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Blickpunkt Handel | Kommt die Pleitewelle? | Freiraum Secondhand
Guten Tag,
am Montag meldete das Presseamt, dass 30.000 Menschen inzwischen ihre zweite Impfung erhalten haben und damit vollständig immun gegen die Covid-Erkrankung sind. Je mehr es werden, desto drängender wird die Frage, ob zumindest diese Menschen nicht zu einem Leben ohne größere Beschränkungen zurückkehren können. Dazu gibt es nun wieder einmal mindestens zwei Meinungen.
Wenn man mit Solidarität argumentiert, könnte man sagen, wie mein Kollege Andrej Reisin es bei Twitter tut: Es ist „ein Unterschied, ob es gar keine Party gibt oder nur du nicht eingeladen bist.“ Junge Menschen schränken sich seit Monaten enorm ein, um ältere zu schützen, für die die Krankheit ein viel größeres Risiko darstellt. Und die Belohnung soll jetzt sein, dass sie weiter zu Hause sitzen, während die Geimpften wieder feiern? Das klingt ungerecht.
Rechtlich sieht das alles etwas anders aus. Es gibt schlicht keinen Grund mehr, die Grundrechte von geimpften Menschen einzuschränken – egal, wie ungerecht das erscheinen mag. Eine Regelung ist allerdings noch nicht gefunden. Die Ministerpräsidenten, Ministerpräsidentinnen und die Bundeskanzlerin konnten sich am Montag wieder mal nicht einigen (immerhin eine Konstante in dieser unsteten Zeit).
Es geht dabei nicht nur um Gerechtigkeit, sondern auch um wirtschaftliche Fragen. Wenn geimpfte Menschen wieder in Restaurants oder Kneipen sitzen dürfen, wäre das für die Gastronomie immerhin etwas. Auch dem Handel würde es helfen. Und damit wollen wir uns in dieser Woche etwas intensiver beschäftigen. Keerthana Kuperan, Eva Strehlke und ich haben dazu einige Kauf- und Fachleute befragt. Wir haben uns Zahlen angesehen, und wir haben festgestellt, dass sich ein sehr differenziertes Bild ergibt. Den einen Läden geht es schlecht wie noch nie, die anderen machen das Geschäft ihres Lebens.
Am Freitagabend werden wir mit einigen der Menschen, die hier im Text vorkommen, in unserer Veranstaltungsreihe „Wir müssen reden“ darüber sprechen – unter dem Link finden Sie die Einwahldaten für Zoom und alle weitere Informationen. Sie können dabei sein und sich beteiligen. Vorab aber stellen wir hier die Frage: Wie geht es dem Handel denn eigentlich?
Rettungsnetz Stammkundschaft
Wir stehen an der Hörsterstraße vor dem Lotharinger Kloster und biegen ein in die Sonnenstraße. Es ist Mittwochnachmittag, fast 15 Uhr. Ein Paketbote hat seinen Wagen auf dem Bürgersteig geparkt. Er hebt ein riesiges Paket aus dem Laderaum. Es ist ein Bild, mit dem wir inzwischen vertraut sind. Der Online-Handel ist im vergangenen Jahr so schnell gewachsen wie zuletzt vor zehn Jahren. Der Handelsverband hat das in seinem Standortmonitor mit vielen Grafiken illustriert. Die Entwicklungskurve im Onlinehandel sieht aus wie ein Berg, der immer steiler wird. Die des stationären Handels ähnelt einer Landschaft in Ostfriesland.
Der Paketbote steigt schließlich ein und fährt weiter. Wir schauen auf zwei Schaufenster in einer Fliesenfassade. Auf den Fensterscheiben steht: „Vielfachglück – Secondhand Damenbekleidung und Handgemachtes vom Regal in Münster“. Friederike Bowinkelmann und Judith Mille verkaufen hier Secondhandmode und Handgemachtes für Frauen. Die alte Normalität haben sie mit ihrem Laden noch gar nicht erlebt. Sie haben ihn erst vor knapp einem Jahr eröffnet. Inzwischen verkaufen sie nicht nur selbst Mode, sie stellen den Verkaufsraum auch anderen zur Verfügung. Wer etwas verkaufen möchte, kann sich ein Regal mieten.
Wenn man mit Friederike Bowinkelmann und Judith Mille über das vergangene Jahr spricht, dann sagen sie, ihre Rettung sei gewesen, dass sie ihr Konzept umgestellt und ein Netz aus vielen Menschen aufgespannt haben. Den zweiten, langen Shutdown im November und Dezember hätten sie ohne ihre Stammkundschaft und die Soli-Mieten der Regalmitverkäufer:innen nicht überlebt.
Es gibt zwar staatliche Programme, aber die halfen den beiden nicht. Eines ist die Überbrückungshilfe 3, eine Art Rettungsnetz für Firmen. Anspruch auf die Hilfe hat allerdings nur, wer durch Corona viel Umsatz verloren hat. Mindestens 30 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Im Falle von Vielfachglück fing es schon damit an, dass der Vergleichsmonat im Vorjahr der war, in dem sie eröffnet hatten. Das war schlecht. Denn zu Beginn hatten sie viel geworben und guten Umsatz gemacht. So erzählen es die Gründerinnen.
Es gab zwar Zusatzregelungen für Startups, aber so schlecht, dass sie Anspruch auf die Hilfen gehabt hätten, ging es ihnen nicht. Es war ein Start unter schwierigen Umständen, der dann doch irgendwie geglückt ist. Es gehe ihnen gar nicht darum, das große Geld zu machen, sagen Friederike Bowinkelmann und Judith Mille. Aber etwas Enttäuschung ist da schon. Es bleibt das Gefühl, mit der schwierigen Situation allein zu sein. Und das inmitten von anderen Geschäften, die so viel Geld verdienen wie noch nie vorher.
“Es klafft alles auseinander”
Christoph M. Schmidt, Präsident des Essener Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung, sprach am Montagabend bei einem Vortrag des Deutschen Journalistenverbands von einer „unglaublichen Differenziertheit der Erfahrungen“. Er sagte: „Das Schlimme ist, dass es so unterschiedliche Schicksale gibt.“ Und das gilt auch für den Handel.
„Es klafft alles sehr auseinander“, sagt Oliver Breiden, Leiter des Referats Handel, Dienstleistungen und Logistik beim NRW-Wirtschaftsministerium. Unter dem Strich sei das vergangene Jahr für den Handel gar nicht so schlecht verlaufen. Das zeige sich auch in den Steuereinnahmen. Die Menschen kauften, aber es verschob sich vieles. Einige Zweige haben stark profitiert, andere litten unter der Krise. Das zeigt auch der Standortmonitor des Handelsverbands.
Der Lebensmitteleinzelhandel hat ein außergewöhnlich gutes Geschäftsjahr hinter sich. Noch etwas besser lief es für die Baumärkte und Gartencenter. Ein sehr schlechtes Jahr haben Einrichtungshäuser und der Elektrofachhandel erlebt. Für die Reisebüros hätte es nicht viel schlimmer kommen können. In ähnlichem Maße hat es den Modehandel getroffen.
Wenn weniger Hochzeiten stattfinden, brauchen die Menschen keine Hochzeitskleidung. Wenn weniger Messen und Kongresse stattfinden, brauchen die Menschen keine neuen Anzüge und Outfits. Und wenn die Leute im Homeoffice arbeiten und nur noch zum Einkaufen das Haus verlassen, brauchen sie vielleicht nicht mal eine neue Hose.
Die Hilfe verpufft
Lars Wittenbrink, Mitinhaber der Modeläden Grüne Wiese und Afaun hat die Situation in seiner Branche schon Ende Februar in einem Blogbeitrag erklärt. „Die Modeläden sitzen auf viel zu viel Winterware, die täglich an Wert verliert. Und sie brauchen die Erlöse aus dem Verkauf dieser Ware, um die eintreffenden Frühjahrskollektionen zu bezahlen“, schrieb er damals. Bestellungen gehen ein halbes Jahr vorher raus, und dann müssen die Geschäfte sie bezahlen.
Die Verkäufe aus dem Click-&-Collect-Geschäft mit negativem Schnelltest und die aus dem Onlinehandel reichen nicht aus, um diesen Umsatz zu erreichen. Auch die staatlichen Hilfen helfen kaum. Wittenbrink stand hier vor einem ähnlichen Problem wie die Vielfachglück-Gründerinnen.
Anspruch auf die staatliche Überbrückungshilfe hätten die Modeläden gehabt, wenn der Umsatz um mehr als 30 Prozent eingebrochen wäre. Das Kriterium erfüllten sie nicht, denn ihre Umsätze wurden zusammengerechnet und mit dem Wert aus dem Jahr 2019 verglichen. Da gab es den Afaun-Laden aber noch gar nicht.
Wittenbrink wundert diese Praxis. Das Problem betreffe ja alle Firmen, die die neue Läden eröffnet hätten. Die Probleme mit den Förderbedingungen seien bekannt gewesen. Verbände hätten darauf hingewiesen, auch die Grünen in den entsprechenden Ausschüssen. Aber das ist nicht das einzige Problem.
Der Gastronomie erstattete der Staat anfangs entgangene Umsätze, dem Handel nur die anteiligen Fixkosten. Strom, Heizung, Miete. Für Januar und Februar „in etwa ein 20-stel von dem (…), was wir seit Mitte Dezember an Umsatz verloren haben“, schreibt Wittenbrink. Das helfe „ehrlich gesagt überhaupt nicht“.
In seinem Text rechnet Wittenbrink vor, dass auch die neue Regelung keine große Hilfe sei. Nach ihr dürfen Modeläden die Saisonware als Fixkosten anrechnen. Für Ware mit einem Einkaufswert von 50.000 Euro bekäme man nach dieser Rechnung am Ende 3.000 Euro vom Staat. Mehr Geld wäre nur mit dem Nachweis drin, dass die Ware nicht später doch noch verkauft wird. Man müsste sie spenden oder vernichten. „Am Ende ist die Saisonwarenhilfe eine Abwrackprämie für Mode“, schreibt Wittenbrink.
„Erwarten dann eine Entschädigung“
Und zum Ärger über die schwachen Hilfen kommt auch noch der Unmut über die Ungleichbehandlung und über den Eindruck, der nach außen entsteht. Die Bundesregierung erweckt „öffentlich den Eindruck, sie würde allen vom Lockdown betroffenen Unternehmen in großem Umfang Hilfen zur Verfügung stellen“, schreibt Wittenbrink. Er hat einen anderen Eindruck. Danach nützen die Hilfen großen Konzernen eher als den kleinen Firmen. Sie nützen der Gastronomie mehr als den Modeläden. Wenn man ihn heute fragt, zwei Monate, nachdem er seinen Beitrag veröffentlicht hat, sagt er: „Von uns aus kann die Politik die Läden auch wieder komplett schließen, wenn sie das für zielführend hält, aber wir erwarten dann eine Entschädigung.“ Auch für die Schließung von Dezember bis März.
Oliver Breiden vom NRW-Wirtschaftsministerium sagt, er könne den Ärger über die Regeln im Handel einerseits gut nachvollziehen. In diesen Tagen hat er oft Menschen am Telefon, denen die Regeln nicht einleuchten. Zeitweise durften große Supermärkte Babykleidung verkaufen, kleine Modeläden aber nicht. Es hing von ihrem gesamten Sortiment ab. Die Frage war: Wie groß ist der Anteil der Produkte, die zum täglichen Bedarf zählen? Aus der Perspektive der kleinen Geschäfte, die schließen mussten, war das doppelt bitter. Für sie ist es ohnehin schon schwer genug, sich gegen die großen Ketten durchzusetzen. Und dann auch noch das.
Einerseits.
Andererseits sagt Oliver Breiden: „Man muss hinter die Kulissen der Verordnung schauen.“ Es gibt zwar Regeln. Aber oft gibt es Ermessensspielräume. Die eine Behörde entscheidet anders als die andere. Und wenn sie nicht weiter weiß, fragt sie die nächst höhere Stelle. Die Bezirksregierung. Das NRW-Gesundheitsministerium. Das Bundesgesundheitsministerium. Und manchmal haben auch die Menschen dort keine Lösung, weil in komplexen Zusammenhängen nicht immer alle Regeln zueinander passen. Oder weil sie sich wieder ändern.
Der Steuerberater und Wirtschaftsprüfer Frank Güntgen riet Modehändler:innen vor knapp zwei Wochen in einem Interview mit der Zeitschrift Textilwirtschaft, die Dezemberhilfe zu beantragen, obwohl sie eigentlich davon ausgenommen sind. Warum? Er sieht eine Ungleichbehandlung. Und das ist vor Gericht ein großer Hebel. Vor einigen Wochen hat auch die Elektronikhandelskette Mediamarkt damit hantiert. Sie wollte ihre Ware auch ohne Termin verkaufen, wie die Baumärkte und der Buchhandel es durften. Das Gericht gab dem Unternehmen recht. Es lag eine Ungleichbehandlung vor. Und das darf nicht sein. Bei Mediamarkt freute man sich und öffnete die Märkte für alle. Wenige Stunden später erließ die Landesregierung neue Regeln. Seither braucht man auch in Baumärkten und im Buchhandel einen Termin.
Ein Drittel weniger Insolvenzen
Es ist ein ewiges Hin und Her. Vor ein paar Wochen war da noch die Hoffnung auf das Modellprojekt. Nun gibt es die Bundesnotbremse und eine um den Grenzwert pendelnde Inzidenz, die fast täglich neue Regeln auslösen kann. Es bleibt die Unsicherheit, wie lange das noch so weitergeht, und die Frage, was passiert, wenn der ganze Spuk irgendwann vorbei ist.
Dann könnte etwas sichtbar werden, was bislang noch vom Nebel verdeckt wird, den die Pandemie mit sich bringt. Anfang März meldete das Statistische Landesamt NRW für das vergangene Jahr knapp ein Drittel weniger Insolvenzen als im Jahr 2019. Das klingt nach einer guten Nachricht, auf den zweiten Blick ist es aber wohl eine schlechte. Die guten Zahlen bedeuten: Der Staat hat mit seinen Hilfen im vergangenen Jahr viele Unternehmen am Leben gehalten, die es eigentlich längst nicht mehr geben würde. „Vieles deutet darauf hin, dass wir eine Welle von Insolvenzen erleben werden“, sagt Jens von Lengerke, Handelsexperte der Industrie- und Handelskammer Nord Westfalen. Einer dieser Hinweise sind neue Zahlen, die das Statistische Landesamt vor knapp zwei Wochen veröffentlicht hat. Die Zahl der Insolvenzanträge im Februar war um ein Drittel höher als vor einem Jahr. Ist das schon die Welle? Und falls ja: Wie wird sie verlaufen? Kommt sie mit einem Schlag? Zieht sie sich langsam hin?
Am Montagabend habe ich Christoph M. Schmidt gefragt, den Präsidenten des Essener Leibniz-Instituts, womit wir nun rechnen müssen. Seine Antwort ist überraschend klar. Er sagt, er wisse es nicht. Das könne zurzeit niemand sagen. Was sich aber sagen lässt: Wie heftig die Welle ausfallen wird, hängt davon ab, wie lange die Misere noch andauert.
Einfluss auf die Entwicklung wird auch haben, was die Menschen mit dem ganzen Geld machen werden, das sie in den vergangenen Monaten nicht ausgegeben haben. Viele Konten sind voll, weil der Urlaub ausgefallen ist, die Menschen nicht in Restaurants gehen, sich keine neue Kleidung kaufen, nichts unternehmen.
Das stimmt einige Kaufleute hoffnungsvoll. Wolfgang Nietan, Inhaber einer Galerie und Vorstandsmitglied der Initiative Starke Innenstadt Münster (ISI), sagt, er sei zuversichtlich, dass dieses Geld den Weg in den Handel finden wird.
Aber noch ist es nicht so weit. Noch befinden wir uns in der Phase davor. Und einiges von dem, was wir im Moment sehen, kann auch täuschen. Leere Ladenlokale etwa. In ihnen könnte man die Vorboten einer Krise sehen, die dem stationären Handel bevorsteht. Karin Eksen vom Handelsverband hätte eine andere mögliche Erklärung. „Es ist gerade keine gute Zeit, um Geschäfte neu zu vermieten“, sagt sie. Viele Unternehmen seien im Moment zögerlich. Sie warteten erst einmal ab, um nicht monatelang Miete zu zahlen, ohne Einnahmen zu haben.
„Diese Achterbahn ist so zermürbend“
Es könnte aber auch sein, dass sich nicht alles wieder so einpendelt, wie es vorher war. Vor einer Woche hat die Bundesvereinigung City- und Stadtmarketing sich über die Zukunft der Innenstädte unterhalten. Jürgen Block, der Geschäftsführer des Verbands, sagte: „Es geht nicht darum, die Innenstadt aus dem Jahr 2010 wiederherzustellen, es geht auch nicht darum, die City von 2020 zu retten.“ Das Ziel sei, die Stadt von 2025 oder 2030 zu gestalten. Der Handel habe dabei nicht mehr die dominierende Funktion, die er einst gehabt habe. Aber was wird am Ende bleiben? Nur die großen Ketten, die in jeder Fußgängerzone zu finden sind? Oder auch die kleinen unverwechselbaren Geschäfte, die Innenstädte einzigartig machen? Die schwedische Handelskette H&M hat eines ihrer beiden Geschäfte in der Ludgeristraße aufgegeben. Dort befindet sich nun ein Testzentrum. Schräg gegenüber wird aus Geschäftsfläche Wohnfläche. Auch das ist eine Entwicklung, die in vielen Städten zu beobachten ist.
Wenn man ein paar Meter weiter von der Ludgeristraße in die Windthorststraße abbiegt, über den Harsewinkelplatz geht und schräg in Richtung Bahnhof läuft, kommt man zum Geschäft von Jürgen und Gerlinde Salamon. Sie sind immer noch da. Mittlerweile auch schon seit knapp 20 Jahren. Im Sommer hatten wir sie schon einmal besucht, als wir über den Wandel in der Innenstadt berichteten.
Die Salamons haben die Bebauung der Stubengasse überstanden und auch vieles andere in den vergangenen Jahren. Aber so schwer wie der Brückenlockdown habe sie lange nichts mehr getroffen, sagt Jürgen Salamon. „Diese Achterbahn ist so zermürbend“, sagt Gerlinde Salamon. Sie verkaufen Bücher, und das könnte man für altmodisch halten in einer Zeit, in der immer weniger gelesen wird. Dazu verkaufen sie diese Bücher auch noch vor Ort, nicht im Internet. Und sie sind kein Weltkonzern, sondern ein ganz kleiner Familienbetrieb. Eigentlich keine guten Voraussetzungen, um in einer Zeit zu bestehen, in der viele es so einfach haben wollen wie möglich.
Doch in der Krise haben sich einige Dinge eben auch zum Guten gewendet. Oder zum Gewohnten, Bekannten und Vertrauten. Die Menschen haben wieder mehr gelesen. Einige haben sich auch Gedanken darüber gemacht, wen sie mit ihrem Geld unterstützen möchten. Vielleicht haben sie auch etwas vermisst, das der Onlinehandel nicht bietet. Das warme Gefühl, sich mal wiederzusehen, nicht nur ein Buch zu kaufen, sondern vielleicht auch die Gedanken an ein nettes Gespräch mit nach Hause zu nehmen. Nicht digitale Bewertungen zu lesen, sondern selbst Fragen stellen zu können, die dann auch beantwortet werden. Jürgen Salamon liefert seine Ware nun schon seit Monaten selbst aus. Nicht mit dem Lieferwagen, sondern mit dem Fahrrad. Wie viel Liebe in diesem Laden steckt, sieht man auch im Schaufenster. Die Menschen, die hier durch die Eingangstür gehen, suchen nicht nach dem günstigsten Preis oder nach der bequemsten Lösung, sie lassen sich auch von ihrem Gefühl leiten.
Und das hat die Salamons, so erzählen sie es selbst, bislang durch die Krise gebracht. Die Menschen, die immer wieder kommen, die Stammkundschaft, und all jene, die in die Stadt gefahren sind, weil sie sich gerade nicht durch Internetseiten klicken wollen, weil sie auch etwas erleben wollen, und sei es nur ein nettes Gespräch. Selten ist das so deutlich geworden wie in dieser Zeit, in der man sonst so gut wie gar nichts erlebt.
+++ In unserem RUMS-Brief am Freitag hatten wir geschrieben, das Unternehmen Adventurebox biete eine kostenlose Stadtrallye an. Das stimmte leider nicht ganz. Die Stadtrallye gibt es, aber sie kostet Geld. 14,99 Euro für die gesamte Gruppe. Alle Informationen zum Spiel finden Sie hier.
+++ Dann noch einmal zum Inzidenzwert vom Freitag. Kurze Rückblende: Der Wert hatte sich nachträglich verändert, weil das Landesamt für Gesundheit Infektionen nachgemeldet hatte. Damit wäre Münster über die Hunderter-Marke gerutscht, und die Bundesnotbremse hätte gegriffen. Das Land NRW hatte die Entscheidung trotzdem auf Grundlage der nicht korrigierten und damit falschen Zahlen des Robert-Koch-Instituts (RKI) getroffen. Die Frage war: Warum? Antwort: Weil das Infektionsschutzgesetz vorgibt, dass die Zahlen des RKI maßgeblich sind. Wir haben das NRW-Gesundheitsministerium gefragt, ob man davon abweichen kann, wenn bekannt ist, dass die Zahlen nicht stimmen. Eine Sprecherin schreibt, für den Fall sei keine Regelung vorgesehen. Eine Kommune könne sich aber ans Ministerium wenden. Dann könne man im Einvernehmen strengere Regeln anordnen.
+++ In dieser Rubrik korrigieren wir nicht nur Fehler, sondern ergänzen auch unsere Texte, wenn wir Hinweise bekommen, oder wenn wir kritisiert werden. Und ein Leser kritisierte, dass wir im Zusammenhang mit den Inzidenz-Grenzwerten, die für Schulen gelten (aktuell 165), von „Würfeln“ sprachen. Er schreibt, „die Zahlen sind das Ergebnis der Abwägung zwischen verschiedenen Interessen und natürlich von politischen Kompromissen, und solche Kompromisse fallen unterschiedlich aus. Man kann die Zahlen zu hoch oder zu niedrig finden. Dass 150 oder 200 ‚rundere‘ Zahlen sind als 165, mag sein. Deshalb sind es aber nicht ‚bessere‘ Zahlen“. Und er schreibt: „Von ‚Würfeln‘ zu sprechen, halte ich aber für unsachlich, und es rückt die Notwendigkeit und die Bedingungen demokratischen Entscheidens ins Zwielicht.“ Das stimmt einerseits. Wir wollen nicht unsachlich sein. Aber wir schreiben Briefe, also persönliche Texte, keine nüchternen Berichte. Und dazu gehört, dass wir Dinge hier und da kommentieren oder überzeichnen. Der Leser vergleicht die Inzidenzwerte mit einem Tempolimit auf Landstraßen, das in Deutschland bei 100 Stundenkilometern liegt, in Belgien bei 90, in den Niederlanden bei 80. Es ist eine Festlegung. Und das ist vielleicht sogar ein guter Vergleich. Was würden Sie denken, wenn Sie über eine Landstraße fahren, und auf dem Schild steht in einem roten Kreis eine 165, beim letzten Mal war es noch eine 100, und Sie meinen sich zu erinnern: Vor gar nicht ganz so lange Zeit stand auf diesem Schild doch noch eine 50?
+++ Seit Freitag gilt die Corona-Bundesnotbremse. In Münster hat das neue Gesetz erst einmal dafür gesorgt, dass weniger strengere Regeln gelten als in der letzten Woche. Man kann wieder einkaufen gehen, ohne ein negatives Schnelltest-Ergebnis zeigen zu müssen, weil Münster offiziell nicht über dem Grenzwert von 100 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner:innen liegt. Aus demselben Grund dürfen Studierende seit gestern auch wieder ohne Schnelltest die Lesesäle in den Bibliotheken der Uni Münster nutzen. Sie müssen nur einen Platz reservieren.
Letzte Woche war es genau andersherum. Da wurde schon einmal eine Corona-Notbremse gezogen, allerdings auf Grundlage der Infektionszahlen, die das Landeszentrum für Gesundheit erhebt. Nach dieser Statistik lag (und liegt) Münster über dem Grenzwert von 100, deshalb galt eine Testpflicht. Die Testzentren in der Stadt waren voll. Die Bibliotheken dagegen vergleichsweise leer, wie Eva Strehlke erfahren hat. Bis zum 18. April wurden fast alle 267 aktuell nutzbaren Arbeitsplätze in der Zentralbibliothek regelmäßig reserviert und immerhin 77 Prozent auch tatsächlich genutzt. Mit Eintreten der Testpflicht sackte die Reservierungsquote auf 77 Prozent ab, tatsächlich genutzt wurden nur noch knapp die Hälfte der verfügbaren Plätze. Ob die Studierenden Sorge hatten, sich anzustecken, oder ob die Testpflicht sie abgeschreckt hat, lässt sich nicht beantworten. Ebenso wenig die Frage, wie lange die neuen alten Regeln nun gelten werden.
Der Kölner Stadtanzeiger hat in dieser Woche eine interessante Übersicht veröffentlicht: die aktuellen Inzidenzzahlen sortiert nach Stadtteilen. Und das ist ganz aufschlussreich, denn es zeigt sehr deutlich, was wir eigentlich schon wissen. Die Pandemie ist auch ein soziales Problem. In einem nicht ganz so exklusiven Stadtteil wie Chorweiler liegt die Inzidenz bei 520, im Villenviertel Hahnwald bei 0. Das kann zum einen daran liegen, dass die Menschen in Chorweiler auf engerem Raum zusammenleben. Dort stehen viele Hochhäuser. Eine mögliche Ursache könnte sein, dass Menschen in Chorweiler eher in Berufen arbeiten, in denen sie mit vielen Menschen in Kontakt kommen. Es kann auch andere Gründe haben. In dem Stadtteil leben knapp 13.000 Menschen. Es geht hier also um knapp 70 Infektionen in einer Woche, nicht um über 500. Die Zahlen können also auch trügen. Dagegen spricht, dass sich in anderen Städten ähnliche Bilder ergeben, zum Beispiel in Bremen. Wir haben die Stadt Münster gebeten, uns die nach Stadtteilen sortierten Inzidenzzahlen zu geben. Noch haben wir sie nicht, aber sobald sie ankommen, veröffentlichen wir sie hier. Die aktuelle Inzidenz für das gesamte Stadtgebiet liegt am Dienstag bei 101,8. Die Stadt meldet einen weiteren Todesfall. Ein 66-jähriger Mann ist in einem Krankenhaus in Münster an Covid-19 gestorben. Im Vergleich zu gestern sind 28 Infektionen hinzugekommen. Aktuell gelten 622 Menschen im Stadtgebiet als infiziert. Und noch ein Hinweis für Kontaktpersonen von Schwangeren und Pflegebedürftigen: Sie können sich ab sofort einen Termin geben lassen. Weitere Informationen dazu hier.
Nikola, Naddi und Bijan von Freiraum Secondhand helfen Ihrem Kleiderschrank beim Abnehmen. Die drei haben ein Unternehmen gegründet. Im Moment renovieren sie ein Ladenlokal am Rosenplatz. Dort können Sie dann später alles abgegeben, was Sie aussortiert haben. Ums Sortieren müssen Sie sich nicht kümemern. Was weiterverkauft werden kann, bleibt im Laden (dafür gibt’s dann auch eine Beteiligung am Erlös), der Rest wird gespendet oder weiterverwendet. Normalerweise empfehlen wir Ihnen hier Geschäfte, die wir schon kennen. In diesem Fall konnten wir uns bisher nur im Popup-Store am Roggenmarkt umsehen. Das Konzept fanden wir aber so schön, dass wir Sie auch auf die aktuelle Crowdfunding-Kampagne für das neue Ladenlokal hinweisen möchten. Noch bis zum 12. Mai kann man das Konzept unterstützen. Als Dankeschön gibt es, wenn alles klappt, alles Mögliche von Sauerkraut über Eröffnungs-Tickets bis hin zu einem exklusiven und privaten Shopping-Event. Und dazu noch etwas Ungewöhnliches an dieser Stelle. Hier können Sie sich dann ein 20-minütiges Zeitfenster am Donnerstag oder Freitag reservieren. Dann stellen Luca, Fritz und Oskar von Burkersroda vom Modelabel Trib ihre Siebdruckmaschine im Ladenlokal am Rosenplatz auf und bedrucken mitgebrachte oder vor Ort erworbene Second Hand T-Shirts live mit Motiven des Künstlers Horst Janzen. Das ist ihr Großvater. Anschauen können Sie sich die Motive bei Instagram.
Hier finden Sie alle unsere Empfehlungen. Sollte Ihnen ein Tipp besonders gut gefallen, teilen Sie ihn gerne!
+++ Das Festival Tanz NRW findet zum ersten Mal digital statt. Und zwar vom 28. April bis zum 9. Mai auf der Plattform Dringeblieben. Sehen können Sie dann eine Auswahl aktueller Produktionen unterschiedlicher Tanz-Kompanien der freien Szene in Nordrhein-Westfalen. Einen Trailer zur Veranstaltung finden Sie hier. Für einige Programmpunkte, die nicht gestreamt werden, sondern per Zoom stattfinden, müssen Sie sich per E-Mail anmelden, weiter Infos dazu gibt’s hier.
+++ Zum Jurastudium gehören Massenvorlesungen und Repetitorien. In Philosophieseminaren wird lange und ausufernd diskutiert. Aber warum ist das so? Warum haben Fächer diese Eigenheiten? Mit dieser Frage, also den “Fachkulturen” beschäftigt sich das Zentrum für Wissenschaftstheorie in einer neuen, öffentlich und digital stattfindenden Ringvorlesung. Sie beginnt am Donnerstag um 18.15 Uhr mit einem Vortrag zur Erziehungswissenschaft und dann an den Donnerstagen darauf weiter zur jeweils gleichen Zeit. Das genaue Programm finden Sie hier, anmelden können Sie sich hier und bekommen dann die Zoom-Zugangsdaten.
Am Freitag schreibt Ihnen wieder Constanze Busch. Haben Sie bis dahin eine gute Woche und bleiben Sie gesund.
Herzliche Grüße
Ralf Heimann
Mitarbeit: Keerthana Kuperan, Eva Strehlke
PS
Es ist schon ein paar Wochen alt, aber ich würde gerne trotzdem noch einmal darauf hinweisen. Die Nadann hat neulich eine ganze Ausgabe geflüchteten Menschen gewidmet. Fünf Jahre sind viele von ihnen jetzt hier. Aber was ist aus ihnen geworden? In dieser Nadann-Ausgabe finden Sie Antworten. Vielen Dank an Gisela Dücker für den Hinweis.
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