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Geflüchtete in Münster | Die LVM und die Nazis | Leevje
Guten Tag,
es ist die dritte Woche des Kriegs in der Ukraine und die Schreckensmeldungen reißen nicht ab. Sobald man das Radio oder den Fernseher anschaltet, die Zeitung aufschlägt oder kurz aufs Handy schaut, ständig konsumieren wir beunruhigende Nachrichten. Dafür hat sich inzwischen ein Name gefunden: Doomscrolling. Falls Sie das Wort gerade nicht parat haben, Doom bedeutet „Untergang”.
Das Ganze schlägt vielen Menschen aufs Gemüt, denn die Flut von Negativnachrichten macht hilflos und ohnmächtig. Und das Doomscrolling vernebelt unsere Sicht auf die Hoffnungsschimmer, die trotz alledem immer wieder aufleuchten.
Aus Münster kommen Nachrichten, die zuversichtlich stimmen. Am Mittwoch stimmte etwa der Hauptausschuss des Rats einstimmig einer Beschlussvorlage zum Krieg in der Ukraine zu, die den geflüchteten Menschen aus der Ukraine Hilfe und Schutz zusichert. Die Verwaltung soll unbürokratisch und schnell Maßnahmen ergreifen für die Versorgung und Unterbringung der Geflüchteten aus der Ukraine. Die Stadt soll außerdem den Bund und das Land Nordrhein-Westfalen bei der geregelten Verteilung von Geflüchteten unterstützen, und sie will ihrer polnischen Partnerstadt Lublin unter die Arme greifen.
Die Beschlussvorlage hält aber noch mehr bereit als diese Maßnahmen – ein wenig liest sie sich wie ein Lagebericht. Die Hilfsbereitschaft in Münster sei demnach sehr groß. So groß sogar, dass die Lagerhallen mittlerweile überfüllt seien mit Kleidung, Spielsachen und Geschirr. Sachspenden könne die Stadt nicht mehr gebrauchen. Besser sei es, Geld zu spenden, vor allem an Lublin. Wie viele Städte in Polen nimmt Lublin gerade viele Menschen aus der Ukraine auf. Bis nach Ljuboml, die nächstgelegene Stadt in der Ukraine, braucht es mit dem Auto keine zwei Stunden.
Überrascht habe die Stadt laut Beschlussvorlage eine bisher unbekannte Art des Helfens: „Neu für Münster wie wahrscheinlich auch für viele andere Städte ist, dass ohne vorherige Information der Stadt Geflüchtete aus der Ukraine abgeholt und nach Münster gebracht werden“, heißt es dort. Davon rate die Stadt weiterhin ab. Die Fahrten seien zu gefährlich und brächten auch ein logistisches Problem mit sich. Denn die Stadt erfährt erst recht spät davon, wenn Geflüchtete auf eigene Faust nach Münster gebracht werden. Das macht die Unterbringung schwierig, weil die Stadt dann kurzfristig handeln muss.
Die Verteilung der Geflüchteten ist klar geregelt: Die Menschen, die hier ankommen, werden zunächst in der Oxford-Kaserne untergebracht und registriert, danach suchen die Mitarbeiter:innen des Sozialamts Unterkünfte, in denen die Menschen länger bleiben können. Zum Teil nutzt die Stadt dafür Wohnungen, die Privatleute bereitstellen. 73 Ukrainer:innen sind privat untergekommen, das sind rund 17 Prozent aller aufgenommenen Geflüchteten.
Aufnahmegrenze schon erreicht?
Das war der Stand am Mittwoch. 24 Stunden später meldete die Stadt, dass die Aufnahmekapazitäten vorläufig ausgeschöpft seien. Sie habe zunächst 500 Plätze zur Verfügung stellen können – dass das wohl nicht ausreicht, steht auch schon in der Beschlussvorlage: Es sei absehbar, heißt es dort, dass in kürzester Zeit die Unterbringungsmöglichkeiten an ihre Grenzen stoßen.
Heute Nachmittag teilte die Stadt mit, dass eine kurzfristige Lösung gefunden worden ist: Mehrere Britenhäuser am Hohen Heckenweg, Muckermannweg und Angelsachsenweg sollen für mehrere hundert Menschen zur Verfügung gestellt werden. Dazu komme die Blücher-Kaserne, in der rund 600 Menschen Platz hätten. Dort könnten die Menschen laut Stadt in wenigen Wochen einziehen. Ab Montag sei außerdem die Dreifachsporthalle in Hiltrup einsatzbereit.
Mehr als 610 Menschen hätte Münster in städtischen Einrichtungen aufgenommen, die Zahl der privat untergekommenen Geflüchteten dürfte aber deutlich darüber liegen. Das zeige die hohe Zahl von Leistungsanträgen. Es sind also schon viele Geflüchtete in Münster – es dürften aber noch mehr werden: Krisenstabsleiter Wolfgang Heuer spricht in einer Pressemitteilung von einhundert Menschen, die Münster jeden Tag aus der Ukraine erwarte. Das Geflüchtetenhilfswerk der Vereinten Nationen schätzt derweil, dass insgesamt vier Millionen Menschen die Ukraine durch den Krieg verlassen könnten. Damit wären 10 Prozent aller Einwohner:innen des Landes auf der Flucht.
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Die dunkle Geschichte der LVM
Der Historiker Johannes Bähr hat Ende 2021 eine 160-seitige Studie veröffentlicht, die das dunkelste Kapitel in der Firmengeschichte der LVM beleuchtet. Der Titel: Bauernführer, Direktoren und Vertrauensmänner. Die LVM Versicherung im Dritten Reich. Am Mittwochabend war der Professor von der Frankfurter Goethe-Universität bei der LVM zu Gast, um per Videokonferenz die wichtigsten Ergebnisse seiner Studie vorzustellen.
Nun könnte man sagen: Mehr als siebzig Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg ist die LVM damit aber spät dran. Das ist nicht falsch, aber das zu sagen, wäre unfair. Denn noch immer blenden viele Unternehmen in Deutschland die Jahre 1933 bis 1945 in ihrer Firmengeschichte aus. In Münster hat bereits eine Reihe von Unternehmen ihre Nazi-Vergangenheit wissenschaftlich aufarbeiten lassen, dazu zählen etwa die Sparkasse, die Stadtverwaltung, der LWL, die Bezirksregierung sowie die BASF als Teil der IG Farben und die Hiltruper Röhrenwerke als Teil von Hoesch.
Bevor wir zu den Ergebnissen kommen, spulen wir noch etwas weiter zurück in die Vergangenheit. 1896 gründeten der Westfälische Bauernverein und die Landwirtschaftskammer Westfalen einen Versicherungsverein, aus dem die spätere LVM entstehen sollte. Beide Organisationen waren Träger der LVM, nur ihre Mitglieder konnten also Versicherungsnehmer werden. Viele Landwirte – ab jetzt bleibe ich bei der männlichen Form – beschäftigten damals Fragen zur Haftpflicht. Das Risiko für einen Schadensfall war Ende des 19. Jahrhunderts in der Landwirtschaft größer als in der Industrie. Und die Kosten, die daraus entstanden, waren zum Teil so hoch, dass einige Bauern ihre Höfe aufgeben mussten.
In ihren Anfangsjahren war die LVM so katholisch geprägt wie das Münsterland, politisch standen ihre Mitglieder bis 1933 der Zentrumspartei nahe. Vereinzelt fanden sich unter ihnen auch Nationalsozialisten, sie gehörten aber zur Minderheit. Das war eine Ausnahme in dieser Zeit, denn von keiner anderen Berufsgruppe erfuhren die Nazis so viel Zuspruch wie von den Landwirten: Sie fühlten sich ab den 1920er Jahren von ihren Interessensvertretungen in der Weimarer Republik zunehmend im Stich gelassen, weil sie unter der Wirtschaftskrise litten. Vor allem in den protestantischen Agrargebieten Ost- und Norddeutschlands war die NSDAP erfolgreich; sie holte bei den Reichstagswahlen am 31. Juli 1933 beispielsweise die absolute Mehrheit in Schleswig-Holstein.
Und auch die Nazis liebten die Bauern: Der Ackermann war neben dem Krieger die Lieblingsfigur der NS-Propaganda. Das Bauerntum sollte als „Hauptquell des deutschen Volkes“ fest verwurzelt in Grund und Boden stehen – im Gegensatz zum heimatlosen Proletariat der Großstädte. Dieser Kitsch genügte offenbar, um Landwirte für die rassistische und antisemitische Blut-und-Boden-Ideologie zu gewinnen. Wie die Ironie der Geschichte es aber will, waren es ausgerechnet die Landwirte, die schwer unter der Wirtschaftslenkung und Agrargesetzgebung der Nazis litten. Das versprochene Zurück in den Agrarstaat blieb aus.
Rapide Gleichschaltung
Als Hitler im Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt wurde, begann die Gleichschaltung der LVM. Die Träger der Versicherung, der Westfälische Bauernverein und die Landwirtschaftskammer, wurden wie alle anderen landwirtschaftlichen Vereine des Deutschen Reiches aufgelöst und im Reichsnährstand vereinigt. Der neue Träger war nun die öffentlich-rechtliche Landesbauernschaft des Reichsnährstandes, allerdings blieb die LVM privatwirtschaftlich tätig.
Mit dem neuen Träger wurden der Aufsichtsrat und der Vorstand der LVM mit Nazis besetzt. Interessant dabei: Niemand rebellierte gegen die Gleichschaltung, im Gegenteil. Die Mitglieder der Gremien traten freiwillig zurück und machten ihre Plätze frei für die Nazis. Diese Zusammenarbeit von Konservativen mit Nationalsozialisten war in dieser Zeit keine Seltenheit. Schon in den letzten Jahren der Weimarer Republik stieg die Bereitschaft in den konservativen Bauernvereinen, mit den Nationalsozialisten zu kooperieren.
Nur zwei Mitglieder der LVM-Führungsspitze blieben über 1933 hinaus im Amt: der Direktor Hermann Brauckmann und der Geschäftsführer Heinrich Jacobi. Beide hatten kein NSDAP-Parteibuch – aber man konnte nicht auf sie verzichten, man brauchte ihre Expertise. Damit war die Chefetage nach der Gleichschaltung gespalten in hauptamtliche Mitglieder ohne Parteimitgliedschaft, die das Geschäft der LVM am Laufen hielten, und in laut Studie „aktive, ideologisch überzeugte Nationalsozialisten“, die keine Ahnung vom Versicherungswesen hatten.
Auch in der Reihe der Vertrauensmänner wimmelte es nur so von NSDAP-Mitgliedern: 35 bis 38 Prozent von ihnen gehörten der Partei an. Die Vertrauensmänner lebten meist auf dem Land, wo sie als ehrenamtliche Ansprechpartner für die Kunden der LVM arbeiteten. Im Haupterwerb hatten sie andere Berufe wie Landwirt, Vertreter, Lehrer oder Tierarzt. In den Dörfern waren sie hoch angesehen und deshalb interessante Repräsentanten für die LVM. Ihr Amt verloren sie nie aus politischen Gründen, sondern, wenn überhaupt, wegen Streitsucht, Alkoholismus oder anderen Fehlverhaltens.
Braune Unkultur im Betrieb
Über die politische Gesinnung der übrigen LVM-Mitarbeiter:innen lässt sich nur spekulieren. Bei einem Luftangriff der Alliierten auf Münster sollen die Personalakten aus der NS-Zeit zerstört worden sein. Das hört sich erst einmal nach einer Ausrede an. Es ist aber plausibel. Tatsächlich zerstörte ein Bombardement das damalige Verwaltungsgebäude der LVM an der Südstraße am 12. September 1944 fast vollständig. 144 Menschen kamen bei dem Angriff ums Leben, darunter eine junge LVM-Mitarbeiterin. Es ist daher nicht unwahrscheinlich, dass auch die Personalakten vernichtet wurden.
Vor dem Krieg pflegte die LVM eine nationalsozialistische Unternehmenskultur. Ab 1936 war per Betriebsverordnung jede:r Mitarbeiter:in verpflichtet, sich die NS-Ideologie einzuverleiben. Im ersten Absatz heißt es sogar: „Wer gegen die Grundsätze des Nationalsozialismus verstößt und sie bekämpft, ist ein Volksschädling.“ Das war eine deutlich drastischere Formulierung als in anderen Betriebsverordnungen seinerzeit.
Im Betrieb förderte der Vorstand aktiv die braune Unkultur: Die LVM organisierte Betriebsappelle, hisste die Hakenkreuzflagge, stärkte den Korpsgeist mit einer Kaffeeküche, mit Betriebsfesten, Ausflügen und Sportgemeinschaften, stattete die Betriebsbücherei mit NS-Literatur aus und schenkte ab 1938 allen Angestellten zum zehnjährigen Dienstjubiläum eine Reise zur Freizeitorganisation Kraft durch Freude. Mehrere Jahre erhielt die LVM das „Gaudiplom für hervorragende Leistungen“ im „Leistungskampf der Betriebe“; die Auszeichnung „nationalsozialistischer Musterbetrieb“ blieb ihr jedoch verwehrt. Trotzdem ist das Fazit von Historiker Bähr eindeutig: „Insgesamt gehörte die LVM zu den Unternehmen, die sich durch eine besondere Nähe zum NS-Staat auszeichneten.“
Die Regimetreue zeigt sich allerdings in einem besonders brisanten Punkt: Mehrere Kreisbauernführer, die im Vorstand und Aufsichtsrat der LVM saßen, traten der SS bei, darunter auch der Vorstandsvorsitzende. Sie folgten damit zwar einem Aufruf des Reichsbauernführers Walther Darré, dazu gezwungen hat sie aber niemand. Einige dieser SS-Bauernführer veranstalteten Blut-und-Boden-Seminare im Betrieb, um die Bindung von Bauerntum und SS zu festigen.
Hat sich die LVM schuldig gemacht?
Damit beteiligten sich führende Mitarbeiter der LVM an der nationalsozialistischen Hetze. Von der Ausraubung der Jüd:innen oder der Arisierung von jüdischem Eigentum profitierte die LVM allerdings nicht. Mehr noch, sie war nicht einmal daran beteiligt. Das war für Johannes Bähr der erstaunlichste Befund seiner Studie – der sich aber leicht erklären lässt: Die LVM hatte schlicht und ergreifend keine jüdischen Kunden.
Das lag am damals gängigen, christlich fundierten Antisemitismus, der auch im Westfälischen Bauernverein verbreitet war. Er verstand sich als rein christlicher Bauernverein, Juden durften keine Mitglieder werden. Hinweise auf jüdische LVM-Angestellte gibt es nicht, denn auch in der Personalpolitik hat sich dieser christliche Antisemitismus niedergeschlagen. Wäre das alles nicht so gewesen, hätte die LVM ihre Chance ergriffen, auch aus der Judenverfolgung Profit zu schlagen, vermutet Bähr.
Darüber hinaus war die LVM auch nicht in den von Nazi-Deutschland annektierten Gebieten tätig. Zwar expandierte sie unter Hitler in die Provinzen Rheinland, Hessen-Nassau und Hannover sowie ins Land Lippe, allerdings blieb sie ein regionaler Versicherer. Auch der Zwangsarbeit hat sich die LVM nicht schuldig gemacht; das wäre im Versicherungswesen kaum möglich gewesen. Wohl aber gibt es Belege von Zwangsarbeit auf den Höfen einiger Vorstände und Aufsichtsräte.
Wie es nach dem Krieg weiterging
Mit dem Krieg änderte sich für die LVM alles. Die meisten männlichen Angestellte wurden eingezogen, einige weibliche Mitarbeiterinnen leisteten Kriegshilfsdienst. Auch die Vorsitzenden von Aufsichtsrat und Vorstand wurden in den Krieg eingezogen. Übrig blieb Geschäftsführer Heinrich Jacobi, der kein Nazi war, aber eben unverzichtbar. „Politisch gesehen endete die Geschichte der LVM im Dritten Reich ganz anders, als sie begonnen hatte. Gaben anfangs Kreisbauernführer mit SS-Rängen den Ton an, so war es zuletzt ein Geschäftsführer, der nicht der NSDAP angehörte“, schreibt Bähr über dieses Kapitel der Unternehmensgeschichte.
Nach dem Krieg warf die britische Militärregierung belastetes Personal aus der Unternehmensführung. Keiner dieser Männer kehrte in den Aufsichtsrat oder Vorstand der LVM zurück. Das war einfach nicht lukrativ genug. Die Posten in beiden Gremien waren zum Großteil ehrenamtliche Nebentätigkeiten. Die Nazis, die dort Platz genommen hatten, mussten ihren Haupterwerb, die Landwirtschaft, also weiterführen und zogen sich nach dem Krieg einfach auf ihre Höfe zurück. Der Abschied von der LVM dürfte ihnen nicht schwer gefallen sein.
Späte Aufarbeitung
Schwerer war dagegen die Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels Firmengeschichte. 1946 hätte die LVM ihr fünfzigjähriges Bestehen feiern sollen, doch das Jubiläum fiel aus. In einem Schreiben an die Vertrauensmänner sei laut Geschäftsführung „aus Papiermangel kein Raum“ gewesen, um an die Gründung der LVM zu erinnern.
Fünf Jahre später sieht das anders aus. Die LVM deutet den Verlauf der Geschichte um und rechnet sich den Opfern des Nationalsozialismus zu. Hierzu zitiert Johannes Bähr aus der Festschrift zum 55-jährigen Jubiläum folgenden Satz: „Die politische Entwicklung nach 1933 ließ Einflüsse wirksam werden, die notgedrungen zu einer Schwächung des Gedankens der bäuerlichen Selbsthilfe führen mussten.“ Über die Nähe zum NS-Regime kein Wort.
Das ist heute, siebzig Jahre später, anders. 2021 veröffentlichte die LVM nicht nur die Studie über ihre braune Vergangenheit, sondern auch eine 180-seitige Festschrift zu ihrem 125-jährigen Bestehen. Darin ein ganzes Kapitel zum Nationalsozialismus – ohne Beschönigung, Geschichtsglättung oder Auslassungen.
+++ Der Krieg in der Ukraine hat auch Auswirkungen auf die Wirtschaft. Am stärksten macht sich das an der Zapfsäule bemerkbar, die Spritpreise liegen in Münster inzwischen bei über 2 Euro pro Liter. Da kann Volltanken ein teurer Spaß werden. Die Reaktionen auf den Preisanstieg sind gemischt. Geärgert hat sich unter anderem der saarländische Ministerpräsident Tobias Hans von der CDU, vielleicht haben Sie es ja in den sozialen Medien mitbekommen.
Aber wie berechtigt ist der Frust? Das hat Gernot Sieg untersucht, Direktor des Instituts für Verkehrswissenschaft an der Uni Münster. Er schreibt in einer Kurzstudie, dass Autofahrer:innen auch bei Benzinpreisen um die 2 Euro pro Liter noch einen geringeren Anteil ihres Einkommens fürs Tanken ausgeben als vor zehn Jahren. 2020 war sogar ein besonders günstiges Jahr für Autofahrer:innen: Damals zahlten sie, gemessen am durchschnittlichen Nettolohn, die niedrigsten Preise seit 1997. Erst ab einem Preis von 2,40 Euro pro Liter liege das Preisniveau wieder auf demselben Level wie 2012. Fazit: „Die aktuellen Preissteigerungen für Treibstoff sind sicher schmerzhaft, aber als Argument gegen einen Ölimportstopp aus Russland taugen sie wenig.“
+++ Kein bisschen Frieden bei der letzten Kundgebung: Am Mittwoch hatten sowohl die Ratsparteien CDU, SPD, FDP, Grüne, Internationale Fraktion und Volt als auch die münstersche Friedensbewegung und Die Linke eine Mahnwache gegen Putins Angriffskrieg angemeldet. Die Kundgebungen sollten kurz nacheinander anfangen. Warum nicht einfach eine gemeinsame Demo angemeldet wurde, hat politische Gründe: Die Mehrheit der Ratsparteien sehen in der Nato die Lösung, Die Linke einen Teil des Problems. Aus diesem Grund zeichnete Die Linke auch eine Resolution nicht mit, die der Hauptausschuss vor den Kundgebungen verabschiedete.
Danach spielten sich „unschöne Szenen” ab, wie die Westfälische Nachrichten titelten, man könnte aber auch sagen, dass es Zoff zwischen zwei Männern gab. Jörg Berens (FPD) und Ulrich Thoden (Die Linke) begannen kurz nacheinander zu reden, allerdings auf verschiedenen Kundgebungen: Der eine (Berens) vor dem Stadtweinhaus, der andere (Thoden) direkt vor dem Rathaus. Thoden fiel Berens ins Wort, Berens ließ Thoden ausreden und im Nachgang entschuldigte sich Thoden bei Berens. Dazu heimste sich der Linke Pfiffe und Buhrufe ein, mehr noch: „Thoden gibt an, als ‘dreckiges Kommunistenschwein’ beschimpft und von einem anderen Mann sogar bespuckt worden zu sein”, schreiben die WN. Thoden erstattete Anzeige wegen Beleidigung.
+++ Das Stadt hat die Verkehrsversuche ausgewertet. Das Ergebnis steht in einem 190 Seiten langen Bericht. Am Dienstag werden wir uns damit ausführlich beschäftigen. Wenn Sie schon vorher reinschauen möchten, das Dokument finden Sie hier.
+++ Münsters Klimabilanz hat sich in den vergangenen drei Jahrzehnten stark verbessert. Laut der Energie- und Treibhausbilanz ist der CO2-Ausstoß in der Stadt zwischen 1990 und 2020 um 31 Prozent gesunken. Pro Kopf liege der Rückgang sogar bei 43 Prozent. Die unterschiedlichen Werte kommen zustande, weil die Stadt gewachsen ist. Einerseits habe der Klimaschutz deutliche Fortschritte gemacht, schreibt die Stadt. Das erklärt den hohen Rückgang bei Einzelnen. Andererseits sei die Zahl der Menschen in Münster in 30 Jahren um 14 Prozent gewachsen. Daraus ergibt sich das geringere Gesamtergebnis. Zwei weitere Effekte: Menschen leben heute in größeren Wohnungen als vor 30 Jahren, die Wohnfläche ist um knapp 50 Prozent gewachsen. Und es leben im Schnitt weniger Personen in einer Wohnung. Im Jahr 1990 waren es noch 2,3, heute sind es nur noch etwa 1,9 Personen.
+++ Im vergangenen Jahr sind in Münster überdurchschnittlich viele Wohnungen fertig geworden. Laut Stadt waren es genau 1.518, das sind 34 mehr als im Durchschnitt der vergangenen 20 Jahre. Gleichzeitig wächst die Zahl der Neubauten, die genehmigt, aber noch nicht fertig sind. Das sind mittlerweile 4.757, so viele wie noch nie. Allein im vergangenen Jahr vergab die Stadt 3.324 Baugenehmigungen. Und wie geht es weiter? 1.366 Wohnungen seien fast fertig, schreibt die Stadt. Auf einer Seite mit dem schönen Namen Statistikdienststelle finden Sie dazu weitere Zahlen, Daten und Fakten.
+++ Die Stadt baut auch sonst viel. Im Moment ist das Amt für Immobilienmanagement mit etwa hundert Bauprojekten beschäftigt, meldet die Stadt. Allein in diesem Jahr investiert die Stadt 116 Millionen Euro in neue Gebäude. Um Häuser instand zu halten, gibt sie etwa 19 Millionen Euro aus. Und wahrscheinlich wird der Betrag noch steigen. Die Stadt rechnet mit etwa sechs Prozent höheren Kosten, unter anderem, weil das Material knapp ist. In den vergangenen neun Jahren wurden nach den Zahlen der Stadt etwa die Hälfte der Bauprojekte zu den geplanten Kosten fertig. Bei einem Viertel lagen die Mehrkosten bei fünf Prozent, bei einem Fünftel zwischen fünf und 15 Prozent, bei knapp sechs Prozent darüber.
+++ Heute meldet die Stadt 771 Neuinfektionen mit dem Coronavirus, die Wocheninzidenz liegt bei 1.358. Zurzeit sind 6.816 Münsteraner:innen infiziert, 57 Covid-Patient:innen liegen im Krankenhaus, sechs von ihnen auf der Intensivstation und drei Personen werden beatmet. Leider sind zwei Patienten seit Dienstag verstorben: Ein 81-jähriger Mann ist mit Covid-19 und ein 88-jähriger an Covid-19 gestorben. Damit erhöht sich die Zahl der Todesfälle seit Pandemiebeginn in Münster auf 183.
+++ Mitte der Woche haben sich Bund und Länder auf weitere Lockerungen ab dem 20. März geeinigt. Darüber berichtete der WDR. Demnach soll nur noch ein Basisschutz gelten. Dazu gehört zwar das Masketragen im ÖPNV oder in Pflegeheimen, aber in Geschäften und Supermärkten soll die Maske nicht mehr Pflicht sein. Nordrhein-Westfalen müsste einige Änderungen allerdings noch in die eigene Corona-Schutzverordnung übernehmen, sie ist derzeit noch weitreichender als der beschlossene Basisschutz.
+++ Was Lockerungen angeht, sind unsere Nachbar:innen in den Niederlanden einen Schritt weiter. Dort gelten seit dem 25. Februar fast keine Maßnahmen mehr – trotz hoher Inzidenz. Wie die NRZ berichtet, sind die Niederlande außerdem seit Beginn der Woche kein Hochrisikogebiet mehr. Wenn Sie also einen Trip nach Enschede planen, brauchen Sie nur noch einen 3G-Nachweis für die Ein- und Ausreise. Für Ungeimpfte entfällt außerdem die Quarantänepflicht in Deutschland.
Manchmal kommen die guten Tipps auch von außen: Kürzlich rief mich meine Cousine aus Koblenz an, die mich darum bat, für ihre kleine Tochter ein paar Haarspangen bei Leevje zu kaufen und bei nächster Gelegenheit mit in die Heimat zu bringen. Bis dato war mir Leevje kein Begriff, umso gespannter war ich darauf, was das für ein Geschäft sein soll, das meine Cousine zufällig auf Instagram entdeckt hatte. Gefunden habe ich Leevje schließlich an der Rothenburg: ein entzückender kleiner Laden, der Kindermode in schlichten Farben anbietet – und damit einen wohltuenden Kontrapunkt setzt zur sonst knallbunten Kindergarderobe. Neben Pullis, Kleidern und Leggings bietet Leevje auch allerlei Schnickschnack für die Kleinsten an: Puzzles und Memories aus Holz, Stickers mit Waldtieren und Dinosauriern oder auch Kindergeschirr mit Piraten-, Meerjungfrauen- oder Indianer-Aufdruck – kurzum ein reichhaltiger Fundus für alle Eltern, Tanten und Onkel, die ein Präsent für den nächsten Kindergeburtstag suchen.
Hier finden Sie alle unsere Empfehlungen. Sollte Ihnen ein Tipp besonders gut gefallen, teilen Sie ihn gerne!
+++ Verschwörungstheorien, Fake News und Propaganda gefährden die Demokratie. Sie fördern Hass und spalten die Gesellschaft. Aber wie genau wirkt Desinformation? Was weiß die Forschung darüber? Das erklärt Tim Schatto-Eckrodt vom Institut für Kommunikationswissenschaft der Uni Münster (und aus dem RUMS-Team) am Montag (14. März) um 17.30 Uhr in einem Vortrag im Lesesaal der Stadtbücherei. Der Eintritt ist frei, aber Sie müssten sich anmelden. Telefonisch unter der Nummer 0251 492 42 42 oder per E-Mail.
+++ Zum Vormerken: Der Eisenman-Brunnen an der Kreuzschanze ist wieder hergerichtet. Das Wasser wird erst Ende April eingelassen. Das erste Brunnentreffen in diesem Jahr findet schon am Donnerstag (17. März) statt. Dann wird eine Lichtinstallation für den Frieden zu sehen sein. Wer kommen mag, ist herzlich eingeladen, schreiben die Veranstalter:innen, „gern mit Kerzen und warmer Kleidung“.
+++ Der ukrainische Dichter Serhij Zhadan schrieb: “Der Wert eines Gedichts steigt im Winter. / Vor allem in einem harten Winter. / Vor allem in einer leisen Sprache. / Vor allem in unberechenbaren / Zeiten.” Unberechenbar fühlen sich die Zeiten im Moment für uns alle an. Insbesondere sind sie es für die Menschen in der Ukraine und auch für die Menschen in Russland, die weder Zugang zu verlässlichen Informationen haben noch eine Möglichkeit, sich gefahrlos solidarisch zu zeigen. Das Stadtensemble ruft deshalb dazu auf, sich durch Lyrik mit ihnen zu solidarisieren, unter dem Motto: (Ge)Dicht an die Ukraine.
Auf dieser Homepage können Sie sich für eine 1:1-Benefizlesung ukrainischer und russischer Lyrik anmelden, die per Telefon, bei einem Spaziergang oder bei Ihnen zuhause stattfindet, ganz wie Sie möchten. Sie bezahlen, was Sie möchten; der Betrag geht vollständig an die Ukraine-Nothilfe der UNO. Besonders gut gefällt uns der angegebene Verwendungszweck: Nie wieder Krieg.
+++ Am vergangenen Dienstag haben wir Ihnen anlässlich des Internationalen Frauentags geschrieben. Dabei haben wir auch die Soziologin Karin Gottschall zitiert, die erklärt, warum sich mit mehr männlichen Arbeitnehmern in einem Berufsfeld auch die Arbeitsbedingungen eher verbessern: Männer organisieren sich häufiger gewerkschaftlich. Ein beeindruckendes Gegenbeispiel, das Frauen im Widerstand zeigt, gibt es am Sonntag um 17 Uhr im Cinema zu sehen: den Film Grev. Das türkische Wort Grev bedeutet auf Deutsch Streik. Der Film von Regisseurin Metin Yegin wird am Sonntag in seiner Originalsprache gezeigt, mit deutschen Untertiteln. Er handelt von Seidenarbeiterinnen, die sich 1910 im osmanischen Bursa gegen ihre schlechten Arbeitsbedingungen zur Wehr setzen. Die einmalige Vorstellung findet in Kooperation mit dem Odak Kulturzentrum und der Organisation Feministischer Streik Münster statt. Den Trailer können Sie sich hier anschauen, Karten bekommen Sie ebenfalls online oder an der Kinokasse. Im Anschluss an die Vorstellung können Sie sich noch mit der anwesenden Regisseurin Metin Yegin unterhalten.
+++ Falls Sie am Wochenende noch eine Friedenskundgebung besuchen wollen: Am Samstag findet ab 11.30 Uhr eine Kundgebung von der Friedenskooperative Münster vor dem Rathaus statt.
Am Dienstag schreibt Ihnen Ralf Heimann. Genießen Sie das sonnige Wochenende und passen Sie auf sich auf.
Herzliche Grüße
Sebastian Fobbe
Mitarbeit: Eva Strehlke, Ralf Heimann
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PS
Sie alle kennen bestimmt diesen einen vielzitierten Satz: „Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit.” Dass sich dahinter keine hohle Phrase verbirgt, lässt sich gerade in Russland nur allzu gut beobachten. Seit Beginn der Invasion in die Ukraine ist es dort Journalist:innen verboten, das Wort Krieg zu benutzen. Wer das doch tut, muss mit einer Haftstrafe von bis zu 15 Jahren rechnen. Das alles macht es für Journalist:innen fast unmöglich, frei und unabhängig aus Russland zu berichten. Auch der Fernsehsender Doschd, der als eines der wenigen freien russischen Medien gilt, ist von der Zensur betroffen und inzwischen sogar gesperrt worden. Über all das hat Greta Spieker vom münsterschen Magazin Perspective Daily mit der Doschd-Journalistin Anna Fimina gesprochen. Was sie zu berichten hat, können Sie hier nachlesen. Und wenn Sie noch mehr über die Arbeit von Doschd erfahren wollen, können Sie in der ARD Mediathek vorbeischauen. Dort findet sich die Dokumentation „F@ck this Job – Abenteuer im russischen Journalismus”.
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