge mit brau­nen Augen, 21 ist er auf dem Bild. Es ist retu­schiert. Am Tag zuvor hat­te Tobi­as, der mitt­le­re der drei Brü­der über sei­ne Eltern gesagt: „Seit Tils Tod sehen sie zehn Jah­re älter aus.“

Ein Sunnyboy

Til­man und Tobi­as tei­len als Kin­der alles. Sie reden über die Schu­le, über Mädels. „Ärger mit Mama und Papa konn­ten wir zusam­men pri­ma durch­ste­hen“, sagt Tobi­as. Dabei sind die bei­den wie Nord- und Süd­pol. Til­man, der cha­ris­ma­ti­sche, dem die ande­ren Kin­der auf dem Schul­hof wie Äff­chen am Arm hän­gen. Tobi­as, der schüch­ter­ne, drei Jah­re jün­ger. „Til war mein bes­ter Freund“, sagt er. Sei­ne Stim­me zittert.

Als die Brü­der klein sind, kriecht Til­man manch­mal zu ihnen zum Kuscheln ins Bett. Spä­ter nimmt er sei­ne Brü­der mit auf den Send oder ins Kino, in die Fil­me ab 16.

„Til war ein Men­schen­ma­gnet“, sagt Tobi­as. Schon als Kind ist Til­man der Anfüh­rer, zieht mit 15 Nach­bars­kin­dern im Schlepp­tau durch die Neu­bau­sied­lung in Meck­len­beck. Er spielt Schlag­zeug, klet­tert auf Dächer, fährt Skate­board. „Til hat tau­send Sachen ange­fan­gen, aber nie Sachen zu Ende gebracht“, sagt Erhard. Dem Hund das Skate­boar­den bei­brin­gen, klar, aber jeden Tag Gas­si gehen? Nein, danke.

Drei Jah­re arbei­tet Til­man als Jugend­mit­ar­bei­ter in der Gna­den­kir­che, plant Kon­fir­ma­ti­ons­un­ter­richt und Jugend­frei­zei­ten. Von einem Grup­pen­fo­to grinst er braun­ge­brannt in die Kame­ra. Nar­bon­ne-Pla­ge, da ist Til­man gera­de 18. Ein Sun­ny­boy, sagt Pfar­rer Arndt Men­ze. Er kennt Til­man von damals, sagt: „Er hat die Leu­te zusammengebracht.“

Bei Til­m­ans Trau­er­fei­er ist die Kir­che voll. Sie sin­gen: Weißt du, wie viel Stern­lein ste­hen, an dem blau­en Himmelszelt?

Der Kurs wird zur Kontaktbörse

Erhard Hol­ze stellt einen Kar­ton Fotos auf den Tisch. Til­man im Fami­li­en­ur­laub, Til­man bei sei­ner Kon­fir­ma­ti­on, Til­man, ange­nagt von der Sucht. Noch ein Foto. Noch eins. Und noch eins.

„Ich habe ganz vie­le Erin­ne­run­gen ver­ges­sen“, sagt Chris­tia­ne Holze.

Mit der Puber­tät ver­än­dert sich Til­man. Er geht pünkt­lich aus dem Haus, aber nicht zur Schu­le. Manch­mal bleibt er drei Tage weg. Kifft Til­man zuhau­se, flippt sei­ne Mut­ter aus. Lan­ge sei gar nicht auf­ge­fal­len, wenn Til­man und er bekifft nach Hau­se kamen, sagt Tobi­as. Er fährt sich durch die brau­nen Haa­re. An die Dro­gen zu kom­men? Viel zu einfach.

Tobi­as und Til­man pro­bie­ren Schmerz­ta­blet­ten, die von einer Zahn-OP übrig sind. Til­idin, Vali­um, Ecsta­sy. Sie neh­men die Dro­gen mit viel zu viel Begeis­te­rung, sagt Tobi­as heu­te, mit 26. „Wir haben bei­de expe­ri­men­tiert, er hat wei­ter­ge­macht, ich bin aus­ge­stie­gen.“ Er zün­det sich eine Ziga­ret­te an, von sei­nem Bal­kon schaut er ins Grü­ne, die Uni­ver­si­tät ist nicht weit.

Die Dro­gen­prä­ven­ti­on an der Schu­le ver­pufft: Die Poli­zei droht mit Knast, die Sozi­al­ar­bei­ter wecken die Neu­gier. In einem „FreD-Kurs“, Früh­in­ter­ven­ti­on bei erst­auf­fäl­li­gen Drogenkonsument:innen, trifft Til­man Jugend­li­che mit weit mehr Dro­gen­er­fah­rung. Der Kurs wird zur Kontaktbörse.

Til­man macht Abitur, stu­diert zwei Semes­ter Psy­cho­lo­gie in den Nie­der­lan­den, zieht wie­der nach Müns­ter. Aus­bil­dung zum Ein­zel­han­dels­kauf­mann, Job als Sach­be­ar­bei­ter. In sei­ner frei­en Zeit ist Til­man breit. Tobi­as sagt, es ist, als sei Til­man ver­lo­ren gegan­gen. „Ich hat­te Angst, dass er einer vom Bre­mer Platz wird.“

Wenn es ihm gut ging, habe er bel­la figu­ra gemacht, sagt Chris­tia­ne. Mama, hier ist dein Erst­ge­bo­re­ner, hast du Zeit?, fragt er dann. Wenn es ihm schlecht geht, schreit er sei­ne Eltern an: Das ein­zi­ge Pro­blem an mei­nem Dro­gen­pro­blem ist, dass ihr ein Pro­blem damit habt.

Die Sucht, sie ist grö­ßer als alles ande­re. Grö­ßer als Eltern, grö­ßer als Fami­lie, grö­ßer als Glau­be. Chris­tia­ne und Erhard wis­sen: Allein kom­men sie da nicht raus.

Alles dreht sich um Tilman.

Irgend­wann sagt er: Papa, ich kann nicht mehr.

Als Til­man sich den Fuß bricht, sieht die Fami­lie eine Chan­ce. Nie­mand soll mer­ken, war­um er nicht zur Arbeit kommt. Drei Wochen ver­bringt er in der Ent­gif­tungs­kli­nik. „Uns zulie­be“, sagt Chris­tia­ne. Als er raus­kommt, kann er wie­der lachen, füh­len. „Das war wie­der mein Bru­der, und zwar unge­fil­tert“, sagt Tobi­as. Das ers­te Mal seit vier Jah­ren gibt es so etwas wie Hoffnung.

Das Gift ist aus dem Kör­per, doch das Ver­lan­gen, das ist noch da. Til­man bekommt kei­nen The­ra­pie­platz. Und gibt nach. Car­fen­ta­nyl, ein wei­ßes Pul­ver, Betäu­bungs­mit­tel für Ele­fan­ten. 10.000-mal stär­ker als Mor­phi­um. Zwei Mil­li­gramm wir­ken tödlich.

Er wird in sei­nem Zim­mer bewusst­los, ein­mal, zwei­mal. Beim drit­ten Mal ist nie­mand recht­zei­tig zur Stel­le, erst der Not­arzt holt Til­man zurück. Uni­kli­nik, Inten­siv­sta­ti­on. Vier Tage wachen Eltern, Brü­der und Freun­de an sei­nem Bett. Am 19. März 2017, ein Sonn­tag, stirbt Tilman.

„Es ist nicht nur für uns schlimm, son­dern auch weil er der Welt nichts mehr geben kann“, sagt Tobias.

Sie lügen, um ihren Sohn zu schützen

Chris­tia­ne legt ihre Hän­de in den Schoß. Erhard kne­tet die Arm­leh­nen sei­nes Leder­ses­sels. Sam­my nes­telt an der Decke in sei­nem Korb, es knarzt und knis­tert, als wol­le er von den trü­ben Gedan­ken ablenken.

Die Wochen nach dem Tod. Sie schläft kaum und weint viel, wie ein Zom­bie sei sie zur Arbeit gegan­gen. Er hat zehn Tage nach der Beer­di­gung einen Herz­in­farkt. Es bleibt zunächst unbemerkt.

„Wie ein gutes Ehe­paar haben sie sich abge­wech­selt mit den depres­si­ven Pha­sen“, sagt Titus. Er wirkt älter, als er ist, steht kurz vor dem Staats­examen in Jura. Damals schiebt er den Tod bei­sei­te, schreibt Abitur­prü­fun­gen, Tobi­as betäubt sich. Bloß nichts füh­len. Er wirft Tablet­ten ein, kokst, sei­ne Freun­din macht Schluss.

Til­m­ans Tod reißt ein Loch, tief wie der Marianengraben.

Nach­barn stel­len Töp­fe mit Rind­fleisch­sup­pe vor die Tür. Wenn sie mutig sind, klin­geln sie. „Das war die Infu­si­on, die ich brauch­te, um wei­ter­le­ben zu kön­nen“, sagt Christiane.

Waren sie zu streng? Zu wenig streng? Erhard denkt laut. „Nein“, sagt er dann. Sie haben alles ver­sucht. „Ich habe ihn ins Leben gebracht und ich konn­te ihn nicht hal­ten“, sagt Chris­tia­ne. Die Schuld­ge­füh­le las­ten auf ihr. Titus steht auf und lässt Sam­my in den Gar­ten. Zigarettenpause.

Drin­nen steht die Fra­ge im Raum, war­um der Glau­be Til­man kei­nen Halt gab. Oder nicht genug. „Es wäre wahn­sin­nig ein­fach, wenn Glau­be und Fami­lie einem alles geben könn­ten“, sagt Titus, um den Hals ein gol­de­nes Kreuz. Dro­gen machen süch­tig, der Kör­per schreit danach. „Da hilft auch der lie­be Gott nicht mehr“, sagt Christiane.

Die Sucht kann jeden treffen.

Hol­zes ver­schwei­gen die Dro­gen­ge­schich­te ihres Soh­nes, lügen, um ihn zu schüt­zen. Und sich selbst. Zu groß die Angst, dass man mit dem Fin­ger auf ihn zeigt. Bis Til­man stirbt. Jetzt spre­chen sie.

Behandlung ohne Lücken

Schon vor Til­m­ans Beer­di­gung kreuzt das Wort Stif­tung Chris­tia­nes Gedan­ken. Es klingt. Wie ein Ohr­wurm bleibt es hän­gen. Hol­zes wol­len nicht län­ger lügen, sie wol­len die Wahr­heit über Til­man erzählen.

Wer süch­tig ist, ist krank. Wer süch­tig ist, braucht Hilfe.

Im April 2020 grün­den Chris­tia­ne und Erhard die Til­man-Hol­ze-Stif­tung. In den Fly­er schrei­ben sie: Auf der Suche nach Glück grei­fen Men­schen mit­un­ter zu Sub­stan­zen, die süch­tig und abhän­gig machen. Auf dem Titel ein Bild, das Til­man in der Kli­nik gemalt hat, feu­er­rot. Es hängt im Haus neben der Treppe.

„In mei­nen Eltern brennt ein Feu­er, dass sowas nicht auch in ande­ren Fami­li­en pas­siert“, sagt Tobias.

„Es ist ein Stück Trau­er­ar­beit“, sagt Christiane.

Mit der Stif­tung sam­meln sie Geld für Prä­ven­ti­ons­pro­jek­te und The­ra­pie­ein­rich­tun­gen: Ein Thea­ter­pro­jekt, dass die Lebens­ge­schich­te von Dro­gen­ab­hän­gi­gen auf die Büh­ne und in Schu­len bringt. Und eine Ein­rich­tung, in der sucht­kran­ke Män­ner ein Jahr lang woh­nen und das Leben ohne Dro­gen ler­nen. Zwei neue Bewoh­ner­zim­mer wer­den von den Spen­den gebaut. In der Theo­rie sol­len zwi­schen Ent­gif­tung und Ent­wöh­nung drei Mona­te lie­gen. Hol­zes wol­len eine Behand­lung ohne Lücken. Es ist, was ihrem Sohn fehlte.

Und sie wol­len dar­über reden. Immer wie­der schrei­ben ihnen Eltern, die nie­man­den haben. Das eige­ne Kind dro­gen­ab­hän­gig, für vie­le Eltern fühlt sich das an, als hät­ten sie selbst versagt.

„Erhard, Erhard, komm ganz schnell“

In einem Video des WDR sieht man, wie Erhard vor eine Schul­klas­se steht. Schil­ler­gym­na­si­um. Dro­gen­prä­ven­ti­ons­tag. Er kne­tet die Hän­de, Jugend­li­che mit Mas­ke schau­en ihn an. Dann erzählt er, von Til­man, den Dro­gen, dem Tod. „Das wer­de ich nie ver­ges­sen, den Schrei mei­ner Frau: Erhard, Erhard, komm ganz schnell“, sagt er darin.

Frü­her pre­dig­te Erhard in der Kir­che, heu­te spricht im Klas­sen­zim­mer. Es ist auch sei­ne Therapie.

In zehn Schu­len hat Erhard schon gespro­chen, auch am Gym­na­si­um Pau­li­num, Til­m­ans ehe­ma­li­ger Schu­le. Manch­mal fra­gen die Neunt­kläss­ler, ob er sich Schuld­vor­wür­fe macht.

Die Fami­lie konn­te der Sucht nichts ent­ge­gen­set­zen, muss­te zuschau­en, wie sie ihren Sohn und Bru­der auf­fraß. Ande­ren davon zu erzäh­len, es macht sie von Zuschau­en­den zu Han­deln­den. Der Ver­such, ande­re vor dem glei­chen Schick­sal zu bewah­ren, er gibt Kraft.

Tobi­as hat sich nach Til­m­ans Tod im ers­ten Impuls an der Uni für Sozia­le Arbeit ein­ge­schrie­ben. Inzwi­schen ist er zu BWL gewech­selt. Von den Dro­gen ist er weg. Er kön­ne sei­nen Eltern nicht antun, noch einen Sohn zu ver­lie­ren, sagt er. Kürz­lich ist ein Freund gestor­ben, das habe vie­les auf­ge­wühlt. Aber lang­sam kann er die Trau­er zulassen.