Runde durch die Innenstadt: Wie barrierefrei ist Münster? | Bergstraße: 40 Wochen gesperrt | Mathilde-Anneke-Gesamtschule: Später fertig und teurer

Porträt von Sebastian Fobbe
Mit Sebastian Fobbe

Guten Tag,

wann haben Sie eigentlich das letzte Mal vor Wut geschrien? So richtig laut und aus vollem Hals?

Vorgestern hatte eine Gruppe von Aktivist:innen sich auf dem Prinzipalmarkt vor dem historischen Rathaus versammelt, um eine Minute lang gemeinsam zu schreien. In der Hand hielten sie dabei weiße Laken, die mit roter Farbe beschmiert waren.

Das Ganze mag irritierend gewirkt haben, und das sollte es auch. Das münstersche Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung wollte mit der Aktion auf einen Entwurf des Obersten Gerichtshofs der USA aufmerksam machen, der voraussichtlich eine Grundsatzentscheidung für das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche (das sogenannte Roe v. Wade-Urteil) rückgängig machen wird.

Wenn der Oberste Gerichtshof so entscheidet, wie es in dem im Mai bekannt gewordenen Urteilsentwurf steht, könnten Frauen in 26 und damit mehr als der Hälfte aller US-Bundesstaaten nicht mehr auf legalem Wege eine Schwangerschaft abbrechen. Für viele Frauen würde das zu einem gesundheitlichen Risiko oder sogar lebensgefährlich, denn Abbrüche in einem unsicheren, nicht sterilen Umfeld können Gefahren nach sich ziehen, etwa starke Blutungen, Infektionen oder innere Verletzungen. Der britische Guardian prognostiziert, ein solches Urteil werde Abbruchgegner:innen auf der ganzen Welt dazu motivieren, ähnliche Gesetzesverschärfungen auf den Weg zu bringen.Für das Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung ist all das Anlass genug, laut und wütend aufzuschreien. Und übrigens gibt es auch in Münster noch Verbesserungsbedarf, wenn es um sichere Schwangerschaftsabbrüche geht.

Kurz und Klein

+++ Im November gab es in Münster eine lange Debatte und große Sorgen, weil das Rathausbündnis die Durchfahrt am Bült für einige Wochen sperren möchte. Seit dieser Woche ist klar: Diese Sorgen hätte man sich gar nicht machen müssen, denn die Durchfahrt ein Stückchen davor an der Bergstraße wird im nächsten Jahr 40 Wochen lang gesperrt sein, weil der Kanal saniert wird. Ja, genau, richtig gelesen, 40 Wochen, also zehn Monate lang. Die Sintflut dauerte nur 40 Tage und 40 Nächte – 40 Wochen, das sind in etwa 280 Tage (Korrekturhinweis: Hier stand zunächst 1.200 – aus Versehen mal 30 gerechnet. Autsch), an denen Menschen die Altstadt mit dem Auto umfahren müssen. Danach wird man vermutlich wissen, ob es möglich ist, ohne die Durchfahrt auszukommen. Im Januar oder Februar sollen die Arbeiten beginnen. Die Stadt erklärt das hier alles ganz ausführlich, in einer Präsentation unter anderem mit Fotos aus den Kanalrohren. Die Industrie- und Handelskammer sieht noch Gesprächsbedarf, zum Beispiel, weil dann Parkplätze zur Anlieferung fehlen. Wir werden uns das noch genauer ansehen. (rhe)

+++ Auf der Baustelle der Mathilde-Anneke-Gesamtschule geht es weiterhin nicht so gut voran wie geplant. Statt im Herbst sollen die ersten Gebäude nun erst Anfang 2023 fertig werden. Und das Projekt wird teurer, die Kosten steigen um 8,6 Millionen auf insgesamt 78 Millionen Euro. Die Stadt informiert darüber in einer Pressemitteilung und gibt als Gründe unter anderem „schwierige Abstimmungen auf der Baustelle“ an, „die durch Lieferschwierigkeiten, etwa bei Dämmstoffen, sowie Personalengpässen bei den Firmen auf der Baustelle noch erschwert werden“. Vielleicht denken Sie jetzt: Na, immerhin informiert die Stadt direkt transparent über die Probleme. Dazu noch eine Ergänzung: Die Pressemitteilung ist von heute Morgen. Und heute Morgen erschien ein Artikel in den Westfälischen Nachrichten über die geschilderten Probleme, in dem auch steht, die Stadtverwaltung habe tagelang Nachfragen der Zeitung nicht beantwortet. (cbu)

+++ Oberbürgermeister Markus Lewe, Sportamtsleiterin Kerstin Dewaldt und Stadtwerke-Geschäftsführer Frank Gäfgen haben den Grundstein für das neue Südbad gelegt (hier ist das Beweisfoto). Der Bau des neuen Hallenbads wird insgesamt 13,5 Millionen Euro kosten, so schreiben die Stadtwerke es in der Pressemitteilung zu dem freudigen Ereignis. Wird es dabei denn bleiben – gerade werden ja alle Bauprojekte deutlich teurer? Ja, schreibt Stadtwerke-Sprecherin Lisa Schmees auf RUMS-Anfrage. Durch „Optimierungen am Gebäude“ sei es möglich, Kosten zu sparen: So bekomme das Gebäude beispielsweise eine Klinkerfassade statt einer kostspieligeren Sichtbetonfassade.

Und noch eine Zahl irritiert in der Pressemitteilung der Stadtwerke: „Das Bad wird im energieeffizienten KfW-55-Standard errichtet.“ Warum gilt für das Bad nicht der noch effizientere KfW-40-Standard, den zum Beispiel neue Wohngebäude erfüllen müssen (RUMS-Brief vom 13. Mai)? Das liege daran, dass Hallenbäder als Sonderbauten „nicht den hohen Effizienzstandards von Wohn- oder Bürogebäuden genügen“ müssten, schreibt Lisa Schmees dazu. „Es ist vielmehr so, dass wir uns sehr freuen, dass das Südbad dank Wärmerückgewinnung, effizienter Fernwärmeheizung und einer PV-Anlage auf dem Dach den KfW-55-Standard erreichen wird.“ Die Kinder, die dort schwimmen lernen sollen, freut das sicher auch. Das Klima war für ein Statement bisher noch nicht zu erreichen. (cbu)

+++ Die Stadt hat die Ergebnisse der Studie über den Flughafen Münster/Osnabrück veröffentlicht. Das Ergebnis in einem Satz: Die Fachleute empfehlen, den Flughafen neu aufzustellen, statt ihn zu schließen. Denn das würde laut Studie teuer. Den Ergebnisbericht finden Sie hier. Am Dienstag beschäftigen wir uns mit der Studie noch einmal etwas genauer. Und ein Ausblick auf Sonntag: In der Kolumne ist der Flughafen in dieser Woche ebenfalls Thema. (rhe)

+++ Seit einiger Zeit ist der Hamburger Tunnel leer. Die Stadt möchte die wild abgestellten Fahrräder um den Hauptbahnhof herum aufräumen und setzt sich dafür auch ein großes Ziel: 10.000 Stellplätze sollen dort ingesamt entstehen, um das Chaos zu beenden. Einen Teil der Stellplätze will die Stadt im alten Parkhaus am Bremer Platz ansiedeln. Der Unterschied ist aber nicht nur, dass die Radfahrenden ihre Fahrräder jetzt woanders abstellen sollen, sondern auch dafür zahlen müssen. Das Abstellen im Hamburger Tunnel war bisher nämlich gratis. Wie viel das aber kosten soll, konnte uns die Stadt auf Anfrage noch nicht mitteilen, über die Tarife berate man sich noch. (sfo)

Korrekturhinweis: In einer früheren Version des Briefs hieß es, die Stadt wolle am Hauptbahnhof 10.000 neue Stellplätze für Fahrräder schaffen. Das ist falsch. 10.000 Stellplätze sollen es ingesamt werden. Das haben wir verbessert.

+++ Parkplätze in Fahrradstellplätze umwandeln, war da nicht was? Im März 2021 hat die Stadt ein Umwidmungsprogramm gestartet: 1.000 neue Abstellmöglichkeiten sollen auf 100 Parkplätzen entstehen. Die Stadt rechnete damit, das Projekt auch im selben Jahr abschließen zu können. Wir haben nachgefragt, ob das geglückt ist. Die Antwort: Bis Mai hat die Stadt 20 Parkplätze in 150 Fahrradstellplätze umgewandelt. Also Mai 2022, nicht 2021. (sfo)

Wie es weiterging

Am Dienstag ging es im RUMS-Brief um den Streit zwischen Münster und dem Umland um eine dritte Gesamtschule in Roxel. Danach sprachen wir über das Thema noch einmal mit Christoph Kattentidt, dem Fraktionsvorsitzenden der Grünen. Er wies auf zwei Punkte hin. Der eine ist: Immer wieder gebe es neue Zahlen und neue Aspekte. Zu hundert Prozent könne aber niemand voraussagen, ob eine Schule im Bestand gefährdet sei. Auch für welche Schulen Eltern sich in Zukunft entscheiden werden, könne man schwer prognostizieren.
Der zweite Punkt: Seit Jahren müsse man in Münster Jahr für Jahr hunderten Eltern absagen, die für ihre Kinder gern einen Gesamtschulplatz hätten. „Es liegt in unserer Verantwortung, dass sie einen Platz bekommen“, sagte er. So schnell und mit so geringen Kosten wie in Roxel sei das an keiner anderen Stelle möglich. Daher könne man von der Stadt nicht erwarten, dass sie hier Rücksicht nehme. Die Gesamtschule in Havixbeck sei Münster natürlich nicht egal. Nur wenn die Kinder mit dem Bus von Gievenbeck nach Havixbeck gebracht werden müssten, dann sei das auch für die Eltern und ihre Kinder in Gievenbeck kein optimaler Zustand. Und da fühle man sich als Partei aus Münster vor allem den Eltern dort verpflichtet. (rhe)

Der Rürup
Cartoon von Stephan Rürup zu Windrädern

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Wie barrierefrei ist Münster?

Dienstagnachmittag, kurz vor 15 Uhr. Ich stehe an der Promenade und warte auf Wulf Greiling. Mit ihm bin ich zu einer Runde durch Münster verabredet. Greiling möchte mir zeigen, wie er die Innenstadt erlebt. Er nimmt sie ganz anders wahr als ich, das merke ich bei unserer Tour schnell.

Wenn ich mich auf den Weg in die Innenstadt mache, ziehe ich mir die Schuhe an und gehe los. Unterwegs ärgere ich mich vielleicht über E-Roller, die den Gehweg verstopfen, aber ein richtiges Hindernis sind sie für mich ehrlich gesagt nicht. Für Wulf Greiling, graues Haar und rauchige Stimme, ist das anders. Der 83-Jährige lebt mit Rollstuhl. Was für mich keine Hürde darstellt, kann ihn einschränken oder gar zur Gefahr werden. Achtlos abgestellte E-Roller zum Beispiel oder auch hohe Bordsteinkanten und Kopfsteinpflaster.

Mit den Hürden im Alltag will sich Wulf Greiling nicht abfinden. Seit über 40 Jahren, und damit fast sein halbes Leben lang, setzt er sich für ein barrierefreies Münster ein. Das mache er als Sprecher der AG 5, erzählt mir Greiling. Hinter dieser Abkürzung steckt eine Arbeitsgruppe der Kommission zur Förderung der Inklusion von Menschen mit Behinderung (KIB), die sich mit der Stadtplanung und dem Verkehr in Münster beschäftigt.

An welchen Stellen es noch hapert, will mir Greiling auf unserer Runde zeigen. So viel sei schon einmal gesagt: Wir werden uns viel über Kopfsteinpflaster und Bordsteinkanten unterhalten, aber auch über Fahrradstellplätze, den Busverkehr und Toiletten. Denn die Barrieren sehen sehr unterschiedlich aus und begegnen uns unterwegs immer wieder. Das ist auch kein Zufall. Den Weg, den Greiling und ich uns ansehen, nutzt die Stadt als Referenzroute. Aus den Lösungsansätzen für die Barrieren entlang dieser Runde soll ein Handlungskonzept für eine barrierefreie Innenstadt entstehen.

Die Route beginnt am…

Ludgerikreisel

Mir leuchtet sofort ein, warum die Stadt den Kreisverkehr in die Referenzroute aufgenommen hat: Er steht für die Anbindung an die Innenstadt mit dem Bus. Ich möchte wissen, ob Greiling auch mit dem Bus zu unserem Treffpunkt hätte anreisen können. Er ist nämlich mit seinem elektrischen Rollstuhl über die Promenade gefahren.

Theoretisch ja, antwortet er, das Ein- und Aussteigen sei an den meisten Bushaltestellen in Münster kein Problem. Auch am Ludgerikreisel nicht. Er selbst fahre allerdings ungern Bus, sagt Greiling, weil er sich dabei (anders als viele andere Rollstuhlfahrer:innen) oft unsicher fühle. Früher habe man einen Rollstuhl noch mit Gurten im Bus festschnallen müssen, erinnert sich Greiling, aber diese Zeit sei zum Glück vorbei.

Promenade

Vom Kreisverkehr geht es zurück zur Promenade. Dort ärgert sich Greiling über den ungeregelten Verkehr an der Querung. Er findet, an jeder Kreuzung sollten Ampeln stehen, nur so würden Rad- und Autofahrende Acht geben. Mit dem Rollstuhl die Straßenseite zu wechseln, sei an der Promenade oft gefährlich, sagt Greiling. Mit einem Zebrastreifen allein sei es nicht getan, weil manche Auto- und Radfahrer:innen eben doch nicht davor stehen bleiben.

Und Greiling sieht hier noch ein anderes Problem. Abends sei die Promenade an einigen Stellen zu dunkel, dort würde er sich mehr Licht wünschen. Sie müsse natürlich nicht taghell beleuchtet werden – aber eben so, dass er andere Verkehrsteilnehmer:innen und mögliche Hindernisse besser sehen könne. Allerdings sei die Stadt nur schwer davon zu überzeugen, mehr Lampen an der Promenade anzubringen, sagt Greiling. Die befürchte, dass sonst der Charakter der Allee verloren gehe.

Marienplatz und Königsstraße

Es geht weiter zur Innenstadt. Kurz vor der Ludgerikirche wechseln wir die Straßenseite. Dort ist eine Furt in das Kopfsteinpflaster eingelassen: Die Steine sind abgeschliffen und liegen enger aneinander, außerdem ist der Bordstein abgesenkt. Wulf Greiling kann so problemlos über die Straße fahren, weil der Rollwiderstand geringer ist als auf den Pflastersteinen. Als er am Marienplatz ankommt, zeigt er auf ein Rollstuhlsymbol im Boden, das die Furt markiert. Obwohl ich schon etliche Male über den Marienplatz gelaufen bin, ist mir dieses Symbol bisher nie aufgefallen.

Wir überqueren den Platz und wechseln wieder die Straßenseite mit einer Furt. Wulf Greiling fährt auf dem linken Gehweg der Königsstraße zu den Arkaden. Ich laufe hinterher, auf dem Bürgersteig ist es doch recht eng. Wie sich nach wenigen Metern herausstellt, hatte der Seitenwechsel einen Grund: Der Gehweg auf der rechten Seite wird an vielen Stellen für die Außengastronomie genutzt. „Da ist es noch enger“, sagt Greiling. Mit dem Rollstuhl daran vorbeizukommen, ist sehr schwierig oder gar nicht möglich.

Er ist die Referenzroute schon mehrmals für die KIB abgefahren, einmal begleiteten ihn Mitarbeitende des Ordnungsamts. Die hätten „jedes zweite Lokal“ ermahnt, ihre Schilder hereinzuholen oder die Tische zu verrücken, damit mehr Platz ist für die Rollstuhlfahrer:innen. Denn laut Ordnungsamt sollen auf dem Gehweg mindestens 1,80 Meter frei bleiben, damit sich jede:r ohne Probleme darauf fortbewegen kann. So viel Platz bliebe aber auf der anderen Straßenseite fast nirgendwo.

Geisbergweg und Domplatz

Vor den Arkaden kreuzen sich die Königsstraße und die Rothenburg. Die Kreuzung ist ausgebaut wie eine Furt, eigentlich sollte Greiling problemlos in die Arkaden gelangen, um dort einkaufen zu können. Aber die Furt ist um die Adlerskulptur herum zugestellt mit Fahrrädern. Manches Hinterrad verdeckt das Rollstuhlsymbol im Boden, das den Weg ja eigentlich freihalten soll.

Solche wild geparkten Fahrräder machen Greiling wütend, nicht nur an dieser Stelle. Die Innenstadt bräuchte mehr Stellplätze, findet er. Den Fahrrädern am Adler will er ausweichen, aber auf den Gehwegen ist es wieder einmal zu eng. Er zeigt auf den hohen Bordstein vor der Sparkasse. „Hier hätte ich Angst, herunterzufallen“, sagt Greiling.

Wir ändern deshalb die Richtung und setzen den Spaziergang auf der Referenzroute fort. Greiling fährt über die Furt und die Rampe am Geisbergweg, ich nehme die Treppe daneben. Gerade sind dort nur wenige Menschen unterwegs, Greiling beschleunigt und fährt mir davon. Erst auf der Höhe des Café Fyal hole ich ihn wieder ein. Barrierefreiheitstest bestanden, würde ich sagen.

Vor dem Dom ist gerade nichts los, es ist ja auch Dienstag. Ich frage Greiling, ob er als Rollstuhlfahrer in Ruhe den Markt besuchen würde. Das könne er, antwortet er, die Gänge seien breit und die meisten Leute nähmen Rücksicht. Er müsse sich aber auf das holprige Kopfsteinpflaster gefasst machen und das störe ihn zu sehr. Die KIB würde deshalb gerne Beton zwischen die Pflastersteine spritzen lassen, um den Domplatz zumindest barrierearm zu gestalten. Dasselbe fordert die Kommission auch für den Prinzipalmarkt. Bisher stoße der Vorschlag bei der Stadt aber auf Widerstand.

Wir bleiben auf dem Gehweg. Vor dem Marktcafé ärgert sich Greiling über zwei Belüftungsrohre, die mitten auf dem Bürgersteig aus dem Boden ragen und aussehen wie Pilze mit Hut. Wenn viel los sei, könne Greiling kaum ausweichen, sagt er. Und zwischen der Bordsteinkante und den beiden Pilzrohren bleibe nur sehr wenig Platz. Da bekomme Greiling Angst, schlimmstenfalls auf die Straße zu fallen.

Am Domplatz gibt es noch ein anderes Problem: Die öffentliche Toilette ist nur über eine steile Treppe erreichbar. Die Stadt habe dort eine behindertengerechte Toilette aufgestellt, auch am Ludgerikreisel gebe es eine, sagt Greiling.

Preisfrage: Wissen Sie aus dem Kopf, wo genau diese Toiletten zu finden sind? Wenn nicht, dann geht es Ihnen wie vielen Menschen mit Behinderungen. Die wüssten oft selbst nicht, wo sie in der Stadt zur Toilette könnten, sagt Greiling. Die einfachste Lösung sei es, mehr Schilder anzubringen.

Prinzipalmarkt

Wulf Greiling fährt an der Bezirksregierung vorbei zum Prinzipalmarkt. Dort sehen wir dieselben Barrieren wie auf dem Domplatz: unzählige Pflastersteine, die Rollstuhlfahrer:innen beim Überqueren der Straße durchschütteln. Hier wünscht sich die KIB stattdessen eine Furt, aber die Stadt habe ihre Vorbehalte, sagt Greiling. Ein ganzes Stück rechts und links vom historischen Rathaus gibt es am Prinzipalmarkt schon solche Furten, bei der Lambertikirche und an der Mündung in die Ludgeristraße.

Den Umweg über eine dieser beiden Furten spart sich Greiling allerdings und fährt direkt hinüber zum historischen Rathaus, allem Geruckel zum Trotz. Vor dem Ratskeller ist der Bordstein abgesenkt, Greiling fährt weiter geradeaus. Zwischen dem Stadtweinhaus und dem Rathaus zeigt er mir einen Fahrstuhl, mit dem Rollstuhlfahrer:innen ins Rathausgebäude gelangen können. Den habe die KIB durchgesetzt. Ausgeschildert ist der behindertengerechte Zugang aber nicht. Es würden auch erstmal keine Schilder kommen, sagt Greiling, denn die Stadt wolle den Lift erst dann ausweisen, wenn er durch ein moderneres Gerät ersetzt worden sei.

Und wie sieht es mit den Eingängen zu anderen Gebäuden am Prinzipalmarkt aus? Können Menschen mit Rollstuhl mühelos shoppen oder essen gehen? Teils, teils, antwortet Greiling. Es gebe immer noch einige Geschäfte und Restaurants, die er nicht besuchen könne, die seien aber eher die Ausnahme. Wer es genau wissen will, kann sich einmal die Innenstadt auf der sogenannten Wheelmap ansehen.

Während wir uns zur nächsten Station auf der Referenzroute bewegen, fährt ein Bus an uns vorbei. Ich frage Greiling, ob er sich weniger Verkehr im Zentrum wünscht. Er findet, Busse sollten auf keinen Fall aus der Innenstadt verschwinden. Viele Menschen mit Behinderungen, die außerhalb wohnen, seien auf sie angewiesen. Mit der Idee einer autofreien Innenstadt könne er sich dagegen anfreunden, sagt Greiling.

Viel wichtiger sei ihm aber ein härteres Durchgreifen beim Gehwegparken. Dass viele Autofahrer:innen ihre Fahrzeuge „rücksichtslos“ auf dem Gehweg abstellten, ärgere ihn maßlos. Schon dreimal wurde er von der Polizei auf dem Nachhauseweg angehalten, weil er notgedrungen auf der Straße fahren musste. Er konnte schließlich durchsetzen, dass die Stadt einige Poller vor dem Altenheim aufstellt, in dem er lebt, und der Bürgersteig auf diese Weise frei bleibt.

Ludgeristraße

Zum Schluss zeigt mir Wulf Greiling die Ludgeristraße. In den 1980er-Jahren wurde sie als erste Straße in Münsters Innenstadt barrierefrei umgebaut. Zumindest nach damaligen Standards. Heute würde man die Ludgeristraße anders gestalten, sagt Greiling und zeigt auf die Bäume, die auf der Straße stehen. Sie seien vor allem für blinde Menschen ein Problem, weil sie unerwartete Barrieren auf einem sonst freien Weg seien. Die Ludgeristraße bräuchte deshalb ein Blindenleitsystem vor den Bäumen. In Sachen Blindenleitsysteme habe Münster generell an einigen Stellen in der Innenstadt noch Nachholbedarf, sagt Greiling. Zum Beispiel überall dort, wo Restaurants und Cafés draußen ihre Tische aufstellen.

Was Münster von Telgte lernen kann

Wir sind wieder da, wo unsere Runde angefangen hat: an der Promenade. Wie würde Wulf Greiling die Tour bewerten? Welche Schulnote würde er der Innenstadt im Fach Barrierefreiheit erteilen? „Eine 3“, antwortet Greiling. „Wenn nicht sogar eine 3+.“ In den vier Jahrzehnten, in denen er sich für ein barrierefreies Münster engagiert, habe die KIB schon vieles erreicht. Die Stadt reagiere auch mit offenen Ohren auf die Vorschläge. Aber es sei noch Luft nach oben.

Ich habe bei der Stadt nachgefragt, wie die noch bestehenden Barrieren in Münsters Innenstadt abgebaut werden sollen. Konkretes steht noch nicht fest. Für das Handlungskonzept habe die Stadt ein Büro beauftragt, das anhand der Referenzroute Lösungen ausarbeiten soll. Die Verwaltung werde dann die Maßnahmen priorisieren und klären, ob und welche Fördermittel Münster bekommen könnte. Ende des Jahres soll ein Entwurf für ein neues Entwicklungskonzept für die Innenstadt fertig sein, über den dann die Politik diskutieren und abstimmen wird.

Wer sich in der Zwischenzeit einmal ansehen möchte, wie eine barrierefreie Innenstadt aussieht, könnte zum Beispiel einen Ausflug zum Marktplatz in Telgte machen. Von 2013 bis 2018 hat die Stadt ihre Innenstadt barrierefrei umgestaltet. Diese fünf Jahre Planung und Umbau kommen Wulf Greiling vor wie eine Umgestaltung im Hauruckverfahren. Über die eine oder andere Furt in Münster habe er fast zwanzig Jahre mit der Verwaltung diskutiert.

Wolfgang Pieper, der Bürgermeister von Telgte, sagt mir in einem Telefonat aber, dass der barrierefreie Umbau der Stadt 2013 gar nicht das primäre Ziel war. Die Stadtwerke wollten damals Leitungen erneuern, und bei dieser Gelegenheit habe Telgte dann auch gleich die Barrieren in der Innenstadt beseitigt.

Kompromisse zwischen Barrierefreiheit und Stadtflair

Für die Planung habe sich die Stadt drei Jahre Zeit gelassen, berichtet Pieper. In dieser Phase habe die Stadt mit Anwohnenden und Gewerbetreibenden Argumente ausgetauscht und Bürgerbeteiligung ermöglicht. So habe Telgte etwa Stadtspaziergänge organisiert, damit sich nichtbehinderte Menschen in die Lage von Menschen mit Behinderung einfühlen könnten. Das Projekt Barrierefreiheit habe auch dadurch großen Anklang gefunden, sagt Pieper.

Vor dem Umbau sei der Marktplatz vor allem wegen des Kopfsteinpflasters und des Stadtmobiliars wie Telefonzellen, Laternen und Bänken für körperlich eingeschränkte Menschen nicht zugänglich gewesen. Das Mobiliar habe man zum Großteil „entrümpelt“, beim Pflaster habe Telgte eine genauso pragmatische Lösung gefunden, sagt Pieper. Die Pflastersteine habe man Schritt für Schritt ausgebaut und abgeschliffen. Dadurch ist der Marktplatz heute immerhin barrierearm. Und die alten Steine wiederzuverwenden, sei die bessere Lösung gewesen, sagt Pieper. Bei neuem Material stellten sich zu viele Fragen: Woher kommen die Steine? Wie sind sie zertifiziert? Steckt in ihnen womöglich Kinderarbeit?

Diese Kompromisslösung hat aber auch etwas mit dem Flair in der Telgter Innenstadt zu tun, sagt Pieper. Den baulichen Charakter wollte die Stadt nämlich auch nach dem barrierefreien Umbau erhalten. Deshalb habe man sich letztlich auch gegen ein Blindenleitsystem entschieden, aber auch dafür eine Lösung gefunden: Blinde Menschen können sich am Marktplatz in Telgte an der Wasserrinne orientieren.

Die Umgestaltung habe sich für Telgte insgesamt gelohnt, sagt Pieper. An dem Prozess hätten sich viele verschiedene Gruppen beteiligt und die Stadt habe Aufmerksamkeit von außerhalb auf sich gezogen. Interessierte Politiker:innen und Verbände aus anderen Städten seien nach Telgte gekommen, um sich die barrierearme Innenstadt einmal anzusehen. (sfo)

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Post von Leser:innen

Wir haben Post bekommen zu unserem Brief über die geplante Baumschutzsatzung (RUMS-Brief vom 27. Mai). Thomas Bauer kritisiert, dass es in der Satzung nur darum gehen soll, Bäume nicht eigenmächtig zu fällen, nicht aber um echten Schutz der Pflanzen. Und Sonja Völker, die Mitglied bei den Grünen ist, vermutet, dass manche Menschen gar nicht erst einen Fällantrag stellen, wenn sie keinen triftigen Grund haben. Dann könnte die Satzung mehr Bäume bewahren, als sich aus offiziellen Statistiken ablesen lässt – und damit auch mehr, als wir in unserem Text unterstellt haben. Beide Briefe finden Sie hier.

Corona-Update

+++ Seit Dienstag hat die Stadt drei neue Todesfälle im Zusammenhang mit Covid-19 registriert. Insgesamt sind seit Pandemiebeginn 209 Menschen aus Münster gestorben, die mit dem Coronavirus infiziert waren. (cbu)

+++ Das Robert-Koch-Institut meldet heute eine Wocheninzidenz von 423. Seit gestern hat die Stadt 273 Neuinfektionen registriert, insgesamt gelten 1.985 Menschen aus Münster als infiziert. Laut Divi-Intensivregister werden in den Krankenhäusern der Stadt zwei Covid-Patient:innen auf der Intensivstation behandelt, eine Person muss beatmet werden. (cbu)

+++ Und noch ein Hinweis: Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung hat auf einer neuen Website viele Informationen über Long Covid (Beschwerden, die nach einer akuten Coronainfektion noch einige Wochen oder Monate anhalten) zusammengestellt. (cbu)

Ein-Satz-Zentrale

+++ Die Uniklinik hat bei einem Mann aus Coesfeld die zweite Affenpocken-Infektion in der Region festgestellt. (Antenne Münster)

+++ Der erste von 13 Kegelbrüdern aus Münster, die unter Verdacht standen beziehungsweise stehen, für ein Feuer in einer Bar auf Mallorca verantwortlich zu sein, ist offenbar frei. (Bild)

+++ Wegen des Pfingstwochenendes verschieben sich die Termine der Müll- und Sperrgutabfuhr in der nächsten Woche oder entfallen ersatzlos. (Stadt Münster)

+++ Ein neues „Arbeiterwohnhaus“ am Domplatz soll Erwerbstätigen helfen, die von Wohnungslosigkeit betroffen sind. (Stadt Münster)

+++ Die Stadtwerke schicken zum Pride-Monat im Juni einen Elektrobus in Regenbogenfarben durch Münsters Straßen. (Stadtwerke Münster)

+++ Münsters Ratsmitglieder sollen Aufwandsentschädigungen für Tätigkeiten in Aufsichtsräten der städtischen Betriebe bekommen. (Westfälische Nachrichten)

+++ Das Windrad Loevelingloh ist schon wieder bei einer Lärmschutzmessung der Bezirksregierung durchgefallen. (Westfälische Nachrichten)

+++ Drei Gründer:innen der FH Münster haben einen essbaren Kaffeebecher aus beschichtetem Waffelteig erfunden. (FH Münster)

+++ Eine Firma aus Hiltrup probiert seit einem Jahr erfolgreich die Vier-Tage-Woche aus. (WDR)

+++ Viele Betriebe bieten noch offene Ausbildungsstellen an. (Arbeitsagentur Ahlen-Münster)

+++ Im Kreuzviertel werden wieder Schrotträder gesammelt. (Westfälische Nachrichten)

+++ Früher als geplant ist das Flugzeug wieder auf dem Spielplatz am Coerdeplatz gelandet. (Stadt Münster)

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Hier finden Sie alle unsere Empfehlungen. Sollte Ihnen ein Tipp besonders gut gefallen, teilen Sie ihn gerne!

Drinnen und Draußen

Was ist am Wochenende los? Viktoria Pehlke hat für Sie in den Veranstaltungskalendern geblättert. Das hier sind ihre Empfehlungen:

+++ Techno für den guten Zweck gibt es heute ab Mitternacht beim Sommerrave im Amp. Initiator ist der Verein Tagtraeumer, der Spendenaktionen für junge Menschen ansprechend gestalten will.

+++ Wer am Pfingstsonntag noch nichts vor hat, kann sich an der nächsten Müllsammelaktion des Hansaforums beteiligen. Die startet um 13 Uhr am Hafenplatz.

+++ Soul, Funk, Pop und Disco hören Sie heute im Mondhund Schallplattencafé. Ab 19 Uhr legt Lady Macbeat in der Wolbecker Straße 128 auf. Die Veranstaltung ist bis 23 Uhr geplant, perfekt also für einen entspannten Freitagabend.

+++ Die Filmemacherin Ulrike Ottinger feiert am Montag ihren 80. Geburtstag. Sie gilt als brillante Künstlerin – und ist dennoch in Deutschland weitgehend unbekannt. Die Linse zeigt am Pfingstmontag um 10:45 Uhr im Cinema ihren Film „Paris Calligrammes“. Das Werk erzählt von ihrer Zeit als Malerin im Paris der Sechzigerjahre.

+++ Für ein Wochenende im Grünen eignet sich ein Ausflug in den botanischen Garten. Nach drei Jahren Coronapause stellen die „Kakteenfreunde Münster“ zum 120. Mal ihre Kakteen und Sukkulenten aus. Von 10 bis 17 Uhr gibt es von Pfingstsamstag bis -montag Pflanzen zu bestaunen und zu kaufen.

+++ Nebenan im Schlossgarten können am Samstag Kinder und Jugendliche von vier bis 14 Jahren am Eröffnungstag des Kindercamps Q.Uni teilnehmen. Die Mitmachausstellung bietet Workshops und Exponate zu verschiedenen Themen der Wissenschaft. Mehr Infos zur ganzen Veranstaltung gibt es hier.

Am Dienstag schreibt Ihnen Ralf Heimann. Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende. Es soll ja sehr sonnig werden.

Herzliche Grüße
Sebastian Fobbe

Mitarbeit: Constanze Busch, Jan Große Nobis, Ralf Heimann, Viktoria Pehlke
Lektorat: Melanie Kelter

PS

Das Deutsche ist eine Sprache, in der Satzzeichen Leben retten können. „Hängt ihn, nicht laufen lassen!” ist bekanntlich das genaue Gegenteil von „Hängt ihn nicht, laufen lassen!” Kürzlich ist auch Zeit Online in die deutsche Satzzeichenfalle getappt. Das Magazin berichtete über das Panzermuseum Münster. Wie bitte? Ein Panzermuseum? Hier in Münster? Hören Sie bloß auf zu googeln. Die Zeit hat über dem „u” ganz einfach zwei Pünktchen zu viel gesetzt. Und erst als sich das echte Panzermuseum in Munster (!) über die Verwechslung beschwerte, hat die Zeit den Fehler korrigiert. Sie sehen: Satzzeichen retten nicht nur Leben, manchmal liegen im Deutschen zwischen zwei Pünktchen auch gut 220 Kilometer.

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