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Die schreckliche Sperrung von Wolbeck?

Als die Stadt im September eine Straßensperrung ankündigte, wurde es emotional. Menschen empörten sich in Kommentarspalten. Erik Hlacer von der Reportageschule Reutlingen wollte sich das Chaos ansehen. Aber er fand etwas anderes.

von Erik Hlacer • Redaktion: Ralf Heimann • Lektorat: Maria Schubarth • Fotos: Rosa Tägtmeyer

Schulschluss an einem Nachmittag Mitte September. Es ist kurz vor vier. Die Jugendlichen strömen aus dem Haupteingang der Mathilde-Anneke-Gesamtschule, hin zu den Fahrradständern. Als eine der Letzten schlendert Mathilda mit ihrer Oma vom Schulgelände. Eigentlich kommt sie mit dem Bus. Doch seit ein paar Tagen ist das nicht möglich.

Am 12. September wird Wolbecker Straße in Höhe des Gasthauses Stapelskotten gesperrt. Oder besser: teilgesperrt. Die Busse fahren jetzt andere Wege, viele Haltestellen entfallen. Wer aus den Stadtteilen Angelmodde, Gremmendorf und Wolbeck im Südosten in die Stadt will, muss einen Umweg nehmen.

„Echt eine Katastrophe“? Oder alles doch gar nicht so schlimm? Die Bauarbeiten Mitte September an der Münsterstraße auf Höhe des Hofkamps.

Mathilda fährt seitdem morgens mit ihrem Vater zur Schule. „Wir brauchen mit dem Auto eine Stunde für den Weg“, sagt sie und schaut auf zu ihrer Oma. Die lächelt ein bisschen zynisch und schüttelt den Kopf.

In den vergangenen Tagen haben das viele getan. Auf Facebook kochte die Debatte schon hoch, als von der Sperrung noch nichts zu sehen war. „Kein Verständnis für diese Fehlplanung“ – „Echt eine Katastrophe.“ – „Da hat mal richtig einer mitgedacht… Wahrscheinlich so ein Sesselpupser im Homeoffice, der keine Ahnung hat, was auf den Straßen los ist“, steht in den Kommentaren unter einem Artikel der Westfälischen Nachrichten, in dem es um die Sperrung geht.

Aber noch mal ganz langsam: Was ist passiert? Und warum regen sich die Menschen so auf? Fangen wir an mit einer Chronologie:

4. September: Der für die Sperrung verantwortliche Landesbetrieb Straßenbau Nordrhein-Westfalen, kurz „Straßen.NRW“, teilt der Stadt Münster mit, dass die geplanten Sanierungsarbeiten an der Wolbecker Straße in einer Woche beginnen werden. Darüber hatte man im Juni schon gesprochen, allerdings ohne ein konkretes Datum zu nennen. Jetzt verweist der Straßenbetrieb auf die Dringlichkeit. „Es gab Spurrillen mit einer Tiefe von bis zu fünf Zentimetern“, schreibt die Behörde auf Anfrage. Außerdem seien schon Risse zu sehen gewesen. Mit anderen Worten: Die Straße ist auf dem 1,6 Kilometer langen Abschnitt, um den es hier geht, so beschädigt, dass sie so schnell wie möglich repariert werden muss.

11. September: Die Stadt Münster macht die Sperrung öffentlich. Ungewöhnlich dabei: Sie kritisiert die Pläne in einer Pressemitteilung, in der auch Ordnungsdezernent Wolfgang Heuer zu Wort kommt. Er sagt, es sei immer zu empfehlen, so etwas in den Ferien zu machen. Am späten Nachmittag sagt er in der Ratssitzung: „Wir haben bis zuletzt versucht, die Sperrung zu verhindern.“ Das sei auch der Grund dafür, dass die Öffentlichkeit von ihr so kurzfristig erfahre.

12. September: Die Stadt hat die Sperrung nicht verhindern können. Aber immerhin bleibt sie nun teilweise offen. Und: Die Arbeiten dauern nur zwei Wochen, nicht vier, wie ursprünglich geplant. Das Bauunternehmen schickt mehr Menschen auf die Baustelle. Das geht allerdings nur bis zu den Herbstferien. An diesem Morgen fahren die Busse und Pendler ein letztes Mal. Um 9 Uhr beginnen die Arbeiten.

Die Stadt weiß noch gar nicht Bescheid

Für die Menschen aus den südöstlichen Stadtteilen ist es ein kommunikatives Desaster. Sie erfahren teilweise schon früher von der Sperrung, weil das Busunternehmen Regionalverkehr Münsterland online darauf hinweist. Die erste Meldung ist vom 29. August. Zu diesem Zeitpunkt weiß die Stadt Münster noch gar nicht Bescheid.

Johannes Wagemann war einer von denen, die von der Sperrung erfuhren, weil jemand ihm einen Screenshot der RVM-Meldung weiterleitete. Wagemann wohnt in Wolbeck. Sein Sohn Jakob geht in die sechste Klasse der Mathilde-Anneke-Gesamtschule. Wagemann ist in der Elternpflegschaft. Er bekommt mit, was andere Eltern sagen. „Viele Schulkinder aus Wolbeck sind auf den Bus angewiesen, für sie ist die Sperrung echt blöd“, sagt er.

Grundsätzlich hat Wagemann für die Arbeiten durchaus Verständnis. Er habe zwar keine Schlaglöcher oder Ähnliches gesehen, aber Straßen gingen nun mal kaputt und müssten erneuert werden, sagt er. Ihn ärgert vor allem die Art und Weise der Kommunikation. „Wenn man das mit etwas Vorlauf weiß, kann man sich darauf einstellen. Aber wir wussten nichts“, sagt Wagemann. Dass die Stadt selbst von der Nachricht überrascht wurde, das überrascht wiederum ihn.

Die Kinder Jakob Wagemann, Maxim Wrobel und Lilli Krause stehen mit ihren Fahrrädern an einer roten Ampel.
„Krass. Ich fahre diese Strecke seit Jahren und hier war noch nie so viel los“: Maxim Wrobel, Lilli Krause und Jakob Wagemann (v.l.) warten auf dem Weg zur Schule an einer Ampel.

Wagemanns Sohn Jakob fährt nun zwei Wochen lang mit dem Rad zur Schule. Immerhin acht Kilometer pro Weg. „Gestern kam er nach Hause, und meinte, seine Beine sind ganz schön schlapp“, sagt Wagemann.

Ob ich ihn morgens auf dem Weg begleiten darf? Aber ja.

Die Lässigkeit von Zwölfjährigen

Mittwochmorgen, kurz nach sieben an der Münsterstraße. Der K&K-Supermarkt hat gerade geöffnet. Seine Lichter leuchten greller als der Mond am Wolbecker Morgenhimmel. Jakob Wagemann ist soeben angekommen. Die anderen warten schon.

Maxim Wrobel, weite Jeans, grüner Helm, fährt auf seinem Fahrrad hin und her. Er probiert Wheelies, fährt nur auf dem Hinterreifen. Aber es klappt noch nicht so, wie er es sich vorstellt.

Man begrüßt sich nicht. Vielleicht ist es die Uhrzeit, vielleicht auch die schüchterne Lässigkeit von Zwölfjährigen.

Dann geht es los. An einer Weggabelung schließt Lilli Krause sich an. Ihr Rucksacküberzug reflektiert im dämmernden Morgen. Am Alten Postweg muss die Gruppe warten. Sechs Autos fahren vorbei.

„Krass. Ich fahre diese Strecke seit Jahren und hier war noch nie so viel los“, sagt Lilli.

„Ja, wegen der Baustelle“, sagt Maxim.

Dann geht es weiter. Der Weg ist asphaltiert und angenehm zu befahren. Er führt die Schüler an einem Maisfeld entlang. Es riecht süßlich. An der rechten Seite fließt die Werse. Und Jakob erzählt von seinem Handballtraining, zu dem er zwei Mal die Woche geht. Abends hat er ein Spiel für die Kreisauswahl. Er fragt sich, wie seine Beine das Radfahren wegstecken. Am Mittwoch war schließlich schon Sportfest.

Nach einer halben Stunde fahren Jakob und Maxim ganz vorn. Gleich sind sie da. Aber vorher halten sie noch beim Bäcker. Ob die Beine schon brennen?

„Nö“, sagt Jakob.

Zwei Wochen lang während der Sperrung mit dem Rad fahren, das geht also schon – zumindest, solange das Wetter es zulässt. Andere kommen ohne den Bus nicht aus. Und was machen sie?

Drei Mädchen stehen mit dem Rücken zum Betrachtenden an einer Bushaltestelle.
„Na und, dann kommen wir halt mal zu spät“: Drei Schülerinnen der Mathilde-Anneke Gesamtschule warten auf den Bus nach Wolbeck. 

An der Bushaltestelle Hansa-Berufskolleg steht am Nachmittag eine Gruppe Mädchen von der Mathilde-Anneke-Gesamtschule. Sie nehmen weiter den Bus. Zurück kommen sie problemlos. Nur der Hinweg sei blöd während der Sperrung. Wenn der Bus zu spät komme, kämen auch sie zu spät, sagt eines der Mädchen.

„Na und, dann kommen wir halt mal zu spät“, sagt die andere. Dann steigen die drei in den Bus.

Ein paar Minuten später steht ein junger Mann mit weißem Hemd und grünem Sakko an der Haltestelle. Er braucht jetzt morgens eine halbe Stunde länger, aber das stört ihn nicht. „Das merke ich gar nicht. Ich lese eh im Bus“, sagt der Mann. Und das frühe Aufstehen? „Ich stehe nicht früher auf. Ich habe Gleitzeit.“

Die Menschen hier scheinen entspannter zu sein als die in den Facebook-Kommentarspalten. Dafür gibt es durchaus Erklärungen.

Angst entsteht in der Vorstellung

Die Neurowissenschaftlerin Maren Urner schreibt in ihrem Buch „Radikal emotional“, das im Frühjahr erschienen ist, schuld an unserer Empörung sei das Gehirn. In gewissen Momenten schalte es in den Angstmodus.

Zu solchen Momenten komme es zum Beispiel, wenn sich im Alltag etwas verändert. Als Beispiel nennt Maren Urner das Gebäudeenergiegesetz, das als Heizungsgesetz bekannt wurde. Menschen hätten die diffuse Vorstellung, dass Politiker „zeitnah persönlich im heimischen Keller vorbeischauen würden, um uns dazu zu verdonnern, ein mittleres Vermögen für eine Aufrüstung der Heizanlage auszugeben“, schreibt Urner. Die Angst entsteht in der Vorstellung.

So scheint es auch an der Wolbecker Straße zu sein. Es gab eine Veränderung. Das neue Szenario erschien wie eine Bedrohung. Und wir seien ja alle sehr auf Sicherheit bedacht, schreibt Maren Urner. Aber wie können da Wutkommentare helfen?

Sich mit seiner Meinung klar zu positionieren, gebe den Menschen „eine vermeintliche Sicherheit“, schreibt Urner. Diese Sicherheit verfestigt das Gefühl, auf einer Seite zu stehen, einem Lager anzugehören, dafür zu sein, oder eben dagegen. Die unangenehme Unsicherheit verschwindet.

Im Falle einer gesperrten Straße ist es sehr leicht, dagegen zu sein. Die negativen Auswirkungen, das frühe Aufstehen, die Umwege, der nervende Stau, all das wiegt viel schwerer als der spätere Nutzen durch die erneuerte Fahrbahn. Es ist naheliegend, sich über den Plan zu echauffieren, statt sich für zwei Wochen aufs Fahrrad zu setzen oder einen Umweg zu fahren.

Die Wolbecker Straße ist längst wieder freigegeben. Nur eine Kreuzung im Osten wird in den Herbstferien weiter saniert. Auch danach wird der Umbau weitergehen. Das Land plant eine neue Busspur und einen kombinierten Geh- und Radweg. Bald stellt sich wieder die Frage, ob man die Wolbecker Straße sperrt. Und was kann man besser machen? Wenn die Leute davon rechtzeitig erfahren, dürfte eigentlich nicht viel schiefgehen.

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