v. l. n. r. |  Neues vom Flyover | Kleiner Kiepenkerl

Porträt von Ralf Heimann
Mit Ralf Heimann

Guten Tag,

als Mathias Kersting im Januar nach nur vier Monaten als Ratsfraktionschef der SPD zurücktrat, erklärte er, warum er auch ohne das Amt in der Politik bleiben wolle. Er sei auf dem Weg gewesen, alles aufzugeben, schrieb er. Doch es habe viele positive Rückmeldungen und Bitten gegeben, er möge das Mandat doch behalten. Daher werde er das nun machen. „Ich glaube, ich stehe da gegenüber den Menschen in Gremmendorf in der Pflicht“, schrieb er. Das ist knapp vier Monate her.

Am Montagmorgen um 11 Uhr ist Mathias Kersting aus der SPD ausgetreten. Das steht im ersten Satz eines Schreibens, das er an den Oberbürgermeister, die SPD, die CDU sowie die jeweiligen Fraktionen geschickt hat. Im zweiten Satz beantragt Kersting die Mitgliedschaft in der CDU. Im dritten steht, sein Mandat werde er behalten. Das bedeutet: Das Ratsbündnis aus Grünen, SPD und Volt verliert die Stimme, die es zur Mehrheit gemacht hatte. Allein kann das Bündnis damit keine Entscheidungen mehr treffen. Und wenn man am Montagnachmittag Menschen fragt, ob Kersting mit diesem Schritt seiner Verpflichtung entspricht, fallen die Antworten aus der SPD sehr eindeutig aus.

Ein langjähriges Mitglied der Partei schreibt: „Ich bin wirklich fassungslos. Wie kann man sich über die Liste einer Partei wählen lassen und dann die Fraktion wechseln? Wenn er seinen Wahlbezirk gewonnen hätte, wär das was anderes. Hat er aber nicht. Mandat zurückgeben und jemanden nachrücken lassen, wäre demokratisch okay. Aber so? Unfuckingfassbar. #Verachtung.“

So ähnlich klingt es bei vielen. Es fällt oft das Wort „Enttäuschung“, der Schritt sei „irritierend“ oder „nicht nachvollziehbar“, und ungefähr so sagt es am Abend auch SPD-Fraktionschef Marius Herwig in einer Pause der Fraktionssitzung am Telefon. „Ich bin sehr enttäuscht von diesem Schritt. Und ich erwarte, dass Mathias Kersting sein Ratsmandat abgibt, damit wir es neu besetzen können.“

Das wird wohl nicht passieren. Und nicht nur das. Kersting hat auch noch andere Posten, die er nun zur CDU mitnehmen wird. Er ist Mitglied oder stellvertretendes Mitglied in acht Aufsichtsräten, unter anderem in dem der Wirtschaftsförderung Münster, dem vom Flughafen Münster-Osnabrück und dem der Gesellschaft Konvoy, die sich um den Umbau der Oxford- und York-Kasernen zu Wohngebieten kümmert. Dazu ist Kersting Mitglied im Fachbeirat des Gewerbeparks Loddenheide. Er ist Vorsitzender des Ausschusses für Wohnen, Liegenschaften, Finanzen und Wirtschaft sowie stellvertretendes Mitglied im Rechnungsprüfungsausschuss und im Hauptausschuss.

Und welche komplizierten Folgen sein Wechsel hat, wird sich schon morgen Abend zeigen, wenn der kleinere Hauptausschuss wegen der Pandemie anstelle des großen Rates tagt. Mathias Kersting hat am Montag angekündigt, nicht an der Sitzung teilzunehmen. Vertreten wird ihn seine gewählte Stellvertreterin, Lia Kirsch von der SPD. Und weil nicht die Parteien in den Ausschuss gewählt wurden, sondern Personen, wird das wohl auch in Zukunft so bleiben. Fällt der CDU-Mann aus, springt die SPD ein.

Es wird noch etwas absurder. Wenn sie könnte, würde die SPD Kersting nun natürlich abberufen. Aber das müsste der Rat einstimmig entscheiden. Kersting könnte das also einfach verhindern, indem er selbst dagegen stimmt.

Ähnlich schwer ist die Abberufung auch aus den Aufsichtsräten. Auf die Frage, wie genau die SPD nun mit dieser Situation umgehen wird, hatte Marius Herwig am Montagabend noch keine Antwort.

Verkehrspolitik, auch eine soziale Frage

Das sind praktische Folgen, aber was sind die Gründe? In seinem Brief an den Oberbürgermeister und die beiden Parteien schreibt Kersting: „Viele Ziele, für die die SPD und ich bei der Kommunalwahl 2020 geworben haben, werden von der Volkspartei CDU heute konsequenter vertreten.“

Als Beispiel nennt er zum einen die Verkehrswende, die nur „mit Angeboten für alle“ gelingen könne: „Eine Verbotspolitik mit dem Feindbild Auto reicht nicht aus“, schreibt er. Die Verkehrspolitik sei auch eine soziale Frage. Man müsse gewährleisten, dass Menschen, die in Münster oder dem Münsterland arbeiten, die Stadt auch erreichen können.

Was ist dran? Im Prinzip sind SPD und CDU sich in einem Punkt einig: Es wäre besser, wenn weniger Autos in der Innenstadt fahren und parken würden. Nicht ganz so einig sind die Parteien sich in der Frage, wie wenige Autos es am Ende sein sollen und auf welchem Weg man das Ziel am besten erreicht.

Das Rathaus-Bündnis nennt sich „progressiv“, und das meint zum einen fortschrittlich, in der Mathematik beschreibt das Wort aber auch eine Steigung, die nicht langsam immer größer wird, sondern schon zu Beginn sehr steil ist und dann immer steiler wird. Das Bündnis hat schon zu Beginn sehr deutlich gemacht: Wir wollen keine lauen Kompromisse, es soll von Anfang an steil nach oben gehen. In einem ersten Entwurf des Koalitionsvertrags stand sehr weit vorne, dass die Autos möglichst schnell aus der Innenstadt verschwinden sollen. Die Westfälischen Nachrichten titelten panisch: „Grüne fordern: Alle Parkplätze weg“.

Dass es zu dieser Schlagzeile kam, liegt zum einen daran, dass die Westfälischen Nachrichten sich selbst im Wort „progressiv“ wohl nicht wiederfinden dürften und nun schon seit Monaten gegen diese Art der Politik anschreiben. Aber es war vor allem ein Fehler des Bündnisses selbst, das den politischen Gegnern, in diesem Fall der CDU und der FDP, eine gute Vorlage lieferte, um den Verdacht zu belegen, dass hier ohne Rücksicht auf Verluste ein politisches Ideal durchgesetzt werden soll.

Großer Riss nach 19 Jahren

In der später veröffentlichten Version des Koalitionspapiers klang alles etwas moderater. Das war der Vertrag, den Mathias Kersting für die SPD noch verhandelt hatte. Kurz darauf trat er als Fraktionsvorsitzender zurück, weil er mit dem Ergebnis offenbar doch nicht zufrieden war. Schaut man in das Wahlprogramm der SPD, das Kersting mitgeschrieben hatte, fällt aber auf, dass es im Abschnitt zur autofreien Innenstadt viele Ähnlichkeiten gibt. Dort heißt es:

„Wir werden in der nächsten Wahlperiode innerhalb des Promenadenrings alle Nebenstraßen konsequent für den Durchgangs- und Parksuchverkehr schließen und zu Anwohner*innenstraßen machen. Wir werden den Domplatz, die Königsstraße und die Pferdegasse im Jahr 2021 autofrei machen.“

Das Parkhaus in den Arkaden solle zu einem Fahrradparkhaus werden, so geht es weiter. In dieser Passage steht auch ein Satz, der es nicht in den Koalitionsvertrag geschafft hat: „Die vorhandenen Parkhäuser bleiben auf den Hauptachsen erreichbar, von ihnen aus kann jeder Punkt der Altstadt in 300 Metern erreicht werden.“

Ginge es nach dem Wahlprogramm der SPD, hätten die Innenstadtparkhäuser eine Zukunft. Aber ist das ein Punkt, der zu so einem großen Riss führen kann, dass jemand nach 19 Jahren sein Parteibuch zurückgibt?

In der SPD können viele darin keine schlüssige Begründung erkennen. Fraktionschef Herwig sagt, er könne die inhaltlichen Gründe nicht nachvollziehen. Das kann natürlich auch daran liegen, dass das, was Kersting in seinem Brief schreibt, im Kern die konservative Kritik an der linken Verkehrspolitik ist. In wenigen Worten zusammengefasst: richtige Richtung, aber zu schnell, zu überstürzt, zu wenig behutsam. Das linke Bündnis würde nun noch ergänzen: zu sehr an den Interessen von privilegierten und bequemen Autofahrer:innen interessiert. Aber das sind eben die unterschiedlichen Perspektiven. Mathias Kersting könnte das alles noch etwas genauer erklären. Aber er möchte sein Schreiben nicht kommentieren. Er habe seine Gründe dargelegt, aber es solle nicht der Eindruck entstehen, er wolle nachtreten, sagt er am Telefon.

Viel gebaut, aber sozialer Wohnraum schrumpft

Als zweites Beispiel für die inhaltlichen Differenzen nennt Kersting in seinem Schreiben die Wohnungspolitik. „Bezahlbares Wohnen ist eine der zentralen Zukunftsfragen für unsere Stadt“, schreibt er. Er wolle in keiner Stadt leben, in der nur Wohlhabende leben können und Normalverdiener ins Umland verdrängt werden.

In der SPD fragen sich nun viele: Warum wechselt er dann ausgerechnet zur CDU? Die Partei gilt nicht unbedingt als Lobbyistin von Menschen, die sich kaum eine Wohnung leisten können. Münster hat in den vergangenen Jahren zwar viel gebaut, zuletzt sogar so viel wie seit über 20 Jahren nicht mehr. Außerdem beschloss der Rat vor sieben Jahren ein Modell zur Förderung von sozialem Wohnraum, das heute anderen Städten als Vorbild gilt. Zuletzt übertraf Münster zum vierten Mal in Folge das selbstgesteckte Ziel, pro Jahr mindestens 300 staatlich geförderte Wohnungen zu bauen. Doch die Programme laufen nur für einen begrenzten Zeitraum, danach werden die Wohnungen auf dem freien Markt vermietet.

In den vergangenen Jahren sind mehr Förderungen ausgelaufen, als neue Sozialwohnungen entstanden sind. Damit ergibt sich unter dem Strich ein anderes Bild als in den Pressemitteilungen der Stadt: Der öffentlich geförderte Wohnraum in Münster ist in 20 Jahren stark geschrumpft (Seite 38). Im Jahr 2000 gab es in Münster noch über 12.000 Sozialwohnungen, im vergangenen Jahr waren es nach Zahlen der Stadt Münster genau 8.326. Zuletzt, das gehört auch zum vollständigen Bild, stand unter dem Strich ein Plus. Seit 2015 sind wieder etwa 700 Wohnungen hinzugekommen (hier aktuelle Zahlen der Stadt). Aber vom alten Niveau ist man immer noch weit entfernt.

Hinter der vom konservativ-liberalen Spektrum favorisierten Wohnungspolitik steht grob umrissen die Überzeugung: Die Preise sind hoch, weil Wohnungen knapp sind. Wenn wir möglichst viel bauen, wächst das Angebot, die Preise sinken, das Problem löst sich irgendwann von selbst.

Menschen, die eine eher linken Wohnungspolitik befürworten, bezweifeln, dass sich das Problem so auf eine gute Weise löst: Wenn viel gebaut wird, wächst vor allem das Angebot an Wohnraum, mit dem sich viel Geld verdienen lässt. Das führt dazu, dass Menschen mit Geld in die teuren Gegenden ziehen. Dazu gehören die Innenstädte. Menschen mit weniger Geld müssen dann in den Vierteln leben, die nicht ganz so beliebt sind. Daher sind eher linke Parteien davon überzeugt, dass stärkere Eingriffe in den Wohnungsmarkt nötig sind. Oder wie Mathias Kersting im Januar 2020 bei Twitter schrieb: „Entscheidend ist doch nicht alleine, wie viele Wohnungen gebaut werden, sondern wie viele davon bezahlbar sind.”

Aus Natur wird Bauland

Es spielen noch weitere Fragen eine Rolle. Der Flächenverbrauch zum Beispiel ist ein großes Problem. Tag für Tag wird in Deutschland eine Fläche in der Größenordnung von 73 Fußballfeldern umgewidmet: Aus Natur wird Bauland. Wenn immer mehr Einfamilienhaussiedlungen gebaut werden, geht immer mehr Natur verloren. Mehrfamilienhaus-Siedlungen verbrauchen weniger Platz. Unter anderem deshalb favorisiert das Ratsbündnis diese Variante. CDU und FDP sehen eher das Problem, dass Menschen dann gezwungen wären, ein Haus im günstigeren Umland zu bauen oder zu kaufen, weil sie es sich in der Stadt nicht leisten können oder weil es einfach kein Bauland gäbe. Sie müssten auf nicht ganz so beliebte Gegenden ausweichen. Im Prinzip so wie Menschen mit sehr wenig Geld, wenn auch auf einem anderen Niveau.

Es gibt also schon gewisse Parallelen. Nur die einen schauen auf die Interessen der Menschen mit etwas mehr Geld, die anderen auf die Interessen der Menschen mit etwas weniger.

Mathias Kersting beschäftigt sich schon lange mit dem Thema. In einer über zweistündigen Wahlkampfveranstaltung aus dem vergangenen Jahr, die noch bei Youtube zu finden ist, sprach er auf einem Podium über das Problem, dass immer mehr junge Familien aus der Stadt ins Umland ziehen müssen, weil sie sich das Wohnen in der Stadt nicht mehr leisten können. Er habe das gegoogelt, sagt er an einer Stelle, und einen Artikel aus dem Jahr 2012 gefunden, in dem das alles schon beschrieben sei. Überschrift: „Stadtflucht aus Kostengründen“. Und schon da war es nicht neu. „Seit 2008 haben wir das Problem, und wir haben es nicht geschafft, als Stadt eine Lösung anzubieten“, sagt Kersting. Als eine Frau vom Deutschen Gewerkschaftsbund später darauf hinweist, dass es in der Stadt viel zu wenig Wohnraum für Menschen mit wenig Geld gebe, antwortet Kersting sehr ausführlich. Und irgendwann sagt er: „Es ist ein Marktversagen. Dass es einen Wohnungsmarkt gibt mit einem Marktversagen, das ist das Verschulden der Politik, das ist einfach so.“

Man kann sich nun darüber wundern, dass Mathias Kersting zu der Partei wechselt, die in Münster über Jahrzehnte mit nur kurzen Pausen die Politik und damit auch die Wohnungspolitik verantwortet hat. Aber auch hier könnte man einwenden: Wohnen wird nicht nur in Münster teurer, sondern vor allem generell in den Städten, in denen Menschen gerne leben – egal ob im Stadtrat nun eine konservative oder eine eher linke Mehrheit sitzt. Und es kann ja sein, dass der Fokus der Menschen, deren Interessen man politisch vertritt, sich irgendwann ändert.

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Dazwischen passt ein Flughafen

Mathias Kersting ist beruflich Prokurist des Architekturbüros Pfeiffer, Ellermann und Preckel, das den Hafenmarkt geplant hat. Im Ratsbündnis sitzt für die Grünen auch Rainer Bode, der mit einer Klage verhindert hat, dass der Hafenmarkt schon fertig ist. Zwischen diesen beiden Positionen liegt wahrscheinlich mehr als eine unterschiedliche Meinung, nichts Persönliches, einfach ein andres Denken. Ein anderes Beispiel ist die regionale Wirtschaftspolitik. FDP-Fraktionschef Jörg Berens sagt über Mathias Kersting: „Mit seiner Position zur Wirtschaft konnte ich schon immer gut leben.“ Und wenn man das zum Beispiel mit den Positionen von Jule Heinz-Fischer vergleicht, der verkehrspolitischen Sprecherin der Grünen, muss man sagen: Dazwischen passt mindestens ein Flughafen. Und solche Unterschiede werden dann irgendwann eben offenbar.

Aber warum gerade jetzt, mitten in der Sitzungsperiode, zwei Tage vor dem Hauptausschuss? Ist etwas passiert, das die Entscheidung ausgelöst hat?

SPD-Fraktionschef Marius Herwig sagt, er wisse nicht, warum Kersting diesen Zeitpunkt gewählt hat. Kersting selbst sagt dazu nichts. Diese Frage bleibt offen.

Eine Antwort auf die Frage, welche Motive Kersting für den Wechsel hatte, könnte im letzten Satz seines Schreibens zu finden sein. „Eine Ausübung des Ratsmandats als Einzelvertreter ermöglicht keine reale Chance, unsere Stadt positiv zu gestalten“, schreibt er. Würde er alleine weitermachen, wären die Chancen gering, dass er in vier Jahren noch einmal wiedergewählt werden könnte. Das wäre wohl nicht anders gewesen, wenn er in der SPD geblieben wäre. Nach seinem Rückzug als Fraktionschef hatte er sich als Hinterbänkler eingerichtet. Dass die Partei ihn noch ein ein weiteres Mal aufgestellt hätte, wird in der SPD bezweifelt. Es hätte eine politische Perspektive gefehlt, und die findet Kersting nun in der CDU.

Dort ist am Montag nicht von „Irritationen“ oder „Enttäuschung“ die Rede, sondern von einem „mutigen Schritt“. Die Begrüßung fiel herzlich aus. Neue Parteifreundinnen und Parteifreunde gratulierten. Doch selbst in der SPD sagt auch an diesem Tag so gut wie niemand etwas Negatives über Kerstings Charakter. Nur eine Sache. Er sei schon jemand, dem dieser Status und die Ämter wichtig seien – das sagt jemand zwar mit dem Verweis, das sei gar nicht negativ gemeint. Doch richtig positiv klingt es auch nicht. Sonst sprechen aus den Reaktionen eher spontane Wut und Enttäuschung. „Ich hätte mir vorher ein klärendes Gespräch gewünscht“, sagt einer.

Aber wie kam es denn überhaupt zu dem Wechsel? Kam der Mitgliedsantrag überraschend bei der CDU an? Oder hatte es schon länger Gespräche gegeben? „Wir haben natürlich vorher miteinander telefoniert, viel miteinander gesprochen“, sagt Fraktionschef Stefan Weber.

Und ist schon klar, welche Aufgaben Kersting in der neuen Fraktion bekommen wird, welche Ämter? „Nein. Das ist alles noch viel zu früh“, sagt Weber.

Zunächst hat Kersting nun Gast-Status in der Fraktion. Bis die Partei über den Mitgliedsantrag entschieden hat, werden noch einige Tage vergehen, vielleicht Wochen. Aber nach Pfingsten wird Kersting bei der ersten Fraktionssitzung dabei sein, unabhängig davon, wie sein Status dann aussieht.

Ein Zeichen vom Bündnis

Die interessanteste Frage ist, was der Wechsel nun für das Ratsbündnis aus Grünen, SPD und Volt bedeutet. In der Hauptausschuss-Sitzung morgen wäre das Bündnis noch nicht auf Stimmen aus anderen Parteien angewiesen, weil die SPD die Vertreterin von Mathias Kersting in den Ausschuss schickt.

Doch dass sich etwas verändert hat, haben andere Parteien schon wahrgenommen. Die Partei, die ödp und der parteilose Georgios Tsakalidis haben sich am Montagabend getroffen, um darüber zu sprechen wie es nun weitergehen könnte. Für sie ergibt sich durch den Wechsel eine gute Position. Bislang haben sie das Bündnis in so gut wie allen wichtigen Fragen unterstützt, ohne dass ihre Stimmen gebraucht worden wären. In Zukunft wird das anders sein. Georgios Tsakalidis sagt am Dienstagmorgen, das merke er schon daran, dass bei ihm mehrere Änderungsanträge angekommen seien, zusammen mit der Frage, ob er sie nicht zusammen mit dem Ratsbündnis stellen wollen.

„Wir werden eine progressive Politik unterstützen, aber wir wollen auch einen politisch respektvollen und wertschätzenden Umgang“, sagt Tsakalidis. Und wie könnte diese Wertschätzung aussehen? Da hätte Tsakalidis schon eine Idee. „Nehmen wir das Flyover-Projekt“, sagt er. „Es geht hier um zehn Millionen Euro Steuergeld, die Brücke bringt uns beim Ziel Klimaneutralität kein Stück weiter. wir und ein großer Teil der Bevölkerung wollen sie nicht. Es wäre ein Zeichen, wenn die Koalition sagt: Wir bauen sie nicht.“

Ein so deutliches Signal, wie Tsakalidis es sich wünscht, wird es wohl nicht geben, also kein klares Nein zum Flyover. Das Bündnis will zuallererst ein Gesamtkonzept, das die Verkehrsprobleme an dieser Stelle löst. Ohne Gesamtkonzept keine Fahrradbrücke. So ist es am Abend zu hören. Das könnte bedeuten: Wenn es zum Gesamtkonzept passt, kann es sein, dass der Flyover doch noch kommt. Möglich ist auch, dass man nach einer Möglichkeit sucht, so aus der Flyover-Nummer herauszukommen, dass am Ende keine Seite so richtig blöd dasteht.

Eine paradoxe Situation

Bei anderen Themen könnte das Bündnis sich mit anderen Parteien zusammentun, zum Beispiel mit der Linken. Dort sieht man durchaus Schnittmengen, vor allem in der Verkehrspolitik, wenn auch nicht beim Flyover. Den werde man ablehnen, sagt Fraktionssprecher Ulrich Thoden. Grundsätzlich sei man sich in der Verkehrspolitik aber einig. „Wir brauchen eine ökologische Verkehrswende”, sagt Thoden. Nur im Unterschied zu den Grünen setze seine Partei nicht nur auf den Radverkehr, sondern auch auf den öffentlichen Personennahverkehr. Und da sei sein Eindruck, dass sich durchaus schon etwas bewegt habe.

Eine andere Möglichkeit wäre, bei einzelnen Themen zusammen mit der FDP abzustimmen. Fraktionschef Jörg Berens sieht in dem Parteiwechsel von Mathias Kersting jedenfalls zunächst eine gute Nachricht. „In der Summe wird es dadurch spannender“, sagt er. Inhalte und Themen rückten so wieder in den Vordergrund. Man müsse sich Gedanken machen und vielleicht noch etwas ideenreicher sein, um Mehrheiten zu finden. Themen, bei denen er sich eine Zusammenarbeit vorstellen kann, wären zum Beispiel die Corona-Folgen. Wessen Bedürfnisse sind jetzt wichtig? Darüber müssen man sicher noch reden.

Wahrscheinlicher ist allerdings, dass das Rathaus-Bündnis sich eher in die andere Richtung orientieren wird. Und dann ergäbe sich eine Situation, die auch ein bisschen paradox erscheint. Mathias Kersting hat die Koalition verlassen, weil ihm das Bündnis anscheinend doch etwas zu weit auf der linken Seite steht. Und um seinen Weggang zu kompensieren, müsste die Koalition noch ein bisschen weiter nach links rücken, um ödp, Partei und Georgios Tsakalidis etwas entgegenzukommen, zum Beispiel bei der Verkehrswende.

Noch absurder könnte es eigentlich nur werden, wenn das Bündnis am Ende doch noch platzt und Schwarz-Grün sich wieder zusammenfindet. Dann würde nichts mehr von dem umgesetzt, was Mathias Kersting im vergangenen Jahr ins SPD-Wahlprogramm geschrieben hat. Aber er säße wieder in einem Bündnis mit Rainer Bode.

Korrekturen und Ergänzungen, 19. Mai 2021

In den Angaben zu Mathias Kerstings Ämtern haben wir ergänzt, dass es sich nicht in allen Fällen um ordentliche Mitgliedschaften handelt, sondern teilweise um stellvertretende. Eine Übersicht finden Sie hier.

Und eine wichtige Information noch, damit kein falscher Eindruck entsteht: Mathias Kersting ist Prokurist des für den Hafenmarkt zuständigen Architekturbüros, hat sich aber bei allen Abstimmungen zum Hafenmarkt enthalten.

Die Angaben zu den Sozialwohnungen haben wir um aktuelle Zahlen der Stadt Münster ergänzt. Wie sich der Bestand an Sozialwohnungen in den vergangenen fünf Jahren entwickelt hat, ist in dieser Übersicht zu sehen.

In aller Kürze

+++ Wenn sie den Brief nicht übersprungen haben, haben Sie es gerade schon gelesen: Morgen um 16.30 Uhr tagt der Hauptausschuss in der Halle Münsterland, damit der nicht der ganze Rat kommen muss. Die interessanteste Diskussion wird wohl die über die Fahrradbrücke am Aasee sein, also die über den Flyover. Die Stadtverwaltung hat dazu noch einen neuen Vorschlag gemacht. Das Dokument ist noch nicht im Ratsinformationssystem zu finden, aber Max Brinkmann-Brand von der ödp hat es bei Twitter verlinkt. Es sieht vor, dass die Verwaltung nun erst mal ein Gesamtkonzept erarbeitet. Dann soll sie prüfen, ob das Fördergeld nicht auch für eine ebenerdige Lösung zu bekommen wäre. So eine Lösung ohne Brücke würden die Grünen favorisieren, so ist zu hören, während die SPD noch ein bisschen am Flyover hänge. In jedem Fall möchte das Ratsbündnis erst einmal eine Gesamtlösung, das kam im Text schon vor. Die FDP arbeitet parallel ebenfalls an einem Antrag, der am Abend noch nicht ganz fertig war. Aber Fraktionschef Jörg Berens schrieb: „Erst wenn es das vom Stadtbaurat für August angekündigte integrierte Gesamtkonzept gibt, kann über den Flyover entschieden werden.“

+++ Ein paar interessante Punkte in der Tagesordnung wären noch: Die Stadt plant drei große Verkehrsversuche. Das werden wir uns alles noch ganz genau anschauen. Die Hörsterstraße soll ab August vorübergehend autofrei werden, auch die vom Parkplatz am Bült sollen die Autos verschwinden. Es wird vorübergehend eine durchgehende Busspur vom Ludgerikreisel zum Landeshaus geben. Und auf der Promenade soll der Radverkehr Vorfahrt bekommen.

+++ Die Tagesordnung mit allen Dokumenten und Vorlagen finden Sie hier. Wie auch sonst steht unser Angebot: Wenn Sie sich für einen bestimmten Teil interessieren, sagen Sie Bescheid.

+++ Vieles kann man sich gar nicht vorstellen, bevor man es nicht mit eigenen Augen gesehen hat, und ein bisschen so ist es auch in diesem Fall. Ein Polizist in Münster soll das Foto eines Wehrmachtspanzers an seinem Rucksack getragen haben, meldet die Deutsche Presse-Agentur, hier nachzulesen beim Spiegel. „Ich glaub, ich krieg die Tür nicht zu“, sagte Münsters Polizeipräsident Falk Schnabel. Nein, das stimmt natürlich nicht, aber das hätten Sie nach der Nachricht wahrscheinlich auch schon wieder für wahr gehalten. In Wirklichkeit sagte Schnabel: „Dass ein Angehöriger der Polizei im Dienst eine Abbildung eines Wehrmachtspanzers bei sich getragen haben soll, hat mich sehr betroffen gemacht.“

Corona-Update

158.400 Menschen in Münster haben inzwischen mindestens die erste Covid-Impfung bekommen, mehr als 50.000 von ihnen sogar schon beide Impfdosen. In den nächsten drei Wochen werden noch Menschen aus der Prioritätsgruppe 3 geimpft. Ab dem 7. Juni bekommen auch alle anderen Termine, wie die Landesregierung heute mitteilte. Informationen zur Impfkampagne hat die Stadt Münster auf dieser Webseite zusammengestellt.

Und dann meldet die Stadt auch leider noch zwei Todesfälle: Eine 87-jährige Frau und ein 78-jähriger Mann, die mit dem Coronavirus infiziert waren, sind gestorben. Aktuell gelten 199 Menschen aus Münster als infiziert. In den Krankenhäusern der Stadt werden 28 Patient:innen behandelt, davon elf auf der Intensivstation. Neun Menschen werden beatmet.

Unbezahlte Werbung

Die Corona-Inzidenz-Werte in Münster sinken momentan stetig – und überproportional im Verhältnis dazu wächst das Bedürfnis wieder auszugehen, zu essen, zu trinken – zu genießen eben. Seit einigen Tagen ist das zumindest in der Außengastronomie wieder erlaubt, und wenn nun noch das Wetter mitspielt, wird es in den Restaurants und Cafés in den kommenden Tagen kaum noch Plätze geben. Umso schwieriger ist nun die Frage, wen wir hier empfehlen wollen, es gibt doch so viel Gutes in Münster. Die Wahl fiel auf den Kleinen Kiepenkerl, nicht nur, weil er so eine schöne Außenterrasse mitten in der Innenstadt hat. Nein, er hat uns auch während der Pandemie nicht im Stich gelassen, mit seinem Essen, das per Lieferung nach Hause kam. Die Küche: Modern-westfälisch, mit vielen deftigen Klassikern, oft aus regionaler Herkunft – und ebenso oft auch sehr fleischlastig. Aber es gibt auch vegetarische Alternativen, momentan natürlich saisonbedingt mit Spargelgerichten. Und bei vielen Speisen lässt die Küche auf Wunsch das Fleisch einfach weg. Auf der Website lassen sich übrigens Tische reservieren, was zumindest in der Anfangszeit Enttäuschungen verhindert.

Hier finden Sie alle unsere Empfehlungen. Sollte Ihnen ein Tipp besonders gut gefallen, teilen Sie ihn gerne!

Drinnen und Draußen

+++ Was muss passieren, damit die Pariser Klimaschutzziele erreicht werden können? Und was geschieht, wenn das nicht gelingt? Antworten auf diese Fragen gibt morgen der Energiewende-Forscher Volker Quaschning. Ab 17 Uhr hält er einen Vortrag, anschließend können Sie Fragen stellen und diskutieren. Wenn Sie sich zu der Online-Veranstaltung anmelden möchten, schicken Sie eine E-Mail an diese Adresse.

+++ Am Donnerstag geht es schon wieder ums Klima, diesmal darum, was die Bürger:innen tun können. Sie könnten zum Beispiel in einem Klima-Bürger:innenrrat mitentscheiden, wie Münster klimaneutral werden soll. Und um dieses Modell geht es bei einer Online-Veranstaltung des Bündnisses Klimaentscheid Münster. Nach einem Einstiegsvortrag von Andreas Schiel, der sich beruflich unter anderem mit der Zukunft der Demokratie beschäftigt, dürfen Sie selbst über diese Frage diskutieren – ein Probe-Bürger:innenrat sozusagen. Um 19 Uhr geht es am Donnerstagabend los, hier finden Sie noch mehr Infos zu der Veranstaltung. Wenn Sie sich anmelden möchten, schreiben Sie am besten eine kurze Mail an diese Adresse.

+++ Kurz ein Blick aufs Wetter: Es gibt noch mehr Regen. Wenn Sie es sich mit einer Serie auf der Couch gemütlich machen möchten, ist dieser Tipp für Sie. Meine Kollegin Johanne Burkhardt empfiehlt die britisch-japanische Netflix-Serie „Giri Haji“ (deutsch: Pflicht und Schande). Auf den ersten Blick geht es um einen Kriminalfall, der einen tokioter Polizeikommissar nach London führt. Auf den zweiten Blick geht es um ein interkulturelles Familiendrama, in dem die Grenzen zwischen Vertrauen, Freundschaft und Liebe ausgelotet werden. Und zwar von sehr gut geschriebenen Charakteren, die einem schnell ans Herz wachsen. Sie können sich hier selbst einen Eindruck verschaffen.

Am Freitag schreibt Ihnen Constanze Busch. Haben Sie eine schöne Woche. Und bleiben Sie gesund.

Herzliche Grüße
Ralf Heimann

Mitarbeit: Johanne Burkhardt, Constanze Busch, Eva Strehlke

PS

Eine kleine Geschichte von der Tankstelle. Man hat sich in der Pandemie ja das Spazierengehen angewöhnt. Und vor ein paar Tagen kam ich abends an der blauen Tankstelle an der Steinfurter Straße vorbei. Da macht man natürlich einen Zwischenstopp. Wir waren zu zweit. Einer blieb draußen, ich holte schnell zwei Bier, stellte die Flaschen auf den Tresen. Der Mann hinter der Theke sagte: „Die beiden Bier?“ Ich sagte: „Ja ja.“ Er erhob seinen Blick und sagte sehr ernst: „Kann ich mal bitte Ihren Ausweis sehen?“ Ich, mittlerweile doch schon 44, sagte: „Das ist aber wirklich sehr nett von Ihnen.“ Er lächelte jetzt auch unter seiner Maske und löste auf: „Hab hab ich doch gewusst, dass ich Ihnen damit ‘ne Freude mache.“

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