- Newsletter
- Briefe
- Brief von Ralf Heimann
Ein Gespräch über Coerde | Grippe macht Pause | Royal Donuts

Guten Tag,
ungefähr 600 Menschen haben sich am Wochenende in Coerde impfen lassen. Am Hamannplatz ergab sich ein Bild, an das wir uns wohl erst wieder gewöhnen müssen. Menschen warteten in einer langen Schlange vor der Stadtteilbücherei, um sich für die Impfung anzumelden und von dort zu einer der drei Arztpraxen zu pilgern, in denen die Impfungen stattfanden.
Das hat offenbar gut geklappt. Die Stadt spricht von einem „großen Erfolg“. Kommt jetzt also gleich die nächste große Impfaktion in Berg Fidel, Angelmodde oder Kinderhaus-West? Möglich. Aber fest steht es noch nicht, heißt es bei der Stadt. Man werde am Mittwoch darüber sprechen. Auch darüber, ab wann Münster nun Modellregion sein darf. Die Stadt hat zu morgen früh um 13 Uhr eine Pressekonferenz angekündigt. Es wird wohl um erste Lockerungen gehen, unter anderem für die Gastronomie und für den Handel.
Die Situation hat sich entspannt, auch in Coerde. Noch vor drei Wochen hatte die Stadt für den Stadtteil eine Inzidenz von 499 gemeldet. Eine Woche später sah alles schon viel besser aus. Der Wert sank auf 231, in der vergangenen Woche dann auf 169. Damit liegt er immer noch so hoch, dass die Schulen eigentlich geschlossen bleiben müssten. Aber weil der stadtweite Durchschnittswert zählt, sieht im Moment auch in Coerde schon alles wieder danach aus, als könnte man dort bald wieder zusammen vor der Pizzeria sitzen.
Die Stadt meldet am Dienstag für Münster eine Inzidenz von 53. Das ist in Nordrhein-Westfalen der niedrigste Wert. Aber 53, das ist dennoch ein Wert, der über der Grenze liegt, bei der noch vor einigen Monaten alle roten Lampen geblinkt hätten. Die Frage ist: Wird jetzt alles besser? Oder ist es noch zu früh, um auf die sinkenden Zahlen zu reagieren?
Und was bleibt, wenn sich die Aufmerksamkeit wieder aus Coerde wegbewegt?
Interview mit Sebastian Kurtenbach
Die Angst, dass Dinge schlecht geredet werden könnten, ist sehr weit verbreitet.
Herr Kurtenbach, Sie beschäftigen sich wissenschaftlich mit sozial benachteiligten Stadtteilen wie Coerde. Was haben Sie im April gedacht, als Sie hörten, dass die Inzidenzwerte im Norden von Münster besonders hoch sind?
Ich habe mich gewundert, dass das erst jetzt auf die Tagesordnung kommt. Wir haben vor einem Jahr eine Studie für ganz Nordrhein-Westfalen gemacht, in der es um Nachbarschaftshilfe in der Corona-Pandemie geht. Dabei kam zum Beispiel heraus, dass das Hilfepotenzial bei von Armut bedrohten Menschen geringer ist. Sie lassen sich seltener helfen und bieten seltener Hilfe an. Wir hatten damals schon gesagt: Wir müssen uns um Stadtteile kümmern, in denen viele von Armut bedrohte Menschen leben. Wenn die Menschen dort keine Hilfe organisieren, dann müssen das andere machen, die sozialen Dienste vor Ort zum Beispiel.
Warum ist das nicht passiert?
Ich hatte während der ersten, der zweiten und auch sehr lange noch in der dritten Welle das Gefühl: Man schaut nur auf städtische oder kreisweite Durchschnittswerte, aber man weigert sich, lokale Ungleichheiten wahrzunehmen oder sie öffentlich zu thematisieren.
Haben Sie mitbekommen, dass Menschen darauf hingewiesen haben?
Die Fachkräfte der Sozialen Arbeit in den Vierteln haben darauf hingewiesen, auch in Coerde.
Hätte man sie denn hören können?
Das ist schwer zu sagen. Dazu müsste man sich die Meldeketten anschauen. Die Frage wäre: Was kommt beim Krisenstab an? Wie entscheidet der Krisenstab? Das kann ich nicht beurteilen. Ich weiß aber, dass die Fachkräfte schon sehr früh gesagt haben: Hier ist das Risiko sehr hoch. Zum Beispiel, weil sie sahen, dass Menschen sich nicht an Abstandsregeln hielten. Weil sie sahen, dass Menschen trotz Quarantäne draußen waren, was auch an den schwierigen Wohnverhältnissen liegt. Das gab es nicht nur in Coerde. Das war auch an anderen Orten außerhalb von Münster so. Das ist also nicht ungewöhnlich. Ich habe den Eindruck, jetzt reagiert man zwar, aber Prävention fand zu wenig statt.
Was hätte man denn zum Beispiel machen können?
Mehr Aufklärung.
Aber wie? Das Problem ist ja offenbar, diese Menschen zu erreichen?
Beispielsweise wären digitale Lösungen sinnvoll. Die meisten Menschen haben ein Smartphone. Aufklärungsvideos wären hier eine Möglichkeit. Kurze Videos, nicht länger als zwei bis drei Minuten. Mit den wichtigsten Informationen über die Pandemie, über das Impfen, mit Verhaltensregeln – so aufbereitet, dass man die Videos über WhatsApp teilen kann. Dabei kann man auch mit Untertiteln arbeiten, damit es nicht an Sprachbarrieren scheitert. Das kann sehr gut funktionieren.
Dazu braucht man aber erst einmal Kontakt zu Menschen aus diesen Stadtteilen.
Ja, deswegen halte ich sehr viel von der Arbeit in Stadtteilbüros oder vom Quartiersmanagement. Das sind kommunikative Knotenpunkte im Stadtteil. Daneben sind die Nachbarschaften in Teilen auch familiär strukturiert. Da wohnt zum Beispiel der Bruder nebenan. Die haben eine gemeinsame WhatsApp-Gruppe, manchmal auch mehrere. Den Menschen müssen wir digital etwas an die Hand geben, um sie zu informieren, auch um zu verhindern, dass Desinformation sich verbreitet.
Passiert das schon?
Ich habe da relativ wenig Engagement gesehen. Damit meine ich nicht die Fachkräfte. Sie haben Masken verteilt und Familien in Quarantäne begleitet oder mit Informationen versorgt. Ich meine die Kommunen oder auch das Land, die in der Lage wären, solche digitalen Formate zu erarbeiten.
Woran scheitert es?
Das weiß ich nicht genau. Aber diese Videos kosten natürlich Geld. Man könnte sie aber durchaus so produzieren, dass man sie auch in mehreren Städten einsetzen kann. Und ich glaube, die aktuelle Entwicklung zeigt, dass so etwas wichtig ist.
Was könnte man noch machen?
Impfkampagnen wie die am Wochenende sollten sicher keine einmalige Aktion bleiben. Und es ist wichtig, auf kleinräumiger Ebene zu überwachen, wie die Infektionszahlen sich entwickeln. Das hört sich einfach an, aber ich habe den Eindruck, das wurde nicht überall ernsthaft betrieben. Wir haben ja jetzt gesehen, dass es möglich ist, in einem Stadtteil wie Coerde an einem Wochenende 500 Menschen zu impfen. Das macht man vor allem dann, wenn die Werte steigen. Aber das bedeutet: Man muss genau sagen können, wann sie steigen. Man muss das täglich überwachen – und dann schnell reagieren.
Das sind Möglichkeiten, kurzfristig zu reagieren. Sie beschäftigen sich auch damit, wie man die Situation in ärmeren Stadtteilen langfristig verbessern kann. Im März haben Sie eine Studie zu nachbarschaftlichen Verbindungen veröffentlicht. Coerde war einer der Stadtteile, die Sie untersucht haben. Warum ist die Nachbarschaft so wichtig?
Wenn man sich die Nachbarschaft anschaut, versteht man, wie das Zusammenleben in verschiedenen Teilräumen einer Stadt funktioniert. Aus internationalen Studien wissen wir zum Beispiel, dass Vertrauen in die Nachbarschaft eine große Rolle spielt. Gibt es ein solches Vertrauen, sinkt die Angst vor Kriminalität, das Wohlbefinden steigt. Auch die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen sich gegenseitig helfen, wird größer.
Wie sind Sie denn bei Ihrer Untersuchung vorgegangen?
Zum einen haben wir ein sehr breit angelegtes Lehrforschungsprojekt gemacht, bei dem wir uns über ein Jahr lang intensiv mit Coerde beschäftigt haben. Das war ein Seminar, das auch in Coerde stattgefunden hat. Wir haben uns wöchentlich im Stadtteilbüro am Nerzweg getroffen, den Stadtteil kennengelernt. Wir haben uns auch jede Woche eine andere Einrichtung in Coerde angesehen. Dazu habe ich theoretischen Input gegeben.
Und wie sind Sie mit den Menschen in Coerde in Kontakt getreten?
Die Studierenden sind ausgeschwärmt. Sie haben mit den Menschen im Viertel gesprochen, auch mit denen, die in den sozialen Einrichtungen im Viertel arbeiten. Das ging allerdings nur, bis der Lockdown kam. Unabhängig vom Lehrforschungsprojekt haben wir auch noch eine Umfrage im Stadtteil durchgeführt, um einen besseren Blick auf das nachbarschaftliche Zusammenleben zu bekommen.
Inwieweit ist es denn möglich, sich mithilfe von Fragebögen ein Bild von Coerde zu machen? Dort leben Menschen aus vielen verschiedenen Ländern. In Ihrer Studie steht, die Befragung fand vor allem auf Deutsch statt.
Wir haben schon ein gutes Bild bekommen. Ich befürchte nur, dass zwei Gruppen nicht vorkommen. Zum einen die Menschen, die kein Deutsch sprechen. Das sind allerdings gar nicht so viele, wie man denkt. Die andere Gruppe – und das gibt es in Coerde eben auch – besteht aus sehr wohlhabenden Menschen. So etwas ist aber relativ normal bei so einer Untersuchung. Wir haben auch insgesamt etwas weniger Menschen mit einer Zuwanderungs-Vorgeschichte befragt, als es in der Bevölkerung gibt. Aber das bekommt man mit Gewichtungsfaktoren in den Griff. Außerdem haben wir zusätzlich noch tiefer gehende Gespräche geführt, um Verzerrungen bei den Interpretationen zu korrigieren.
Was lässt sich denn über die Nachbarschaft in Coerde sagen?
Coerde ist sehr heterogen, der Stadtteil hat eine komplexe Nachbarschaft. Er zerfällt in mehrere Teilquartiere. Es gibt klassische Einfamilienhaus-Siedlungen. Dort leben Menschen aus der Mittelschicht, die im Durchschnitt auch älter sind. Es gibt aber auch Quartiere mit erhöhten Armutsquoten und in denen die Bevölkerung im Durchschnitt sehr jung ist, auch sehr divers. Das alles fällt unter den Namen Coerde, aber das bedeutet nicht, dass die Lebensschicksale dieser Menschen ähnlich sind. Das ist das Spannende.
Können Sie das erklären?
Nehmen wir zwei Kinder. Das eine wächst in einer Einfamilienhaussiedlung in der Nähe der Rieselfelder auf, das andere in den Straßenzügen mit erhöhter Armutsquote. Das sind sehr ungleiche Kindheiten im selben Stadtteil. Die Überlegung ist: Wenn wir es schaffen, die beiden Kinder zusammenzubringen, dann können beide davon profitieren.
Ist denn das Bildungssystem in der Lage, diese Differenzen aufzuheben?
Nein. Aber es geht trotzdem nicht ohne. Es braucht ein Sowohl-als-auch. Das merkt man, wenn nur Homeschooling stattfindet. Ohne Schule geht’s nicht weiter. Aber Schule ohne Eltern funktioniert auch nicht so richtig. Deswegen würde ich sagen: Denken wir die Bildung nicht von der Schule aus, sondern nehmen wir die Menschen als Ausgangspunkt, die das Bildungssystem durchlaufen.
Was bedeutet das konkret?
Wenn wir auf die Kinder schauen, müssten wir uns die Frage stellen: Wo lernen sie denn eigentlich? Das ist die Familie, das ist die Schule, das sind aber auch Vereine oder kulturelle Angebote vor Ort, das sind auch Freundeskreise. Wenn man die Menschen in den Mittelpunkt stellt, dann ist Schule ein Teil des Ganzen, auch ein wichtiger Teil, aber eben nicht alles.
Wenn man in Ihre Studie schaut, sieht man: Es gibt in Coerde jenseits der Schulen ein außergewöhnlich großes Angebot.
Das stimmt. Wir haben in Coerde über 120 Einrichtungen oder Maßnahmen identifiziert. Das ist eine ganze Menge. Es gibt ein großes Angebot zur Bildungsförderung. Die Vernetzung ist sehr gut. Es passiert eine Menge. Nur wenn es viel gibt, heißt das nicht automatisch, dass dieses Angebot auch tatsächlich den Bedarf deckt.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Wir haben zum Beispiel Gruppen von Jugendlichen durch den Stadtteil begleitet. Sie haben dort Orte fotografiert, die sie mögen, auch Orte, die sie nicht mögen. Dann haben wir sie zu diesen Orten befragt. Und es wurde sehr schnell klar, dass die Jugendlichen eine Kernbotschaft hatten. Sie lautet: Es gibt zwar Orte im öffentlichen Raum, an denen sie sich wohlfühlen und sich gerne aufhalten, aber dort können sie nicht immer sein, weil sie dort als störend empfunden werden.
Was bedeutet das?
Das heißt zum Beispiel: Wenn der öffentliche Raum für Kinder und Jugendliche so wichtig ist, dann brauchen wir aufsuchende Sozialarbeit vor Ort. Zurzeit haben wir auf der einen Seite zwar 120 Maßnahmen vor Ort, auf der anderen Seite aber nur 20 Stunden Streetwork für Jugendliche. Das passt nicht zusammen. Das ist ein typisches Beispiel für etwas, von dem ich sagen würde: Da gibt es Nachholbedarf.
Was würde sich denn dauerhaft verbessern, wenn es mehr Streetwork in Coerde geben würde?
Das können wir nicht genau sagen. Um ehrlich zu sein: Wir kennen die genaue Wirkung noch nicht, das ist bislang kaum untersucht.
Woran liegt das? Es mangelt ja nicht an Erfahrungen mit Streetwork.
Das liegt vor allem daran, dass kaum Evaluationen vorliegen – oder dass sie nicht veröffentlicht werden –, mit denen wir überprüfen könnten, wie wirksam Maßnahmen sind. Das ist aber ein generelles Problem in Deutschland und nichts Besonderes für Münster.
Woran liegt das?
Meine Interpretation ist, dass schnell die Sorge entsteht, dass die Ergebnisse nicht so ausfallen könnten, wie man sie sich wünschen würde, weswegen man Evaluationen unterlässt. Das wiederum würde ein schlechtes Bild auf die Maßnahme werfen. Vielleicht sind sie auch zu teuer. Dass man sie aber als Möglichkeit begreift, Dinge besser zu machen, fehlt meiner Wahrnehmung nach.
Das heißt, es finden gar keine Evaluationen statt?
Doch. Aber die Ergebnisse sind dann oft nicht öffentlich. Das ist gar nichts Münsterspezifisches. Wir haben in Deutschland einfach keine besonders gute Fehlerkultur. Die Angst, dass Dinge schlecht geredet werden könnten, ist sehr weit verbreitet. Das halte ich für sehr problematisch, weil es verhindert, dass wir unabhängig beurteilen können, welche Strategien wirklich gut sind.
Hatten Sie bei Ihrer Arbeit in Coerde manchmal das Gefühl, dass man dort lieber nicht über die Probleme reden möchte?
Das habe ich vereinzelt erlebt. Aber dadurch, dass ich so lange da war und einige Fachkräfte sehr gut kenne, war es irgendwann doch möglich. Man möchte in Coerde nicht abgestempelt werden, und das kann ich gut verstehen. Es sollte aber nicht dazu führen, Probleme so klein zu reden, dass man sie dann übersieht.
Viele Menschen sprechen deshalb nicht offen über die Probleme, weil sie keine Vorurteile verbreiten möchten. Wie thematisiert man denn die Schwierigkeiten, ohne Menschen zu stigmatisieren?
Man muss unterscheiden. Es gibt Probleme, die im Stadtteil gelöst werden können. Und es gibt Probleme, die einen Stadtteil zwar betreffen, bei denen das aber nicht möglich ist. Ich würde dafür plädieren, vor allem das zu adressieren, was auch tatsächlich im Stadtteil gelöst werden kann. Zum Beispiel Nachbarschaft. Darüber kann und sollte man sprechen. Gegen unmittelbare Armutsursachen dagegen können Sie nur sehr wenig machen. Dazu müssten Sie zum Beispiel die Struktur des Sozialstaats verändern.
In Ihrer Studie steht ein ganz interessantes Detail. Vier von zehn in Deutschland geborenen Menschen aus Coerde sagen, dass sie schon diskriminiert worden sind, weil sie in diesem Stadtteil wohnen. Bei Menschen, die nicht in Deutschland geboren sind, kommt das sehr viel seltener vor. Wie lässt sich das erklären?
Dafür kann es unterschiedliche Erklärungen geben. Eine Möglichkeit wäre, dass andere Arten von Diskriminierung diesen Grund verdecken. Im Sinne von: Ist mir völlig egal, wo du herkommst, ich mag dich schon wegen deiner Hautfarbe nicht.
Was könnte noch eine Rolle spielen?
Zum Beispiel so etwas wie territoriale Reputation. Das bedeutet: Das Image eines Stadtteils wird übertragen auf die Menschen, die dort wohnen. Die gleiche Person würde also anders behandelt, wenn sie in Mauritz wohnen würde. Das hat mit unserem Denken zu tun, mit Vorurteilen. Wobei man anmerken muss, dass diese Vorurteile Menschen im Alltag helfen, sich zu orientieren. Es kommt aber eben auch zu Fehlurteilen. Und in diesem Fall könnte es so sein, dass Menschen, die sonst keine oder kaum Erfahrungen mit Diskriminierung machen, die Diskriminierung aufgrund ihres Wohnorts in ganz besonderem Maße wahrnehmen.
Damit sind wir wieder bei der Frage, wie es gelingen kann, die Situation in Coerde langfristig zu verbessern. Sie sagten, gegenseitiges Vertrauen spiele eine zentrale Rolle. Wie stellt man das her?
Da gibt es ganz unterschiedliche Möglichkeiten. Aber es gibt einen sehr wichtigen Faktor. Das sind die Einrichtungen in einem Stadtteil. Sie haben großen Einfluss auf Nachbarschaftsvertrauen. Das sind Orte, an denen man erlebt, die Leute sind nett zu einem, die kümmern sich, die interessieren sich für einen. In dieser Atmosphäre lernt man andere Menschen aus dem Stadtteil kennen. Wenn solche Orte aufgesucht werden, vielleicht sogar regelmäßig, dann steigt das Vertrauen in die Nachbarschaft.
Und wie bekommt man die Menschen dazu, dort hinzugehen?
Es müssen Angebote sein, die auch tatsächlich gebraucht werden. Das klingt einfach, aber es hat mit sehr vielen Detailfragen zu tun. Ist die Einrichtung zu den richtigen Zeiten geöffnet? Ist sie zugänglich? Werde ich dort gut behandelt? Das ist das kleine Einmaleins. Aber wichtig ist auch so etwas wie Erwartbarkeit. Bekomme ich tatsächlich die Infos, die ich suche, oder werden mir auch noch andere Dinge angeboten, die ich gar nicht brauche? Kann ich jederzeit kommen? Verpflichte ich mich, wiederzukommen? Kostet es Geld?
Das klingt aber, als wären das lösbare Fragen.
Es ist trotzdem nicht so leicht umzusetzen. Aus der amerikanischen Forschung wissen wir, dass auch andere Dinge eine Rolle spielen. Ein Phänomen ist zum Beispiel, dass Menschen, die Hilfe benötigen, sich nicht helfen lassen, weil sie sich nicht offenbaren wollen oder weil sie sich einreden: Andere Menschen haben es noch schwerer. Das heißt, auf der einen Seite muss die Organisation offen sein. Auf der anderen müssen die Menschen aber auch bereit sein, sich einzugestehen, dass sie die Hilfe brauchen.
Unterstützen Sie uns! Leser:innen werben Leser:innen
In den kommenden Monaten möchten wir die Zahl unserer Abonnent:innen auf 2.500 steigern, um uns nachhaltig finanzieren zu können. Denn unser Journalismus ist aufwendig und braucht Zeit, und das kostet Geld. Deswegen bitten wir Sie darum, uns zu unterstützen. Und das ist ganz einfach: Wenn jede und jeder von Ihnen nur drei Verwandte, Bekannte und Freund:innen anschreibt und uns weiterempfiehlt, können wir gemeinsam wachsen und unser Angebot auch ausbauen.
Außerdem profitieren auch andere davon: Bei bestimmten Zielmarken werden wir Medien-Workshops für Jugendliche veranstalten, Genaueres dazu lesen Sie hier. Sie können uns dafür Organisationen vorschlagen, die Ihnen am Herzen liegen.
Schreiben Sie uns dazu gerne an diese Adresse. Wie sich unsere Aktion entwickelt, teilen wir Ihnen ab jetzt regelmäßig in unserem Brief mit. Sobald wir die ersten Workshops umsetzen können, werden wir diese außerdem dokumentieren.
+++ Münsters ehemaliger Stadtdirektor Hartwig Schultheiß hat einen neuen Job. Das berichteten die Westfälischen Nachrichten in der vergangenen Woche. Schultheiß wird Manager beim Lebensmittelhändler Stroetmann – dem Unternehmen, gegenüber dem er beim Projekt Hafencenter aka Hafenmarkt die Interessen der Stadt Münster vertreten hat. Wie das endete, ist bekannt. Die Stadt hatte dem Unternehmen den Bau genehmigt. Das Gericht kassierte den Bebauungsplan wieder ein. Schultheiß sagte den Westfälischen Nachrichten nun, er sei von Stroetmann „angefragt“ worden. Wie ist der Wechsel zu beurteilen? Wolfgang Jäckle, Rechtsanwalt in Münster und Leiter der Arbeitsgruppe Politik bei der Antikorruptionsorganisation Transparency International, sagt, man müsse hier die rechtliche und die moralische Ebene unterscheiden. Rechtlich sei gegen den Wechsel von Schultheiß nichts einzuwenden. Moralisch könne man hingegen schon sagen: „So etwas macht man einfach nicht.“ Schultheiß versilbere nun das Wissen und die Netzwerke aus seiner Tätigkeit für die Stadt Münster. Das sei nicht unproblematisch.
+++ Von der Grippe hat man in diesem Jahr noch nicht so viel gehört. Die Influenza scheint sich eine Auszeit zu nehmen, darauf deuten auch die Zahlen für Münster hin. Im vergangenen Jahr zählte die Stadt 838 Influenza-Fälle, im Jahr davor waren es 499, im Jahr 2018 sogar 1.222. Vom aktuellen Jahr sind zwar erst vier Monate herum, aber wenn es so weitergehen sollte wie bisher, wird das Grippe-Problem in diesem Jahr nicht mehr so groß werden. Für das Jahr 2021 meldet die Stadt Münster bislang genau zwei Fälle.
+++ Damit nicht so viele Menschen zusammen in einem Raum sitzen müssen, tagt am nächsten Mittwoch (19. Mai) statt des Rates der kleinere Hauptausschuss, das meldet die Stadt. Die Mehrheitsverhältnisse in dem Ausschuss entsprechen denen im Rat. Die Tagesordnung steht noch nicht im Netz, aber sobald sie da ist, finden Sie sie hier. Ein Thema wird die Fahrradbrücke am Aasee sein – oder für das anglophile Publikum: der Flyover, mit dem wir uns am vergangenen Dienstag im RUMS-Brief beschäftigt haben.
Die Sache mit dem Wurm: Im RUMS-Brief am Freitag haben wir leider in der Korrektur eine falsche Zahl genannt. Wir schrieben, dass in Coerde im Jahr 2018 insgesamt 33.110 Menschen lebten. Das stimmt nicht. In Coerde lebten Ende 2019 laut dem Steckbrief der Stadt Münster – das ist die aktuellste Zahle, die ich finden konnte – 11.256 Menschen. Die Zahl 33.110 gibt es allerdings auch in der Statistik. Wir haben sie nur leider verwechselt (oder genauer: ich). So viele Menschen mit einer ausländischen ersten Staatsangehörigkeit waren im Jahr 2018 in Münster gemeldet.
In dieser Woche wird etwa die Hälfte der Menschen in Münster zumindest einmal geimpft sein – wenn alles so läuft, wie die Stadt sich das vorstellt. Am Dienstag hatten nach Angaben des Kommunikationsamts 144.500 Menschen die erste Spritze bekommen. Das sind etwa 47 Prozent der Bevölkerung. 40.000 Menschen haben auch schon den zweiten Termin hinter sich. Die Infektionszahlen gehen zurück, wir schrieben es oben schon. Am Dienstag meldete die Stadt 19 Neuinfektionen. Was man sonst noch sagen kann: Wenn Sie gern das Besetztzeichen vom Telefon hören, dann rufen Sie einfach morgens in einer beliebigen Hausarztpraxis in Münster an. Ich selbst habe das am Montag ausprobiert. Wobei es mir allerdings gar nicht um den Piepton ging. Eigentlich wollte ich einen Impftermin.
Zwei Mal bin ich an der Bahnhofstraße schon an diesem Laden vorbeigefahren, und beide Male habe ich mich gefragt: Was ist denn hier los? Warum stehen da so viele Menschen? Beim ersten Mal konnte ich es nicht erkennen. Beim zweiten Mal sah ich den Schriftzug an dem Schaufenster, vor dem die Schlange endet: Royal Donuts. Um ganz ehrlich zu sein, ich habe dort selbst noch nie einen Donut gegessen, aber ich habe sie mir auf der Website angesehen. Und es kann natürlich sein, dass all die wartenden Menschen auf genau die gleiche Weise in der Schlange gelandet sind, danach aber schrecklich enttäuscht waren. Ich werde das herausfinden, versprochen. Wenn Sie schon mehr wissen, sagen Sie mir doch bitte Bescheid.
Hier finden Sie alle unsere Empfehlungen. Sollte Ihnen ein Tipp besonders gut gefallen, teilen Sie ihn gerne!
+++ Eine gute Nachricht vorab: Die Löhne und Gehälter in der Pflege in Deutschland sind gestiegen, teilweise sogar deutlich. Das meldet der Deutschlandfunk. Allerdings ist aus den Zahlen nicht herauszulesen, wie die Entlohnung sich im vergangenen Jahr entwickelt hat. Der Vergleichswert ist das Jahr 2010. Nach Zahlen des Statistischen Bundesamts in Wiesbaden verdienen Vollzeitkräfte in Krankenhäusern oder Altenheimen heute ein Drittel mehr als im Jahr 2010. Fachkräfte in Pflegeheimen bekommen sogar knapp 40 Prozent mehr als damals. Nun aber endlich zur eigentlichen Meldung: Morgen ist der Internationale Tag der Pflege. Der Verein Münster-Cares ruft ab 17 Uhr zu einer Demonstration auf, die am Schlossplatz starten und am Domplatz enden soll. Der Verein fordert eine Reform des Gesundheitssystems, die Korrektur von falschen Anreizen, reduzierte Arbeitszeiten, höhere Personaluntergrenzen und eine bessere Entlohnung. Der Wunsch nach noch mehr Dank und Applaus von Balkon steht, wenn ich das richtig sehe, nicht in der Liste der Forderungen.
+++ Impro-Theater via Zoom. Haben Sie das schon mal ausprobiert? Sonst machen Sie das ruhig mal, solange Sie abends noch nicht vor die Tür müssen, weil Ihnen mit dem Ende der Pandemie die Ausrede abhanden gekommen ist. Ich habe mich neulich überreden lassen, und das war wirklich ganz lustig. Am Freitag (14. Mai) böte sich die nächste Gelegenheit, danach wieder am 18. Juni und 16. Juli (ebenfalls Freitag). Um 20 Uhr geht es los. Den Link bekommen Sie über die Homepage des Theaterkollektivs. Der digitale Eintritt ist frei. Das Kollektiv 7Wiesen, das den Abend veranstaltet, freut sich aber über eine Spende.
+++ Bis Freitag können Sie sich noch die Präsentation „Unschuldsengel” von Jasmin Werner in den Räumen des Westfälischen Kunstvereins an der Rothenburg ansehen. Jasmin Werner zeigt dort Montagen aus sich überlagernden Engelsfiguren, Architektur und Symbolen moderner Finanzsysteme. Das klingt nach einem sympathischen Durcheinander, aber dahinter stehen ernste Themen, mit denen wahrscheinlich so gut wie alle von uns schon mal irgendwie zu tun hatten: moralische Schuld und finanzielle Schulen. Um sich auf die Ausstellung einzustimmen, können Sie sich hier schon mal ein Gespräch zwischen Petra Marx und Aloys Prinz ansehen. Petra Marx ist wissenschaftliche Referentin des LWL-Museums für Kunst und Kultur. Aloys Prinz ist Professor für Finanzwissenschaft. Die Ausstellung ist von 11 und 19 Uhr geöffnet. Und falls Sie sich im Moment im Moment tatsächlich dem Thema finanzielle Schulden herumplagen, kommt Ihnen der Kunstverein entgegen. Der Eintritt ist frei.
Am Freitag schreibt Ihnen Ann-Marlen Hoolt. Genießen Sie bis dahin den Herbst, äh, Mai. Vor allem aber: Bleiben Sie gesund.
Herzliche Grüße
Ralf Heimann
Mitarbeit: Eva Strehlke
PS
Eine Leseempfehlung und gleichzeitig ein Hinweis in eigener Sache. Christian Humborg, Münsteraner, Mitgründer und einer aus unserem RUMS-Team, wird ab Juni Chef des Vereins Wikimedia Deutschland, dessen größtes Projekt die Wikipedia ist. Die Süddeutsche Zeitung hat heute ein Interview mit ihm veröffentlicht, in dem er über die Digitalisierung an Schulen spricht („Es reicht nicht zu sagen: Jetzt machen wir halt Matheaufgaben im Netz.“), über die Digitalisierung generell („Eine Digitalisierungsstrategie ist kein IT-Projekt. So wird das in Deutschland aber vielerorts noch gehandhabt.“) und über das Phänomen, dass in der Wikipedia ältere Männer mit Vorliebe über ältere Männer schreiben. Nur etwa ein Fünftel der Biografien in der Online-Enzyklopädie sind Beiträge über Frauen. Dazu sagt Christian: „Das Ziel ist, dass wir Gesellschaft so reproduzieren, wie sie ist. Und da gibt es eben gleich viele Männer wie Frauen.“
Ihnen gefällt dieser Beitrag?
Wir haben Ihnen diesen Artikel kostenlos freigeschaltet. Doch das ist nur eine Ausnahme. Denn RUMS ist normalerweise kostenpflichtig (warum, lesen Sie hier).
Mit einem Abo bekommen Sie:
- 2x pro Woche unsere Briefe per E-Mail, dazu sonntags eine Kolumne von wechselnden Autor:innen
- vollen Zugriff auf alle Beiträge, Reportagen und Briefe auf der Website
- Zeit, sich alles in Ruhe anzuschauen: Die ersten 6 Monate zahlen Sie nur einen Euro.
Wir freuen uns sehr, wenn wir Sie ab heute in der RUMS-Community begrüßen dürfen!