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Wie die „Querdenken“-Bewegung Angst verbreiten will | Corona-Patient:innen im Krankenhaus | Neue RUMS-Reportage
Guten Tag,
viele Eltern, Schulleiter:innen und Lehrer:innen dürften dem kommenden Montag mit einer gewissen Anspannung oder sogar Aufregung entgegensehen. Das Schulministerium hat am Mittwoch mit einer offiziellen E-Mail davor gewarnt, dass die Gruppe „Querdenken 711“ am Montag vor 1.000 Schulen in ganz Deutschland Aktionen gegen die Maskenpflicht plane (zur Einordnung: In Deutschland gibt es insgesamt gut 32.000 allgemeinbildende Schulen). Mitglieder und Sympathisant:innen der Gruppe würden unter anderem unwirksame Masken verteilen und möglicherweise dazu auffordern, gar keinen Mund-Nasen-Schutz zu tragen. Die Nachricht verbreitete sich nicht nur in Nordrhein-Westfalen. Viele Zeitungen, Radio- und Fernsehsender berichteten darüber, zum Beispiel hier und hier.
Am Donnerstagabend hieß es dann: Stimmt gar nicht, alles nur Fake, die „Querdenker:innen“ planen gar nichts. Die Gruppe schreibt in einer Pressemitteilung: „Es gibt keine Aktion am 09.11.2020. […] Bei der Aktion handelt es sich um einen Test unserer Kommunikationsstrukturen. Wir werden immer wieder vor einer Unterwanderung gewarnt.“ Sprich: Angeblich haben sie die Nachricht nur intern rausgegeben, um zu gucken, ob und wo sie durchsickert. Viele Schüler:innen werden sich am Montag auf dem Schulweg trotzdem sehr unwohl fühlen – und viele Eltern werden zur Sicherheit vielleicht trotzdem mitgehen und die Augen offenhalten.
Grablicht für Bodo Ramelow
Bevor ich erkläre, warum die Pressemitteilung von „Querdenken 711“ Blödsinn ist (das ist sie nämlich), sollten wir uns anschauen, mit wem wir es überhaupt zu tun haben.
„Querdenken 711“ ist die Stuttgarter Ortsgruppe der „Querdenken“-Bewegung (die Zahl steht für die Stuttgarter Telefon-Vorwahl), die seit Monaten gegen die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung demonstriert. Sie ist gewissermaßen sogar die Keimzelle, „Querdenken“ wurde im Frühjahr 2020 von dem Unternehmer Michael Ballweg in Stuttgart gegründet (am Sonntag kandidiert er dort übrigens bei der Oberbürgermeisterwahl). Unter dem Dach dieser Bewegung versammeln sich auch Rechtsradikale und Verschwörungsideolog:innen. Zuletzt drohten einige Mitglieder einem Polizisten mit Mord.
Wie diese Leute drauf sind, lässt sich gerade auch in Sachsen und Thüringen beobachten. „Querdenken 711“ und die Leipziger Gruppe „Querdenken 341“ haben in Leipzig für den morgigen Samstag eine Demonstration angemeldet, zu der Tausende Teilnehmer:innen aus ganz Deutschland erwartet werden. Kurz vorher, am Mittwoch, haben Mitglieder der Bewegung in sozialen Medien die Privatadresse von Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow veröffentlicht, der „Querdenken“ vorher scharf kritisiert hatte. Am Mittwochabend fand Ramelow vor seiner Haustür eine Grabkerze und einen Flyer zur „Querdenken“-Demo. Dem Tagesspiegel sagte der Ministerpräsident, er fühle sich bedroht und unter Druck gesetzt. Außerdem wohne in dem Mehrparteienhaus, in dem er lebt, auch eine Familie mit kleinen Kindern.
Der Trigger: Es geht um Kinder
Mit diesem Wissen im Hinterkopf kommen wir jetzt zurück zur vermeintlichen Schul-Aktion der „Querdenker:innen“ und zu ihrer absurden Presseerklärung.
„Querdenken 711“ wollte natürlich nicht die „Kommunikationsstrukturen“ auf Lecks testen. Die Gruppe hat diese Nachricht im Gegenteil bewusst gestreut. Das ist leicht am zeitlichen Ablauf erkennbar. Das Schulministerium teilte uns mit, es habe die Schulen am Mittwoch wegen eines Medienberichts vorsorglich informiert. Auf Nachfrage nannte der stellvertretende Pressesprecher Jörg Harm den Kölner Express als Quelle. Tatsächlich war auf der Express-Website schon am 14. Oktober der folgende reißerische Titel zu lesen: „Neue Eskalationsstufe – ‚Querdenken‘ plant perfiden Protest gegen Maskenpflicht“. Dies sei einem „detaillierten Schlachtplan“ zu entnehmen, den Michael Ballweg verfasst habe und der dem Express vorliege, heißt es im Artikel. Dementiert hat „Querdenken 711“ diese Meldung allerdings erst jetzt, drei Wochen später – also erst, nachdem die Warnung des Ministeriums für richtig viel Aufregung gesorgt hatte.
Die Gruppe will eben diese Aufmerksamkeit – und hat sie (leider) bekommen. Denn: Es geht um Kinder. Und um die Gesundheit. Die Vorstellung, dass mitten in der zweiten Pandemie-Welle krude Corona-Skeptiker:innen auf der Straße Schüler:innen ansprechen und sie dazu drängen könnten, ihre Masken abzunehmen, weckt bei vielen Menschen einen Beschützerinstinkt – nicht nur bei Eltern. Wir werden wütend, der Puls steigt, wir empören uns. Kinder bedrängen, das geht gar nicht. Und schon ist die Aufmerksamkeit maximal hoch, selbst wenn (oder gerade weil) die Gruppe die Ankündigung im Nachhinein als Falschmeldung bezeichnet.
Der Termin lässt die Aktion noch größer erscheinen
Und dann ist da noch das Datum der angeblichen Aktion. Der 9. November ist so ziemlich der sensibelste Termin, den man sich in Deutschland für etwas Politisches aussuchen kann. Und damit betreiben die Organisator:innen der „Querdenken 711“-Bewegung ein nahezu perfektes Framing: Das Datum steht für die Erinnerung an die Reichspogromnacht und für den Mauerfall. Egal, an welches dieser Ereignisse Sie zuerst denken, es ordnet die Ankündigung der „Querdenker:innen“ automatisch in einen historischen Rahmen ein. Wir verbinden den 9. November mit bedeutenden Ereignissen. Also muss auch die vermeintliche Aktion an den Schulen irgendwie bedeutend sein, positiv oder negativ. Das sollen wir jedenfalls denken. Falls Sie mir nicht glauben, probieren Sie es aus: „Am Montag wollen ‚Querdenker:innen‘ gegen die Maskenpflicht demonstrieren.“ Oder: „Am 9. November wollen ‚Querdenker:innen‘ gegen die Maskenpflicht demonstrieren.“ Na?
Hätte ich Ihnen das alles gar nicht schreiben sollen?
Natürlich haben auch Journalist:innen wie wir dazu beigetragen, die Nachricht zu verbreiten – und den „Querdenker:innen“ damit eine Bühne geboten. Ich habe deshalb heute Morgen lange überlegt, ob ich Ihnen überhaupt zu dem Thema schreiben soll – oder ob es besser in einer Meldung aufgehoben wäre, damit die Bühne möglichst klein bleibt. In diesem Dilemma stecken wir und unsere Kolleg:innen immer wieder, zum Beispiel bei der Berichterstattung über die AfD. Wir können nicht nicht berichten. Aber wenn wir es tun, tragen wir unweigerlich auch gefährliche Thesen weiter. Denn bevor wir solche Ideologien widerlegen und auseinandernehmen können, wie ich es in diesem Text versucht habe, müssen wir sie ja erstmal wenigstens kurz wiederholen.
Haben wir all dem dann widersprochen, passiert leider das, was der Autor Sascha Lobo in diesem sehr klugen Text als „Windrad-Prinzip“ beschrieben hat: „Wie ein Windrad lebt die AfD-Sphäre vom Gegenwind. Sie zieht ihre Energie aus der Empörung der Gegenseite und verwandelt sie in eine Form sozial ansteckender Identifikation. Das Gemeinschaftsgefühl besteht primär daraus, dass sich die richtigen, als Feinde begriffenen Leute auf die richtige Weise empören.“ Dem ist wenig hinzuzufügen, denn der Mechanismus „Wir gegen die“ lässt sich genau so auch bei den „Querdenker:innen“ beobachten.
Wie Sie gemerkt haben, habe ich mich trotzdem entschieden, ausführlich über die Schul-Aktion zu schreiben. Nicht nur, weil ich darauf vertraue, dass unter Ihnen, den RUMS-Leser:innen, keine „Querdenken“-Sympathisant:innen sind, die sich durch meinen Text erst recht angestachelt fühlen dürften. Sondern auch, weil ich es wichtig finde, die Hintergründe zu kennen, um die Aktion zu verstehen. Es soll eben nicht bei einem aufgeregten „Die wollen unsere Kinder bedrängen“ bleiben. Ich finde es wichtig, zu verstehen, dass solche Leute anderen Menschen Angst machen wollen, und wie sie das erreichen – Grablichter, Kinder, Morddrohungen. Mit diesem Wissen lassen sich auch die nächsten Nachrichten zu den „Querdenker:innen“ besser einordnen.
Falls übrigens am Montag wider Erwarten doch einige Mitglieder der Bewegung vor der Schule Ihres Kindes auftauchen sollten: Lassen Sie sich nicht einschüchtern und rufen Sie im Zweifel die Polizei. Wie die Stadtverwaltung mitteilt, werden am Montag vorsorglich auch Mitarbeiter:innen des Ordnungsamtes auf den üblichen Schulwegen unterwegs sein.
+++ Ab dem kommenden Donnerstag beginnt der Unterricht in allen Innenstadt-Gymnasien eine halbe Stunde später als sonst. Das haben der städtische Corona-Krisenstab und Vertreter:innen der Schulen vereinbart. Die Schüler:innen sollen sich so morgens auf mehr Busse verteilen, damit möglichst wenig Gedränge entsteht. Die Regelung gilt bis Ende Januar. Die Stadt teilte mit, dass sich auch das Geschwister-Scholl-Gymnasium in Kinderhaus der Regelung anschließt, da es mit dem Pascal-Gymnasium kooperiert. Auch an der im Schulzentrum beheimateten Geschwister-Scholl-Realschule sowie an der bischöflichen Marienschule beginnt der Unterricht eine halbe Stunde später. Letztere arbeitet mit dem Paulinum zusammen.
Das Uniklinikum Münster (UKM) muss mehrere OP-Säle für zwei Wochen schließen, weil sich acht Mitarbeiter:innen mit dem Coronavirus infiziert haben. Einige geplante Operationen müssen abgesagt werden. Das UKM konzentriere sich vorerst auf medizinische Notfälle, heißt es.
Die Stadtverwaltung hat am Donnerstagabend außerdem ein Dienstleistungsunternehmen am Hafen geschlossen, weil bereits sechs von 15 Mitarbeiter:innen positiv getestet wurden. Ob sich auch Kund:innen angesteckt haben, werde derzeit ermittelt, schreibt die Stadt.
Insgesamt gelten heute 502 Münsteraner:innen als infiziert, 56 Neuinfektionen kamen seit gestern hinzu, 67 sind wieder gesund. 39 Covid-Patient:innen werden in den Krankenhäusern in Münster stationär behandelt, davon 17 auf Intensivstationen. Elf Personen müssen beatmet werden.
Wie die Westfälischen Nachrichten berichten, hat die Stadt Münster ein Grundkonzept dafür entwickelt, wie demnächst Schnelltests auf das Coronavirus eingesetzt werden sollen. In zwei Wochen könnten die ersten dieser Tests verfügbar sein. Unter anderem sollen sie Bewohner:innen von Altenpflegeeinrichtungen und ihren Besucher:innen zur Verfügung stehen.
In Marina Weisbands Kolumne vom Sonntag fehlte noch die Antwort der Stadt Münster auf die Frage, ob es möglich sei, Luftfilter-Anlagen an Schulen zu spenden. Das Presseamt schrieb uns jetzt: Wer Luftfilter spenden möchte, soll sich bitte vorher mit dem Schulamt in Verbindung setzen, da die eingesetzten Filter bestimmte Voraussetzungen erfüllen müssen. Das müsse vorab geklärt werden. Grundsätzlich seien solche Spenden aber möglich. Und sie dürften auch erwünscht sein: Das Presseamt teilte uns außerdem mit, dass 31 Schulen in Münster der Stadtverwaltung insgesamt knapp 300 Räume gemeldet haben, die schlecht zu lüften sind. Es werde jetzt geprüft, in welchen Räumen tatsächlich ein Bedarf an Luftfiltern bestehe. Wir halten Sie auf dem Laufenden.
Zu den Schulen auch noch ein Nachtrag zu meinem Brief von vergangenem Freitag: Ich hatte Ihnen geschrieben, dass die Stadt Solingen eine Mischung aus Präsenz- und Distanzunterricht einführen will. Das hat das NRW-Gesundheitsministerium allerdings Anfang der Woche verboten. Warum, können Sie beim WDR nachlesen.
Zu guter Letzt haben wir einen Hinweis zum „PS“ im RUMS-Brief von Dienstag erhalten. Darin ging um die lärmenden Laubbläser und die Entscheidung der bayerischen Gemeinde Haar, dem Bauhofpersonal in Zukunft lieber Harken und Rechen in die Hand zu geben. Das lag allerdings nicht am Lärm, sondern daran, dass die Geräte Käfer, Asseln, Spinnen, Tausendfüßler, Regenwürmer, andere Insekten, Igel und sogar Vögel töten. Das wollten wir natürlich nicht unterschlagen.
+++ Um in diesen Zeiten ein Unternehmen zu gründen, braucht es Mut. Wenn Sie den und dazu noch eine gute Geschäftsidee haben, können Sie am Montag ab 18 Uhr an einer digitalen Veranstaltung der Wirtschaftsförderung Münster teilnehmen. Unter dem Titel „Nichts ist so beständig wie der Wandel – Veränderung als Chance für Gründungen“ berichten dort verschiedene Unternehmer:innen von ihren Erfahrungen.
+++ Kulturveranstaltungen sind im November leider rar gesät. Für Montagabend kann ich Ihnen immerhin eine sehr ungewöhnliche ankündigen: Die eritreische Lyrikerin, Journalistin und Schriftstellerin Yirgalem Fisseha Mebrahtu liest ab 19 Uhr ihre Texte vor. Eigentlich sollte die Lesung in der Studiobühne stattfinden. Stattdessen können Sie sich sich das Event nun als Zoom-Videokonferenz anschauen. Vorher aber bitte kurz per E-Mail anmelden (AfrikanischePerspektiven@t-online.de).
Es wird kälter, jetzt brauchen wir also Vitamine – und Soul-Food. Beides können Sie sich im Online-Hofladen bauernbox.com bestellen. Sie suchen sich im Online-Shop einfach Gemüse, Eier, Käse, Saucen und Suppen aus, die Sie danach von Bauernhöfen aus der Region geliefert bekommen. Mein Kollege Johannes Wagemann ist ein großer Fan dieses Hofladens. Er legt Ihnen das Gemüse und Obst vom Kräuterhof Rohlmann ans Herz und den Joghurt von Große-Kintrup. Und für ein Old-School-Abendbrot empfiehlt er die eingemachten Gurken von Austermann.
Hier finden Sie alle unsere Empfehlungen. Sollte Ihnen ein Tipp besonders gut gefallen, teilen Sie ihn gerne!
München, Berlin, Hamburg: Das sind drei der beliebtesten Städte bei Gründer:innen. Kleinere Orte wie Münster scheinen für Startups eher die Ausnahme oder sogar eine Notlösung zu sein. Aber stimmt dieser Eindruck? Unsere Autorin Karolina Kaltschnee von der Reportageschule Reutlingen hat das Gegenteil herausgefunden. Sie hat den Digital Hub am Hafen besucht und mit einigen Gründer:innen gesprochen, die dort spannende Ideen in und für Münster entwickeln und umsetzen. Hier lesen Sie die neue RUMS-Reportage.
Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende!
Herzliche Grüße
Constanze Busch
Mitarbeit: Ralf Heimann, Johannes Wagemann
PS
Der Tatort Club in der Bohème Boulette am Sonntagabend muss wegen der Corona-Beschränkungen ausfallen. Wenn Sie Fan des Münster-Tatorts sind und die neue Folge „Limbus“ zumindest digital nicht ganz alleine verfolgen wollen, sollten Sie sich den Twitter-Feed des UKM anschauen (@UK_Muenster). Der Rechtsmediziner Maximilian Hagen diskutiert dort am Sonntag live mit der Community über die Ermittlungen im Tatort. Herr Hagen wird zwischendurch in kurzen Videos auch die Arbeit seines Leinwand-Kollegen Boerne kommentieren. Hier schon mal ein kleiner Vorgeschmack.
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