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Toxische Verkehrspolitik | Die Brunnen-Posse | Beetschwester
Guten Tag,
in der Psychologie gibt es ein Phänomen, das wir im Alltag aus ganz unterschiedlichen Zusammenhängen kennen – aus der Corona-Zeit, vom Kinderspielplatz und aus der Verkehrspolitik. Das Phänomen heißt Reaktanz, und es tritt immer dann auf, wenn Menschen das Gefühl haben, dass ihnen Freiheit genommen wird. Dann entwickeln sich Widerstände, die sehr stark werden können, und es passiert etwas ganz Erstaunliches: Die Möglichkeit, die nun nicht mehr zur Verfügung steht, mag vorher noch so nebensächlich gewesen sein, plötzlich erscheint elementar wichtig.
Auf dem Kinderspielplatz kann diese nicht mehr vorhandene Möglichkeit die rote Schaufel sein, die sich das andere Kind gerade genommen hat. Die Eltern können natürlich darauf hinweisen, dass da ja noch eine blaue und eine gelbe Schaufel liegen, aber sie werden sehen: Es ist vollkommen sinnlos. Es muss die rote Schaufel sein, und zwar sofort.
In der Corona-Politik kann die Maske für das verlorene Stück Freiheit stehen. Das erscheint vor allem im Winter absurd, wenn Menschen mit Mützen und Schals aus dem Haus gehen, um sich selbst vor der Kälte zu schützen, aber in der Maske, die dem Schutz von anderen dient, eine unnötige Schikane sehen.
Und hier geht es nicht nur um kindlichen Trotz. Es kann schnell zu extremen Reaktionen kommen, wenn Menschen sich in den Gedanken hineinsteigern, schikaniert, gegängelt oder einfach unter Druck gesetzt zu werden. Und damit wären wir bei der Verkehrspolitik in Münster.
Eine alte Idee, die es in sich hat
Werfen wir einen Blick auf die Facebook-Kommentarspalte unter einem Text, den die Westfälischen Nachrichten am Donnerstag in dem Netzwerk veröffentlicht haben. Er trägt die Überschrift: „Testweise Durchfahrtssperre am Bült für drei Monate“. Das ist eine Idee, die schon im Koalitionsvertrag angekündigt ist, Grüne, SPD und Volt Anfang des Jahres vereinbart haben.
Auf Seite 24 steht wörtlich: „Außerdem wollen wir (…) die Durchgängigkeit für den Pkw-Verkehr aufheben und den Bült zu einem MIV-verkehrsberuhigten (MIV heißt motorisierter Individualverkehr, Anm. RUMS) Bereich aufwerten, der als ÖPNV-Knotenpunkt mit vielen Fahrradabstellflächen für Busse, Fahrräder und Taxen weiterhin passierbar bleibt.“
Völlig unspektakulär also. Oder mindestens: seit Monaten bekannt. Im Text der Westfälischen Nachrichten klingt das so:
„Doch kurz vor der Sitzung legte das Ratsbündnis aus Grünen, SPD und Volt einen Änderungsantrag auf den Tisch, der es in sich hat: Die Ideenwerkstatt soll ergänzt werden um einen Verkehrsversuch am benachbarten Bült. Für einen Zeitraum ‚von mindestens drei Monaten‘ soll es eine Sperre für den Durchgangsverkehr geben.“
Ein Änderungsantrag also, der es in sich hat? So fallen jedenfalls die Kommentare aus. Hier eine kleine Auswahl:
„Das fängt ja gut an mit der neuen Ära. Es wird immer besser in Münster, was für ein grober Schwachsinn! Als wenn damit alles entzerrt ist!!“
„Dieser blinde Aktionismus ist es, der mich derzeit auf die Palme bringt und nicht das Thema ansich… Das macht die Leute nur noch sauer…“
„Wäre schon mal ganz gut wenn man die Betroffenen am Bült beteiligt oder? – ich bin hier kein Unbekannter und ich meine mich zu erinnern das ich immer auf alle zugegangen bin. SCHLUSS MIT DEM UNSINN.“
„Kann man nicht besser ausdrücken! Münster wird wohl bald nicht mehr lebenswert sein!“
„Schlimmer darf es nicht mehr werden dann werde ich wohl nicht mehr nach Münster fahren!! Ich fahr doch nicht tausend Umwege bis ich an mein Ziel bin.“
In der Kommentarspalte geht es fast ausschließlich um Emotionen. Eine sachliche Diskussion findet praktisch nicht statt – obwohl es die durchaus geben könnte, und dann würden zwischen Schwarz und Weiß plötzlich sehr viele Graustufen sichtbar.
Viermal Ideologie, einmal Kulturkampf
Es ist ja nicht so, dass sich keine Gemeinsamkeiten finden ließen. Einig sind sich alle Parteien zum Beispiel darin, dass es auf irgendeine Weise gelingen muss, den Autoverkehr in der Innenstadt zu reduzieren. Und hier gibt es nicht nur die Möglichkeiten: Die Verkehrspolitik des Bündnisses ist vollkommen richtig. Oder: Es ist die reinste Katastrophe.
Es kann durchaus sein, dass die Richtung stimmt, aber die Kritik zutrifft, Alternativen zum Auto fehlen und viele Menschen darauf verzichten werden, in die Innenstadt zu fahren, wenn man Autos den Raum nimmt.
FDP-Fraktionschef Jörg Berens nennt in einer Pressemitteilung, in der viermal das Wort „Ideologie“ vorkommt und einmal das Wort „Kulturkampf“, einige Dinge, die ihm fehlen: „konkrete Ideen für durchgängige Busspuren, Anträge zum Bau von Mobiliätsstationen und mehr Geld, um mehr Busse für eine Taktverdichtung auf die Straße zu bringen“. Darüber lässt sich sprechen.
Es kann allerdings auch sein, dass einige die fehlenden Alternativen zum Auto als Argument vorschieben – um Veränderungen zu verhindern oder zu verzögern, mit denen sie nicht einverstanden sind. Dann wäre die Frage: Warum? Aus Abneigung gegenüber Veränderungen? Oder vielleicht doch aus nachvollziehbaren Gründen?
Wer ein Geschäft an einer Straße hat, die für drei Monate gesperrt wird, mag die Verkehrswende noch so sehr begrüßen. Aber in diesem Fall besteht die Möglichkeit, dass der maue Umsatz das Geschäft in Schwierigkeiten bringt. Und wenn dieses Risiko besteht, würde man vielleicht lieber auf den Versuch verzichten, auch wenn man die Verkehrswende eigentlich für absolut notwendig hält. Das ist das Sankt-Florian-Prinzip. Menschen finden vieles grundsätzlich gut, aber nicht vor der eigenen Haustür.
Und hier ergibt sich ein Dilemma. Wie findet man heraus, welche Folgen es hat, wenn die Verkehrsführung sich verändert? Man muss es ausprobieren. Man müsste einen Versuch machen, in dem es darum geht, Erkenntnisse zu bekommen, die eine Simulation am Modell nicht liefert. Einen Verkehrsversuch.
Kosten trägt eine kleine Gruppe
Aber was, wenn Menschen schon diesen Versuch ablehnen? Diese Frage stellte am Mittwoch im Verkehrsausschuss Carsten Peters, der verkehrspolitische Sprecher der Grünen. Muss man dann vorher mit den Geschäften sprechen und fragen, ob sie einverstanden sind? Es geht doch hier um die Klimabilanz für die ganze Stadt. Sollte das an den Interessen von Einzelnen scheitern?
Die Industrie- und Handelskammer wünscht sich, dass die Politik Verkehrsversuche vorher mit dem Handel bespricht. Aus den Stellungnahmen der Kammer geht hervor, dass sie für den Handel eher Risiken sieht als Chancen, wenn weniger Autos in die Stadt fahren. Wäre die Kammer überhaupt mit einem Verkehrsversuch einverstanden, dessen Ziel es ist, die Zahl der Autos in der Stadt zu reduzieren? Und falls nicht: Wäre die Ablehnung nicht vollkommen rational?
Die Verkehrspolitik soll einen Nutzen haben, der größer ist als die Kosten. Aber der Nutzen verteilt sich recht gleichmäßig auf die Bevölkerung. Die möglichen Kosten trägt eine kleine Gruppe, zu der auch der Handel gehört. Und es müssen nicht einmal tatsächliche Kosten entstehen. Es reicht schon das Risiko. Auch das trägt nicht die Gesamtheit.
So kann die verrückte Situation entstehen, dass ein Mensch eine verkehrspolitische Entscheidung in einer anderen Stadt unterstützt, die er in der eigenen Stadt ablehnt.
Auch so etwas muss man berücksichtigen. Zu sagen: Es ist fürs Klima, mit dem Risiko müsst ihr jetzt leben, wäre zu einfach. Und allein der Hinweis, dass mit Verlusten gar nicht zu rechnen sei, wird nicht ausreichen. Wenn die Wahrscheinlichkeit gering ist, dass es zu größeren Umsatzeinbußen kommt, müsste es ja möglich sein, Vereinbarungen zu treffen, die dieses Risiko für den Handel minimieren.
Schablonen im Gehirn
Das ist nur ein Punkt, aber an ihm wird deutlich: Sobald man sich die Sache etwas genauer ansieht, wird es kompliziert. Und wenn es zu kompliziert wird, greifen Menschen auf Vereinfachungen zurück, auf Geschichten. Narrative bekommen eine große Bedeutung – das sind Erzählungen, die schlüssig klingen und daher schnell zu Glaubenssätzen werden, auch wenn sie häufig gar nicht stimmen. Manchmal stimmen sie halb. Und oft lassen sie sich nur schwer überprüfen.
Wenn diese Narrative sich festgesetzt haben, entstehen Schablonen im Gehirn, für die sich ständig passende Teilchen finden. Im Falle der Verkehrspolitik ist eines dieser Narrative, dass es im Prinzip nur darum geht, Menschen zu schikanieren, die mit dem Auto unterwegs sind. Ein neuer Verkehrsversuch ist dann das nächste Teilchen, das sich in die Schablone einfügt. Wieder eine Schikane. Viele Menschen empfinden das so, aber es trifft eher eine Emotion als einen Gedanken.
Narrative sind dann erfolgreich, wenn starke Überzeugungen wirken oder einfach Wissen fehlt. Weiß man mehr, werden viele Menschen feststellen, dass es auch eine oder vielleicht sogar mehrere Perspektiven gibt, die eine Berechtigung haben. Das muss nicht dazu führen, dass man die eigene Meinung ändert. Aber es macht eine sachliche Diskussion möglich.
Ein Beispiel ist die Busspur von der Weseler Straße zum Landeshaus, die als Verkehrsversuch eingerichtet wurde. Warum hat man das eigentlich gemacht? Es beschleunigt die Busse ein bisschen, ein paar Sekunden vielleicht. Aber nicht einmal die Menschen, die am Steuer sitzen, merken es. Und wer fährt von der Weseler Straße bis zum Landeshaus? Um diesen paar Menschen einen Vorteil zu verschaffen, streicht man vor dem Bahnhof, wo es ohnehin schon eng ist, eine Spur für den Autoverkehr?
Ohne Wissen geht es nicht
Auf den ersten Blick erscheint das alles nicht plausibel. Aber wenn man sich diese Spur nicht mehr nur als isolierte Strecke vorstellt, sondern als Teil einer hochleistungsfähigen Schnellbuslinie ins Umland, dann ergibt so ein Turbo im Zentrum durchaus Sinn, um diese Verbindung für Menschen attraktiver zu machen. Und angenommen, man spart auf dieser Strecke 20 Sekunden, dann ist das für eine einzelne Person nicht viel. Aber wie viele Busse fahren auf dieser Strecke? Wie viel Zeit sparen sie insgesamt? Man kann diesen Abschnitt als einen kleinen Teil der Voraussetzungen sehen, die geschaffen werden müssen, um Alternativen zum Auto zu bieten. Und man kann trotzdem über das Verkehrsproblem vor dem Bahnhof diskutieren.
Wenn man etwas verhindern möchte, geht es sicher am besten mit Emotionen. Aber wenn die Absicht ist, eine gute Lösung zu finden, dann geht es nicht ohne Wissen. Das bedeutet allerdings: Menschen müssen überhaupt erst einmal die Möglichkeit bekommen, Hintergründe zu verstehen. Und das heißt, man muss unter Umständen mehr verraten als nur das Nötigste.
Der Verkehrsversuch an der Promenade ist nach den Herbstferien abgebrochen worden. Nachdem ich mit Menschen gesprochen habe, die einen besseren Einblick in die Entscheidungsstrukturen haben als ich, habe ich den Eindruck gewonnen, dass diese Entscheidung aufgrund von fachlichen Erwägungen zustande gekommen ist.
Wie wie Zeit braucht Gewöhnung?
Wenn man nur die Erklärung der Stadtverwaltung liest, kann man auch einen anderen Eindruck bekommen. In dieser Erklärung nennt Stadtbaurat Robin Denstorff als einen Grund für das vorzeitige Ende die Tatsache, dass sich nach neun Wochen noch kein „Gewöhnungseffekt“ gezeigt habe. Ist das wirklich überraschend? Womit hätte man gerechnet? Beim Essen zum Beispiel dauert es in etwa drei Jahre, bis sich neue Gewohnheiten einstellen. Und die meisten Menschen essen täglich. Ich selbst fahre die Strecke an der Promenade seit knapp 25 Jahren immer mal wieder. In der Zeit des Verkehrsversuchs bin ich dort vielleicht fünf oder zehn Mal entlang gefahren. Sollte das ausreichen für einen Gewöhnungseffekt?
Als einen weiteren Grund nennt Denstorff die Feststellung, dass bei den Bussen „insbesondere in der Hauptverkehrszeit zwischen 7 und 8 Uhr morgens Fahrzeitverluste durch Haltevorgänge an der Promenadenquerung auftraten“. Die Busse haben länger gebraucht als vorher. Kam das wirklich unerwartet? Hätte man das nicht ahnen können?
Wäre die Begründung gewesen, die Busse verlieren viel mehr Zeit, als wir dachten, hätte das am Ende ein Ergebnis des Versuchs sein können. Mit diesem Argument hätte man hinterher begründen können, dass der Versuch sich nicht bewährt hat. Aber war der Sinn des Ganzen nicht, Daten zu sammeln und herauszufinden, wie viel Zeit die Busse an dieser Stelle verlieren? Ist es in dem Fall wirklich sinnvoll, den Versuch abzubrechen?
In seiner Erklärung schreibt Robin Denstorff, nicht ein Grund allein habe den Ausschlag gegeben, beendet habe man den Versuch „aufgrund der Kumulation der unterschiedlichen (…) Faktoren“.
Ein weiterer dieser Faktoren war, dass es offenbar viele Beschwerden von Menschen gab, die sich beim Überqueren der Promenade nicht mehr sicher fühlten, seit der Radverkehr hier mit Vorfahrt über die Straße bretterte. Aber wie passt das zu dem Argument, dass die meisten Menschen auf dem Rad sich in neun Wochen noch immer nicht an die neuen Regeln gewöhnt und sich weiterhin vorsichtig an die Kreuzung herangetastet haben?
Ungleichgewicht in der Wahrnehmung
Darauf gibt es sicher eine Antwort. Aber man müsste sie kennen. Und so ist es auch mit den Unfällen. Seit dem Beginn des Verkehrsversuchs sind an der Kanalstraße mehrere Unfälle passiert. Und seit dem Beginn des Versuchs schauten vor allem die Westfälischen Nachrichten wie durch ein Brennglas auf die Stellen, an denen die Versuche stattfanden. Allerdings entstand so ein krasses Ungleichgewicht in der Wahrnehmung.
Ende August kollidierte ein Inline-Skater an der Promenade mit einem Auto. Wäre der gleiche Unfall an einer anderen Stelle in der Stadt passiert, wäre er vielleicht als Meldung auf der dritten Seite aufgetaucht, vielleicht als einzelnes Foto mit Bildunterschrift. So bekam er etwas mehr Platz, weil er im Lichtkegel der Aufmerksamkeit stattfand. Zu dieser Zeit war noch gar nicht klar, ob der Unfall überhaupt etwas mit dem Verkehrsversuch zu tun hatte. Das stand so auch im Text.
Später folgte ein weiterer Text zum Thema. Unter der Annahme, dass der Unfall etwas mit dem Verkehrsversuch zu tun haben könnte, war die hypothetische Frage gestellt worden, ob der Verkehrsversuch wegen des Unfalls jetzt ende. Die Polizei gab nun die Antwort. Man halte es nicht für notwendig, so hieß es. Es habe auch in der Vergangenheit immer wieder Unfälle an den Promenadenquerungen gegeben. Es hatte also offenbar nichts mit dem Verkehrsversuch zu tun.
Es hätte auch eine andere Möglichkeit gegeben, über den Unfall zu berichten. Wenn er schon irrtümlich so viel Aufmerksamkeit bekommen hat, hätte man ebenso prominent den falschen Eindruck revidieren können, dass die Ursache der Verkehrsversuch gewesen sei. Das aber passierte nicht. In der Überschrift stand: „Entscheidung über Verkehrsversuch gefallen.“ Als hätte der verdächtige Verkehrsversuch hier gerade nochmal Glück gehabt.
Später kam es zu einem weiteren Unfall. Ein 51-jähriger Mann brach sich den Oberschenkelhals. Diesmal teilte die Stadt gleich mit, sie sehe keinen Zusammenhang zum Verkehrsversuch. So steht es auch im Text und in der Einleitung des Artikels. Ansonsten deutet alles darauf hin, dass dies eine weitere Episode aus der unsäglichen Reihe der notorischen Verkehrsversuche sein müsse. Es ist ein ungewöhnlich langer Text für einen Unfall dieser Dimension. Und ich möchte das nicht kleinreden. Ich hoffe, dem Mann geht es inzwischen besser. Nur wenn ein Foto vom Verkehrsversuch zu sehen ist, der Text prominent erscheint, online auch noch auf die übrigen Unfälle im Zusammenhang mit den Verkehrsversuchen hingewiesen wird, das alles durch eine Fotostrecke von den Verkehrsversuchen illustriert wird und die Überschrift lautet: „Erneuter Unfall an der Promenade“, dann muss man damit rechnen, dass hängenbleibt: Verkehrsversuche bedeuten: ein Unfall nach dem anderen.
Die Lücken füllt das Gehirn
Wie hätte man es anders machen können? Die Stadt gibt mit ihrem Zitat einen Hinweis. Auch an anderen Stellen und Promenadenquerungen passieren Unfälle. Und auch an dieser Promenadenquerung sind vorher Unfälle passiert. Damit kein Ungleichgewicht entsteht, wäre es wichtig gewesen, die Zahlen in einen Zusammenhang zu setzen.
Wie viele Unfälle passieren normalerweise an den Promenadenquerungen? Wie viele sind in den Jahren zuvor an der Kanalstraße passiert? Welche der Unfälle, die sich im Zeitraum des Verkehrsversuchs an der Kanalstraße ereignet haben, hängen wirklich mit dem Verkehrsversuch zusammen?
Das wären Informationen, die geholfen hätten, einzuschätzen, ob seit dem Beginn des Versuchs an dieser Stelle tatsächlich auf einmal ein Unfall nach dem anderen passiert. Und hier müssen wir selbstkritisch sagen: Diese Zahlen haben auch wir nicht geliefert. Aber in den nächsten Wochen werden wir das versuchen.
Fehlen solchen Informationen, füllt das Gehirn die Lücke mit eigenen Erklärungen. Und das geht schnell schief. Die Wahrnehmung wird verzerrt. Der Fachbegriff lautet Verfügbarkeitsheuristik.
Eine Heuristik ist so etwas wie eine Denkabkürzung. Wenn wir nicht alle Informationen haben, die wir für eine Entscheidung brauchen, sucht das Gehirn Dinge, an denen es sich festhalten kann. Das macht schnelle Entscheidungen möglich, führt aber oft auch zu Fehlern.
Wenn es darum geht, einzuschätzen, wie häufig, gefährlich oder dringend etwas ist, orientiert das Gehirn sich an dem, was verfügbar ist. Fragt man Menschen auf der Straße einen Tag nach einem schweren Terroranschlag, wovor sie am meisten Angst haben, werden viele sagen: Terror. Einfach, weil es der erste Gedanke ist.
Narrative, verdammt hartnäckig
Wenn man ständig von Unfällen an einer bestimmten Stelle in der Stadt hört, entsteht unweigerlich der Eindruck, dass es an dieser Stelle besonders gefährlich ist. Das kann natürlich tatsächlich der Fall sein. Es kann aber auch einfach daran liegen, dass andere Unfälle nicht so viel Aufmerksamkeit bekommen.
Wenn sich erst mal ein Gedanke festgesetzt hat, wird er schnell zu einem Narrativ. Hier spielen wieder Gefühle eine Rolle, sie lassen sich mit Geschichten besonders gut transportieren. Und so etwas kriegt man ungefähr so schwer wieder aus den Köpfen wie Rotwein aus dem Sofa.
Aber es ist möglich: mit anderen Narrativen und dem Bemühen, zu überprüfen, ob die eigenen Annahmen stimmen.
Ein Narrativ in der Verkehrspolitik ist: Die Menschen, die in der Innenstadt wohnen, brauchen kein Auto. Deswegen haben sie kein Problem mit Parkplätzen. Und deswegen sind ihnen die Probleme der Menschen, die von außerhalb kommen, egal.
Diese Geschichte lässt sich auch anders erzählen, zum Beispiel in der Version des Karikaturisten Ian Lockwood. In seinem Cartoon steht ein Mann mit seinem Auto in der Stadt, schaut aus dem Fenster und sagt zu zwei Menschen auf der gegenüberliegenden Straßenseite:
„Hallo Stadt! Ich habe mich entschieden, von meiner Freiheit Gebrauch zu machen und in der Vorstadt zu wohnen. Jetzt will ich hier ohne Verzögerung schnell durchfahren. Deshalb fordere ich, dass die öffentlichen Steuern für den Ausbau eurer Straßen ausgegeben werden und sich eure Sicherheit, Gesundheit und Lebensqualität verschlechtern. Ein fairer Deal? Schlag ein, Kumpel.“
So ganz stimmt das natürlich nicht. Viele Menschen ziehen nicht freiwillig aufs Land, sondern weil das Leben in der Stadt so teuer ist. Und das ist nur einer von mehreren Punkten, die sich hier kritisieren ließen. Wichtig ist: Es geht um einen Perspektivwechsel und die Erkenntnis: Es gibt berechtigte Interessen auf beiden Seiten. Wie findet man eine Lösung?
Es gibt ein Mittel: verbale Abrüstung
Relativ sicher lässt sich eines sagen: Je mehr Emotionen im Spiel sind, desto schwerer wird es.
Ich hatte oben eine Person zitiert, die in den Facebook-Kommentaren schrieb:
„Schlimmer darf es nicht mehr werden dann werde ich wohl nicht mehr nach Münster fahren!!“
Die Person kommentierte den Plan, den Bült drei Monate lang für Autos zu sperren. Und dazu ein weiteres Gedankenexperiment. Wäre die Meldung gewesen: „Bült drei Monate lang wegen Bau von Fernwärmeleitung gesperrt“, hätte die Person dann auch geschrieben: Dann werde ich wohl nicht mehr nach Münster fahren?
Geht es hier also tatsächlich um die Einschränkung durch die Sperrung? Oder geht es um die Ablehnung einer bestimmten Politik? Geht es um Reaktanz? Es ist beides möglich. Wir wissen es nicht. Aber falls es hier um Gefühle geht, wäre es möglich, darauf Einfluss zu nehmen. Durch verbale Abrüstung.
Die Grünen-Ratsfrau Andrea Blome erzählte am Mittwoch im Verkehrsausschuss, dem sie vorsitzt, was sie erlebt, seit die Rathaus-Koalition versucht, eine andere Verkehrspolitik zu machen.
Andrea Blome berichtete, sie bekomme Münzsammlungen zugeschickt, Abonnements, Uhren, ihre Adresse werde missbraucht. Sie müsse das dann alles wieder abbestellen. Ihr schlage Hass entgegen, das gehe auch anderen in ihrer Fraktion so, auch von Menschen aus der Verwaltung wisse sie, dass sie ähnliche Erfahrungen machen. Sie sprach über etwas, das man den Teufel an die Wand malen nennen könnte, und sie sagte: „Ich glaube, Szenarien aufzumachen, die mit der Realität erst mal nichts zu tun haben, das finde ich unredlich, und ich glaube, das schadet uns allen.“
Ergebnis einer toxischen Atmosphäre
Das Magazin Kommunal hat im April im Auftrag von Report München eine Umfrage gemacht. Das Ergebnis: Die Zahl der Angriffe auf Menschen in der Kommunalpolitik hat im vergangenen Jahr zugenommen. Sieben von zehn Menschen in einem Bürgermeisteramt (72 Prozent) gaben an, schon beleidigt, beschimpft oder angegriffen worden zu sein.
Diese Angriffe entstehen nicht aus dem Nichts. Sie sind das Ergebnis einer toxischen Atmosphäre, in der erst die verbalen Grenzen fallen – und dann auch die anderen.
Walter von Göwels, der verkehrspolitische Sprecher der CDU-Fraktion, meldete sich gleich im Anschluss zu Wort, um Blome beizupflichten und um zu betonen, dass auch Menschen aus seiner Fraktion all das erlebten, und dass auch er so etwas nicht wolle.
Am Tag darauf veröffentlichte er zusammen mit seinem Fraktionschef Stefan Weber eine Pressemitteilung mit der Überschrift: „Ohne Rücksicht auf Verluste.“ Walter von Göwels lässt sich darin mit dem Satz zitieren: „Die Münsteraner haben von Verkehrsversuchen erst einmal die Nase voll.“ Es ist die Rede von einem „Hauruck-Verfahren“, es wird „durchgepeitscht“, die Folgen seien dem Rathausbündnis „piepegal“. Das Bündnis nennen sie die „Linksparteien“, denn in der eigenen Klientel schürt der Begriff zweifellos mehr Ängste als die Rede vom Bündnis. Weber und von Göwels adressieren die Angst der Menschen davor, dass Arbeitsplätze verloren gehen, sie unterstellen Verantwortungslosigkeit. Im letzten Satz sagt von Göwels: „Die ruinieren unsere Stadt.“
Das kann man natürlich so machen. Aber das schafft keine gemeinsame Basis für eine Debatte. Das ebnet einen Boden, auf dem Hass gedeiht.
Noch ein Hinweis: Am Sonntag erscheint eine Kolumne von Ruprecht Polenz, in der es ebenfalls um Verkehrspolitik geht. Die Position ist natürlich eine andere. Ich würde mich über Kommentare und Diskussionsbeiträge freuen. Und es wäre großartig, wenn wir das besser hinbekommen, als in den Facebook-Kommentarspalten.
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Bei den nächsten Meilensteinen (2.000, 2.250, 2.500) werden wir als Dankeschön weitere Workshops veranstalten. Genaueres dazu lesen Sie hier. Sie können uns dafür auch gern Organisationen vorschlagen, die Ihnen am Herzen liegen. Schreiben Sie uns dazu einfach an diese Adresse. Wie sich unsere Aktion entwickelt, teilen wir Ihnen ab jetzt regelmäßig in unserem Brief mit. Sobald Corona es zulässt und wir die ersten Workshops umsetzen können, werden wir diese auch dokumentieren.
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+++ Knapp vier Wochen nach der Einweihung geht der Eisenman-Brunnen an der Kreuzschanze in die Winterpause. Sie können ihn natürlich sich weiterhin ansehen – es fehlt nur das Wasser.
+++ Das fehlende Wasser ist auch bei vielen anderen Brunnen in der Stadt ein Problem. Die CDU hat das in der vergangenen Woche in einer Pressemitteilung angemahnt und der Verwaltung „Arbeitsverweigerung“ vorgeworfen. Dann stellte sich allerdings im Umweltausschuss am Dienstag heraus: Die CDU selbst ist schuld. Sie hatte vor 17 Jahren, als sie noch allein regierte, beschlossen, dass an den Brunnen gespart wird, und es in den folgenden 16 Jahren auch nicht rückgängig gemacht. Am Ende fand sich doch noch ein Spin, um ohne das Eingeständnis, es selbst verbockt zu haben, aus der Sache rauszukommen. Der steht in dieser Pressemitteilung. Kurzversion: Guck mal da drüben, ein Eichhörnchen. Der WDR hat ein sehr schönes kleines Filmchen über die Posse gemacht.
Die Pandemie breitet sich in Deutschland wieder aus. Die Frage ist: Wie kann man das stoppen? Die geschäftsführende Bundesregierung wirbt für Auffrischungsimpfungen. Und da hätte ich einen Tipp. In der Praxis Kiepenkerl an der Bogenstraße kann man sehr schnell online einen Termin vereinbaren – und dabei auch gleich angeben, dass es um eine Auffrischungsimpfung geht. Das ist sicher auch in anderen Praxen möglich. Wenn Sie Tipps haben, schreiben Sie uns. Wir geben das dann weiter. Ansonsten finden Sie Informationen zu Impfungen auf den Seiten der Stadt.
Und zu den aktuellen Zahlen: In Münster liegt die Inzidenz heute bei 78,1 (Neuinfektionen pro 100.000 Menschen innerhalb einer Woche). Insgesamt gelten im Stadtgebiet 376 Menschen als infiziert. Und leider meldet die Stadt auch noch einen weiteren Todesfall. Ein 86-jähriger Mann starb in dieser Woche mit einer Covid-Infektion.
Frisches, veganes Essen, oder ganz modern auch Green Cuisine, serviert Beetschwester an der Tibusstraße 6. Regina von Westphalen hat hier mitten in der Corona-Zeit ein Restaurant eröffnet, das etwas anders funktioniert als der Große Kiepenkerl, den ihre Mutter betreibt. Hier kommt kein Fleisch auf den Teller – stattdessen pflanzliche Lebensmittel aus aller Welt. Das kleine Lokal ist gemütlich und elegant. Einen Eindruck bekommen Sie in diesem lesenswerten Beitrag. Oder sonst schauen Sie doch einfach vorbei.
Hier finden Sie alle unsere Empfehlungen. Sollte Ihnen ein Tipp besonders gut gefallen, teilen Sie ihn gerne!
Eva Strehlke hat sich heute durch den Veranstaltungskalender gearbeitet. Sie hätte zwei Empfehlungen:
+++ „Rich Kids of Münsterland. Eine Klassenlotterie“ – der Titel macht neugierig, finden wir. Vor allem, wenn man hört, dass es Schüler:innen des Annette-von-Droste-Hülshoff-Gymnasiums sind, die Sie hier zu einer interaktiven Performance auf Burg Hülshoff einladen. Morgen (Samstag) ab 14 Uhr geht’s los. Das Thema ist Klassismus: Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft oder Position. Die 15 Schüler:innen präsentieren gemeinsam mit den Performerinnen Bettina Grahs und Margret Schütz die Ergebnisse eines Schreib- und Performance-Workshops. Der Eintritt ist frei, aber: 3G. Weiter Infos auf der Seite des Centers for Literature.
+++ Ein paar Mal haben wir Ihnen an dieser Stelle schon Poetry Slams empfohlen. Waren Sie (ob wegen unserer Tipps oder einfach so) schon mal als Zuschauer:in dabei? Falls Sie eine heimliche Sehnsucht gespürt haben, Ihre Gedanken auch mal bühnenreif zum Ausdruck zu bringen, hilft Andreas Weber vom Cuba Cultur Ihnen dabei. Morgen (Samstag) von 13 bis 16 Uhr findet in der Achtermannstraße 10 wieder die Werkstatt Poetry Slam statt. Tickets gibt es für 11,48 Euro hier.
Und noch ein Tipp von mir:
+++ Der kleine Accessoires-Laden Tischkultur, das Restaurant Brust oder Keule und das Auktionshaus Zeitgenossen (Christian Vechtel kennen Sie vielleicht aus der Sendung Bares für Rares) veranstalten morgen (Samstag) auf der Melchersstraße ein Kreuzungsfest, und zwar an der Kreuzung zur Finkenstraße, denn dort befinden sie die drei Läden. Was Sie dort finden werden: Einen kleinen Flohmarkt, DJ Mobilux macht Musik, und die Läden sind offen. Ich glaube, es wird ganz schön. So ab 14 Uhr wäre ich auch da.
Am Dienstag stelle ich Ihnen hier wieder ein exquisites Nachrichten-Büfett zusammen. Haben Sie ein schönes Wochenende und am Montag einen ruhigen Feiertag.
Herzliche Grüße
Ralf Heimann
Mitarbeit: Eva Strehlke
PS
Am Mittwochabend hat der Oberbürgermeister die im vergangenen Jahr ausgeschiedenen Ratsmitglieder verabschiedet. Wie wir hörten, kam es dabei zu einem kleinen Zwischenfall. In seiner Rede habe der Oberbürgermeister angekündigt, nachher werde man ja noch bei „Häppchen und Bier“ zusammensitzen, stand in einer Nachricht, die später bei uns ankam. Doch dann habe sich herausgestellt: Es gab kein Bier. Nur Wein. In der Nachricht folgte der Satz: „Der EKLAT war perfekt.“ Die Großbuchstaben habe ich übernommen. Und ich muss sagen: Da hat jemand während seiner Arbeit im Rat schon ganz gut verstanden, wie man Medien von einer Geschichte überzeugt. Und wenn Sie sich die Ratsleute noch mal ansehen möchten: Hier gibt’s ein Foto.
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