Bundestagswahl: Wird grün wieder schwarz? | Test mit elektronischer Patientenakte | Unbezahlte Werbung: Café im Schlosstheater

Porträt von Sebastian Fobbe
Mit Sebastian Fobbe

Guten Tag,

wenige Tage vor der Bundestagswahl urteilt die Politikwissenschaftlerin Natascha Strobl, noch nie sei eine deutsche Wahl so wichtig gewesen wie diese. Man kann diese Aussage übertrieben finden. Oder auch kurios, denn als Österreicherin ist Strobl gar nicht wahlberechtigt. Aber wenn Sie mich fragen, trifft der Kommentar einen wahren Kern: Der Rechtsruck und die Krisen bewegen offensichtlich viele Menschen.

Auch das Wahlteam in Münster beobachtet ein großes Interesse an der Bundestagswahl. Das lässt sich etwa an der bisherigen Wahlbeteiligung ablesen: Schon jetzt haben 22.000 Menschen ihre Stimme im Wahlbüro der Stadt abgegeben. Bei der letzten Bundestagswahl 2021 waren es insgesamt über 24.000, die im Wahlbüro abgestimmt haben. Laut Stadt könnte dieser Spitzenwert in diesem Jahr übertroffen werden. Heute Nachmittag war um 15 Uhr die letzte Möglichkeit zur vorzeitigen Stimmabgabe vor Ort.

Insgesamt haben 90.000 Wähler:innen Briefwahl beantragt. Von den rund 240.000 Wahlberechtigten in Münster ist das eine ganze Menge. Dennoch, schreibt uns das Presseamt auf Nachfrage, gehe die Stadt von einem großen Andrang am Sonntag aus. 2021 lag die Beteiligung an der Bundestagswahl in Münster bei überdurchschnittlich hohen 83,9 Prozent.

Aber wie sieht die Stimmung im Wahlkreis Münster aus? Umfragen dazu gibt es einige. Die sagen ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen der CDU und den Grünen um das Direktmandat in Münster voraus. Im schwarzdominierten Wahlkreis Münster konnten die Grünen 2021 erstmals die meisten Erst- und Zweitstimmen auf sich vereinigen.

Ob sich das wiederholt, ist eine der spannenden Fragen bei dieser Wahl. Ein Stimmungstest, den das Heidelberger Sinus-Institut Ende Januar herausgegeben hat, deutet auf einen interessanten Trend hin. Demnach punktet ausgerechnet CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz gerade in den grünen Milieus.

Seit den 1980er-Jahren untersucht das Sinus-Institut das Stimmungsbild in Deutschland. Dazu teilen die Forscher:innen die Bevölkerung in verschiedene Milieus auf, die je nach Wertvorstellungen, Lebensstilen und sozialer Lage gruppiert werden. Unterm Strich unterscheidet das Sinus-Institut zehn solcher Milieus.

Bei der letzten Umfrage, die zusammen mit den Meinungsforscher:innen von „YouGov“ entstanden ist, stellte das Sinus-Institut fast 2.200 Personen die berühmte K-Frage. Auffällig, aber vielleicht nicht überraschend ist: In keinem Milieu erreicht Amtsinhaber Olaf Scholz die alleinige Mehrheit. Eine richtige Überraschung ist dagegen: In drei progressiven Milieus führt zwar Grünen-Kanzlerkandidat Robert Habeck, doch der Abstand zu dem CDU-Konkurrenten Friedrich Merz ist hauchdünn.

Zoomen wir mal rein. Vier von zehn Befragten, die dem expeditiven (lies: urban-hippen) Milieu zugerechnet werden, sagen, ihr Favorit fürs Kanzleramt sei Friedrich Merz. Auf einen ähnlich guten Wert kommt der CDU-Kanzlerkandidat im sogenannten neo-ökologischen Milieu, das sich vor allem um den Zustand unseres Planeten sorgt.

Den geringsten Zuspruch im progressiven Spektrum findet CDU-Kandidat Merz im postmateriellen Milieu. Schlecht ist sein Ergebnis aber nicht: Ein Viertel der Postmateriellen sagt immerhin, dass Merz ihr Wunschkanzler sei. Dem postmateriellen Milieu sind Nachhaltigkeit und Diversität in der Gesellschaft extrem wichtig. Klassisch grüne Themen.

Auch insgesamt schneidet Friedrich Merz mit 40 Prozent in der Sinus-Umfrage am besten ab. Silke Borgstedt, die Geschäftsführerin des Sinus-Instituts, erklärt den Erfolg der CDU damit, dass ihr Kanzlerkandidat als „Führungspersönlichkeit mit klar geäußerten Positionen wahrgenommen“ wird. Solche Typen kommen traditionell in konservativen und leistungsorientierten Milieus an, aber auch in der modernen Mitte. Neu ist allerdings, dass ein CDU-Kandidat auch bei progressiven Wähler:innen punkten kann.

Allerdings: Einen klaren Favoriten fürs Kanzleramt sieht die Sinus-Studie nicht. 40 Prozent für Merz, dahinter kommen 33 Prozent für Olaf Scholz und 31 Prozent für Robert Habeck. Ob die CDU den Grünen in Münster nicht nur das Direktmandat, sondern auch Zweitstimmen abluchsen kann, erfahren wir am Sonntagabend.

Falls Sie noch auf den letzten Metern Rat suchen, haben wir mit dem Wahlkompass und unserem Kandidat:innenencheck zwei Entscheidungshilfen für Sie. (sfo)

Kurz und Klein

+++ Apropos Bundestagswahl: Am Sonntag bringt die SPD ältere und mobilitätseingeschränkte Menschen von 8 bis 18 Uhr mit einem Wahltaxi an ihr Wahllokal. Wenn Sie eine Fahrt buchen wollen, können Sie das Taxi unter 0251-77099 anrufen. (sfo)

+++ Der Tourismus in Nordrhein-Westfalen freut sich über ein Rekordjahr: 2024 sind nach Angaben des Statistischen Landesamts 24,5 Millionen Übernachtungsgäste ins Bundesland gekommen. Besonders beliebt sei der Campingurlaub. Die Campingplätze konnten sogar 26 Prozent Gäste mehr als 2019 verzeichnen, also vor Corona. Kein Wunder, schon eine Umfrage des ADAC vor eineinhalb Jahren verriet: Das liebste Ziel der deutschen Camper:innen ist ihr eigenes Land. Bis sie Nordrhein-Westfalen für sich entdeckt haben, hat es wohl einfach nur ein bisschen gedauert. Andere Bereiche des Tourismus schaffen es den Zahlen des Statistischen Landesamts zufolge nur knapp über das Vor-Corona-Niveau. Der erhoffte Andrang durch die Fußball-EM im vergangenen Sommer blieb in Münster aus. In die Stadt kamen insgesamt knapp 800.000 Gäste. Das sind zwar 6,2 Prozent mehr als im Vorjahr, die Steigerung war in den vergangenen Jahren allerdings deutlich höher: 2023 mit 18 Prozent und 2022 nach dem Corona-Tief mit 72 Prozent. Dafür wurden Münsters Tourist:innen nach Angaben der Stadt internationaler mit deutlich mehr Gästen aus den Niederlanden, Großbritannien, Belgien und den USA, während Kongresse und Tagungen weiterhin ein wichtiger Wirtschaftsfaktor blieben. Das bestätigt auch die Halle Münsterland. Die ist mit rund 530.000 Besuchenden wieder auf Vor-Corona-Niveau. (ani)

+++ Der Wahlkompass der Uni Münster ist bislang 450.000 Mal aufgerufen worden, meldet Norbert Kersting vom Institut für Politikwissenschaft. Er hoffe, dass die halbe Million noch erreicht werde. Vor vier Jahren standen am Ende 480.000 Aufrufe. Kurz vor der Wahl hat Kersting aus den zugrundeliegenden Daten in einer Übersicht die Positionen der Parteien zu zehn ausgewählten Themen zusammengestellt. Die Grafik zeigt vor allem bei wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen eine sehr deutliche Trennlinie zwischen CDU, FDP, AfD und den übrigen Parteien. Eine weitere Übersicht illustriert die inhaltlichen Übereinstimmungen aller Parteien mit der CDU, ohne die nach aktuellen Umfragen wohl keine Regierung möglich ist. Die größten inhaltlichen Schnittmengen ergeben sich demnach mit der AfD (75 Prozent), mit der FDP (73 Prozent) und mit dem BSW (37 Prozent). Mit der SPD und den Grünen teilt die CDU 29 und 27 Prozent der Inhalte, mit den Linken 18. (rhe)

+++ Ein Mietendeckel könnte die Spannungen am Wohnungsmarkt in Münster entschärfen. Zu diesem Ergebnis kommt eine neue Studie des Soziologen Andrej Holm, der für die linksparteinahe Rosa-Luxemburg-Stiftung die möglichen Auswirkungen eines Mietendeckels in 25 deutschen Großstädten untersucht hat. In sieben Städten herrscht laut Studie eine Wohnnotlage. Münster ist eine davon: Hier zahlen Mieter:innen zwar weniger als 7 Euro pro Quadratmeter Bestandsmiete, aber bei neuen Verträgen werden durchschnittlich 12,30 Euro pro Quadratmeter fällig. Münster sei zudem eine wachsende Stadt mit relativ wenig Neubau, öffentlich geförderten Wohnungen und geringem Leerstand. Die Studie empfiehlt deshalb einen Mietendeckel in Münster, um eine Höchstgrenze für Neumieten einzuführen und die Mietsteigerungen abzudämpfen. Ein Haken an der Sache, den die Studie auch thematisiert:, Ein Mietendeckel könnte die privaten Investitionen in Neubau bremsen. Das ifo-Institut, das der Immobilienwirtschaft nahe steht, kommt in einer anderen Studie zu dem niederschmetternden Fazit, der kurzzeitige Mietendeckel in Berlin habe alles nur noch schlimmer gemacht. (sfo)

+++ Der Deutsche Gewerkschaftsbund, kurz DGB, hat in der vergangenen Woche in einer Pressemitteilung die Entscheidung der SPD kritisiert, die Münsteraner Erklärung zum Umgang mit der AfD nicht zu unterzeichnen. Zitiert wird in der Mitteilung DGB-Chefin Pia Dilling, deren SPD-Mitgliedschaft thematisiert wird. Verfasst hat die Pressemitteilung Carsten Peters, der stellvertretende DGB-Chef, der in der Stadt ebenfalls mehrere Funktionen hat. Er sitzt für die Grünen im Rat, ist Mitglied oder stellvertretendes Mitglied in zwei Dutzend 25 städtischen Gremien. Das belegt sein „vorbildliches Engagement“ für die Stadt, das der Oberbürgermeister im vergangenen Jahr zum 50. Geburtstag von Peters gelobt hat. Carsten Peters ist auch Geschäftsführer der Bildungsgewerkschaft GEW. Und – das wäre in diesem Fall interessant gewesen – er ist Sprecher des Bündnisses „Keinen Meter den Nazis“, das in Münster Demonstrationen organisiert und die Münsteraner Erklärung initiiert hat, um die es in der Pressemitteilung ging. Carsten Peters kritisiert also im Namen des DGB, dass eine andere Partei als seine eigene eine Erklärung nicht unterzeichnet hat, die er selbst mitinitiiert hat. Am Telefon sagt Peters, er sehe darin kein großes Problem. Seine Funktionen seien ja öffentlich. Und es müsse möglich sein, sich in verschiedenen Funktionen zu bestimmten Themen zu äußern. Das stimmt, das muss möglich sein. Aber es muss auch möglich sein, so etwas zu erkennen, ohne alle Beteiligten erst mal zu googeln. (sfo/rhe)

Wie es weiterging

… mit der Verpackungssteuer

Nachdem das Bundesverfassungsgericht grünes Licht für eine kommunale Verpackungssteuer gegeben hat (RUMS-Brief), fordern die Linksfraktion und die Internationale Fraktion eine solche Abgabe in einem Ratsantrag zum sofortigen Beschluss. Sollte der Rat in der nächsten Sitzung am Mittwoch zustimmen, müsste die Verwaltung spätestens Anfang 2026 ein Konzept für die neue Steuer vorlegen. Um den Müll durch Einwegverpackungen zu reduzieren, soll laut Antrag auch ein Mehrwegsystem mit der Gastronomie entwickelt werden. Im Vorfeld hatten zwei Bürgeranträge auch eine Verpackungssteuer gefordert. Auch das Ratsbündnis aus Grünen, SPD und Volt hat die Steuer in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart. Die FDP und die Mittelstandsunion der CDU lehnen eine Verpackungssteuer allerdings ab. (ani/sfo)

Anonymer Briefkasten

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„Die Verantwortung ist jetzt beim Patienten“

Die elektronische Patientenakte soll Gesundheitsdaten transparent machen. In Münster ist eine der wenigen deutschen Testpraxen. Jakob Milzner hat sie für RUMS besucht.

Im Sprechzimmer seiner Praxis am Kappenberger Damm guckt der Hausarzt Peter Münster suchend um sich, bis sein Blick auf einen Stapel Briefe fällt, der vor ihm auf dem Schreibtisch liegt. Die Post von einem halben Tag, erklärt er, während er mit dem Briefstapel herumwedelt. „Und ich“, sagt Münster, „muss das rausfiltern, was wichtig ist.“

Schon heute produziert das Gesundheitssystem eine Flut an Patientendaten. Das soll der Briefstapel deutlich machen. Und gerade rollt mit der elektronischen Patientenakte, kurz „ePA“, die nächste große Datenwelle auf die Arztpraxen zu.

Peter Münster ist einer der wenigen, die auf dieser Welle surfen, noch bevor sie richtig da ist. Seine Praxis ist eine von rund 230 in Nordrhein-Westfalen, Franken und Hamburg, in denen die E-Akte seit dem 15. Januar getestet wird.

Für ihn, sagt Münster, bringe Digitalisierung vor allem Zeitersparnis. Schon das E-Rezept habe seinen Angestellten rund drei Stunden Arbeitszeit pro Woche eingespart. Bei ihm komme nochmal eine halbe Stunde dazu, da er so zum Beispiel hundert Rezepte auf einmal signieren könne.

Der Hausarzt spricht auch über die Vorteile der E-Akte, und es klingt nach etwas sehr Großem. „Wir werden dieses Gesundheitssystem nur digital retten oder gar nicht“, sagt er und beugt sich über den Schreibtisch. Es gebe immer mehr Alte und damit auch mehr Kranke im Land. In einer alternden Gesellschaft, sagt Münster, sei Digitalisierung für die Praxen „eine Notwehrmaßnahme“.

Und nun soll also die E-Akte den Praxen dabei helfen, ihre Patienten effizienter zu behandeln. Worum aber geht es genau?

Ein digitaler Schuhkarton

In älteren Versionen existierte die elektronische Patientenakte schon länger – allerdings nur für jene, die sich aktiv darum bemühten. Das hat sich nun geändert. Seit dem 15. Januar haben die Krankenkassen für alle gesetzlich Versicherten, die nicht widersprochen haben, rund 70 Millionen Akten angelegt.

In der E-Akte sollen persönliche Gesundheitsdaten zentral gesammelt werden. Das können Arztbriefe, Medikamente, Befunde oder auch Röntgenbilder sein. Auf all das hat der Versicherte zunächst einmal selbst Zugriff – und in dem Moment, in dem er seine Versichertenkarte beim Arzt, Apotheker oder in der Klinik einliest, öffnet er seine Akte auch für diese sogenannten Leistungserbringer.

Aktuell ist der Umfang der E-Akte noch äußerst begrenzt. Peter Münster beschreibt sie als eine Art digitalen Schuhkarton, in den Ärzte und Patienten alles Mögliche reinwerfen können.

Ein großes Durcheinander also, zumal aus hochsensiblen Daten. Gespeichert werde die E-Akte daher laut Bundesgesundheitsministerium auf Servern in Deutschland, die höchste Sicherheit gewährleisten sollen.

Damit nur zugreifen kann, wer auch zugreifen darf, sind die Beteiligten mit allerhand Technik ausgestattet, die eine Praxis wie die von Münster zu einer kleinen Hochsicherheitszelle macht. Die E-Akte baut dabei auf ein bestehendes Netz zwischen deutschen Gesundheitsdienstleistern auf, die Telematikinfrastruktur, kurz TI.

„Alle Gesundheitsakteure, die sich darin tummeln, sind mehrfach autorisiert“, sagt Münster. Wer hinein wolle, brauche einen Arztausweis, um sich anzumelden, ein Kartenlesegerät und einen Konnektor, also einen speziellen Router, über den die Praxen auf die TI zugreifen.

So viel Technik soll für den Moment genügen. Schließlich geht es Peter Münster in erster Linie um den Nutzen, den die E-Akte für ihn und seine Patienten hat.

Schnell, effizient, aber sicher?

Und da ist zunächst der schnellere Austausch. Mit der E-Akte hat Münster jede Menge Patientendaten von anderen Ärzten zur Verfügung, ohne dafür zu telefonieren, E-Mails, Briefe oder gar Faxe zu verschicken. Ohne diese Daten müsste er an vielen Stellen darauf vertrauen, dass die Informationen stimmen, an die seine Patienten meinen, sich erinnern zu können.

Die E-Akte soll helfen, unnötige Doppeluntersuchungen zu vermeiden: Oft werden Patienten mehrfach untersucht, weil verschiedene Praxen nicht vernetzt sind und jede dasselbe Programm durchführt.

Kann ein Arzt sehen, welche Medikamente ein Patient nimmt, kann er das zudem bei der Vergabe weiterer Mittel berücksichtigen.

All diese Vorteile werden aber durch Daten möglich, die weit in die Intimsphäre der Versicherten hineinreichen. Sind diese Daten also wirklich so sicher?

Ende Dezember machte der Chaos Computer Club (CCC) öffentlich, dass es seinen Fachleuten gelungen war, sich massenhaft Arztausweise zu besorgen und damit potenziell Zugriff auf alle bei diesen Ärzten gespeicherten Patientenakten zu bekommen. Die Experten vom CCC schafften es auch, die Sicherheitsschlüssel in den Versichertenkarten nachzumachen – ohne im Besitz dieser Karten zu sein. Damit, verkündete der CCC, könne man alle 70 Millionen Patientenakten stehlen.

Der Aufschrei war groß. Susanne Berwanger, Vizepräsidentin des Berufsverbands Deutscher Psychologinnen und Psychologen, warnte, Menschen könnten mit stigmatisierenden Gesundheitsdaten erpresst werden.

Michael Hubmann, Präsident des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzt:innen, wies auf gravierende Probleme beim Schutz der Daten von Kindern und Jugendlichen hin.

Die Gematik, eine Gesellschaft des Bundesministeriums für Gesundheit und anderer Gesundheitsverbände, die für die Sicherheitstests der E-Akte zuständig ist, kündigte daraufhin zusätzliche Sicherungsmaßnahmen an. Peter Münster sagt, die Lecks, durch die der CCC eindringen konnte, seien mittlerweile gestopft.

Die neue Macht der Patienten

Vor allem aber, sagt Münster, seien die Patienten nun selbst in der Pflicht. „Wir bezahlen heutzutage mit dem Handy, machen Online-Banking und haben elektronische Personalausweise“, sagt er. Dieselben Sicherheitsstandards müssten auch für die E-Akte gelten.

In der Tat haben die Versicherten die Hoheit darüber, was in ihrer Akte steht und was nicht. Sie können Inhalte löschen, die ihnen unangenehm sind. Und sie können den Zugriff von Ärzten und Apothekern begrenzen.

Wenn ein Patient nicht will, dass den Bericht seines Therapeuten auch sein Zahnarzt lesen kann, kann er dessen Rechte einschränken. „Die Verantwortung liegt jetzt beim Patienten“, sagt Münster.

Aber die E-Akte bringt auch für die Leistungserbringer neue Verantwortung. Das gilt für den Schutz der Daten – doch es gibt Szenarien, in denen auch diese selbst zum Problem werden könnten.

Ein Beispiel: Ein Patient hat Husten, verliert seit Wochen an Gewicht und geht nun zum Hausarzt, der ihn zum Röntgen schickt. Der Facharzt macht ein Röntgenbild, auf dem sich etwas abzeichnet, das möglicherweise ein Tumor sein könnte. Der Röntgenarzt vertraut darauf, dass der Hausarzt schon mit dem Patienten sprechen wird. Doch als der die Praxis verlässt, ist der Befund schon automatisch in seiner E-Akte gelandet.

Schaut der Patient nun im Bus in die Akte, könnte er denken, dass er tatsächlich Krebs hat. „Unbegleitet wäre das schlimm!“, sagt Peter Münster. So etwas müsse man vorher besprechen. Vielleicht sei es ja nur ein Verdacht, der sich ausräumen lasse.

Eine weitere Herausforderung sind sogenannte Drittgeheimnisse. Teilt etwa eine Tochter ihren Verdacht mit dem Hausarzt, ihr Vater könne an Demenz leiden, dürfte das nicht einfach so in der E-Akte des Vaters landen, wo dieser ebenfalls Zugriff auf die Informationen hätte. Ärzte müssen offen bleiben, um nicht vorschnell Diagnosen zu übernehmen. Sonst drohen eine Art Scheuklappeneffekt und falsche Schlüsse aufgrund von Vorerkrankungen.

Noch sind die E-Akten leer

All diese Szenarien hat auch Peter Münster im Kopf. Setzt man sich in sein Sprechzimmer, fällt der Blick auf ein Foto an der Wand hinter ihm. Darauf trägt er die gleiche Kurzhaarfrisur wie heute, aber sein Bart ist noch ohne graue Haare. Statt des blauen Polos hat er ein T-Shirt und eine Tarnhose an, während er den Bauch eines Jungen abtastet, den ein Mann mit muslimischer Gebetskappe hält. Im Hintergrund: Männer in sandfarbenen Bundeswehrshirts und gepanzerte Patrouillenfahrzeuge.

Im Jahr 2010, erzählt Münster, war er drei Monate als Sanitätsoffizier in Afghanistan, in der Nähe der Stadt Kundus. Der Junge auf dem Foto habe an einer Durchfallkrankheit gelitten und er habe sich um ihn gekümmert. Doch in erster Linie sei er für eine Kompanie von Fallschirmjägern zuständig gewesen.

Auf Patrouille mit den Soldaten habe er selbst erlebt, wie es ist, wenn man unter Beschuss gerät und sich klein machen muss, um nicht zur Zielscheibe zu werden. Von diesen Erfahrungen, sagt Münster, habe er eine große Gelassenheit mit zurück nach Deutschland genommen.

Auch auf die Debatte um die E-Akte schaut er mit einer gewissen Gelassenheit. Während der Testphase gehe es derzeit ohnehin vor allem um die technische Leistungsfähigkeit. Bei ihm laufe alles stabil und schnell, sagt Münster. Er ist überzeugt: „Die elektronische Patientenakte wird sich wahrscheinlich sehr gut in unseren Arbeitsalltag integrieren lassen.“

Die Akten sind derzeit fast alle leer. Bundesweit nutzen nur wenige hundert Ärzte die E-Akte. Die Chance, dass ein Patient genau zwei dieser Praxen besucht, ist gering – und damit auch die Möglichkeit, dass ein Arzt die Befunde des anderen einsieht.

Zurzeit bringe der Test daher auch eher Kleinigkeiten zutage, sagt Münster. Noch funktioniere der Zugriff nicht bei allen Kassen. Einige Praxen hätten von Problemen mit ihren Konnektoren berichtet oder mit alten Arztausweisen. Aber: „Das sind alles Kinderkrankheiten dieser Testphase“, sagt Münster.

Trotzdem wird es noch ein wenig dauern, bis die E-Akte überall verfügbar ist. Ursprünglich sollte es Mitte Februar losgehen.

Nach Bekanntwerden der Schwachstellen, die der CCC aufgedeckt hatte, versprach SPD-Gesundheitsminister Karl Lauterbach, die E-Akte werde erst dann bundesweit eingeführt, wenn Angriffe wie die des CCC unmöglich gemacht worden seien. Zuletzt hieß es, der Start verschiebe sich mindestens auf Anfang April. Aber auch das erscheint zurzeit optimistisch.

Auch Tech-Giganten sind interessiert

Peter Münster ist dennoch überzeugt: Einen Weg zurück gibt es nicht. Er gehe davon aus, dass immer mehr Praxen Zugriff auf die E-Akten erhalten werden. Und dass diese sukzessive um neue Funktionen erweitert wird.

Zwei Verbesserungen stehen schon auf seiner Wunschliste: Erstens elektronische Medikationspläne, dass also verschiedene Ärzte für ein und denselben Patienten auch an einem gemeinsamen Medikationsplan arbeiten können. Zweitens die Volltextsuche: Zurzeit ist es noch nicht möglich, alle Dokumente in der Akte nach einem Stichwort zu durchsuchen.

Stattdessen handelt es sich eben um besagten Schuhkarton, in dem die Dokumente lose durcheinanderfliegen. Beide Verbesserungen, die elektronischen Medikationspläne und die Volltextsuche, sollen nach aktuellem Stand im Frühjahr 2026 kommen.

Um die Daten in der E-Akte weiter zu strukturieren, meint Münster, könnte auch Künstliche Intelligenz eine große Hilfe sein. Die könnte allerdings nicht nur die Patientenakte verbessern.

Andersherum könnte die E-Akte auch für KI-Entwickler von großem Wert sein. Denn die anonymisierten Daten sollen in eine zentrale Forschungsdatenbank einfließen. So entstehe einer der größten medizinischen Datensätze der Welt, sagte Lauterbach Ende November. Tech-Riesen wie Meta, OpenAI und Google hätten bereits Interesse bekundet.

Doch bei aller Begeisterung auf der einen und Skepsis auf der anderen Seite: Am Ende, sagt Peter Münster, werde auch die elektronische Patientenakte nur ein Hilfsmittel unter anderen sein. Die Basis seiner Arbeit, seiner Diagnosen und Beratungen, da ist er sicher, werde auch weiterhin das persönliche Gespräch sein. „Wenn ich mir bei jedem Patienten zuerst die elektronische Patientenakte angucken würde“, sagt Münster und nimmt noch einmal die ungeöffneten Briefe in den Blick, die sich auf seinem Schreibtisch stapeln, „dann wäre ich ja nur noch mit Lesen beschäftigt.“ (jmi)

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Klima-Update

+++ Die Stadtwerke Münster haben die Genehmigung für den Bau von fünf Windenergieanlagen in Dülmen erhalten, meldet das Unternehmen. Die Anlagen sollen im Sommer 2026 in Betrieb gehen und zusammen Strom für etwa 17.300 Haushalte liefern. Um den Menschen vor Ort die Windräder etwas schmackhafter zu machen, beteiligen die Stadtwerke sie an den Erlösen. Wer im Umfeld der Anlage wohnt, bekommt ein Nachbarschaftsgeld. Die Stadtwerke Dülmen übernehmen ein Windrad, und es ist möglich, sich über ein sogenanntes Nachrangdarlehen an den Anlagen zu beteiligen. Das bedeutet: Wer Geld investiert, wird im Fall einer Insolvenz nachrangig behandelt, bekommt andernfalls aber höhere Zinsen. Außerdem beteiligen die Stadtwerke die umliegenden Gemeinden finanziell. Aktuell betreiben die Stadtwerke 20 Windenergieanlagen. Bis 2030 sollen es doppelt so viele sein. Gesamtleistung: 280 Megawatt. Das heißt: Mit allen Anlagen zusammen kann man 11.200 Haushalte mit Strom versorgen. (rhe)

Korrekturhinweis: In einer früheren Version hatten wir die Gesamtleistung der geplanten Anlagen mit 280 Gigawatt angegeben. Daher war auch die Zahl der Haushalte falsch, die die Angaben versorgen können. Wir haben beides korrigiert.

Ein-Satz-Zentrale

+++ Auf ihrer Webseite informiert die Stadtverwaltung über geänderte Öffnungszeiten an den Karnevalstagen. (Stadt Münster)

+++ Ab dem 5. März ist auf dem Albersloher Weg wegen Kanalarbeiten, die für die Reaktivierung der Bahnstrecke Münster-Sendenhorst nötig sind, für etwa acht Wochen nur eine Spur frei. (Stadt Münster hier und hier)

+++ Die Stadt Münster plant in Gievenbeck eine Erstaufnahme-Einrichtung für 80 Geflüchtete, über die der Rat am Donnerstag entscheidet. (Stadt Münster)

+++ Die Bauarbeiten für das „Forum für Naturwissenschaften“ am LWL-Museum für Naturkunde haben begonnen. (Landschaftsverband Westfalen-Lippe)

+++ Ab dem 10. März akzeptieren alle Mensen, Bistros und Cafés des Studierendenwerks Münster nur noch bargeldlose Zahlungen. (Studierendenwerk Münster)

+++ Die Stadt bietet ab dem Wintersemester 2025/26 erstmals ein duales Studium der Sozialen Arbeit mit Schwerpunkt Kinder- und Jugendhilfe mit der FH Münster an. (Stadt Münster)

+++ Die ehemalige Esprit-Filiale an der Stubengasse wird ab Sommer von dem niederländischen Elektronikhändler Coolblue übernommen. (Westfälische Nachrichten)

+++ Die Stadt Münster führt das „Kultick“ ein, ein Kulturticket für rund 38.000 Kinder und Jugendliche, mit dem sie vergünstigt oder kostenlos Kulturangebote nutzen können. (WDR)

+++ Der ehemalige Wolbecker Abiturient Alexander Schmid wurde für den Grimme-Preis 2025 mit seinem Kurzfilm „Lang lebe der Fischfriedhof“ nominiert. (Westfälische Nachrichten)

+++ Die FDP hat vor dem Ludwig-Erhard-Berufskollegs Kondome und Papes für Joints verteilt und wird dafür von der Schulleitung kritisiert. (Westfälische Nachrichten)

Unbezahlte Werbung

Frühling und Flammkuchen – wie passt das zusammen, fragen Sie sich? Besser als man denken mag. Hierzulande gilt das französische Pendant zur Pizza zwar eher als herbstlich-winterliches Essen, aber eigentlich ist immer Flammkuchen-Zeit. Auf der Karte im frisch renovierten Café im Schlosstheater stehen gleich drei Variationen: ein veganer Flammkuchen mit Ratatouille-Gemüse, einer mit Serrano-Schinken und Rucola und natürlich auch der Klassiker nach Elsässer Art mit Speckwürfel und Zwiebeln. Dazu reicht das Café Pinot Grigio, Merlot und andere Weine, und falls der Abend mal wieder länger wird als geplant, auch noch Kino-Knabbereien wie Nachos oder Popcorn. Die Küche öffnet jeden Tag um 17 Uhr. Außer sonntags, da gibt es schon ab 14 Uhr Flammkuchen.

Hier finden Sie alle unsere Empfehlungen. Sollte Ihnen ein Tipp besonders gut gefallen, teilen Sie ihn gerne!

Drinnen und Draußen

Annalena Zernott hat heute einige Empfehlungen zusammengestellt. Es geht los mit Veranstaltungen zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, der sich am Montag zum dritten Mal jährt:

+++ Samstag um 15 Uhr wird im Zeitungslesesaal der Stadtbücherei aus dem „Ukrainischen Tagebuch“ von Oxana Matiychuk vorgelesen. Darin schildert die Autorin die Auswirkungen des Kriegs auf ihre Heimatstadt Czernowitz. Die Lesung ist kostenlos. Wenn Sie mehr zur Veranstaltung erfahren möchten, schauen Sie hier.

+++ Sonntag um 15 Uhr wird in der Überwasserkirche ein ukrainischer Gottesdienst gefeiert. Einzelheiten finden Sie hier.

+++ Am Montag um 16:45 Uhr ist im Schlosstheater der Dokumentarfilm „In the Rearview“ zu sehen. Dieser zeigt, wie Regisseur Maciek Hamela in seinem Transporter ukrainische Bürger:innen zur Flucht verhilft und was sie dabei erleben. Karten können Sie hier kaufen. Einen Trailer und weitere Hintergründe zum Film finden Sie auf dieser Seite.

+++ Auf der Studiobühne ist am Wochenende das Tanztheater-Projekt „Momentos“ zu Gast. Samstag und Sonntag um jeweils 20 Uhr zeigt es seine aktuelle Produktion „Haut skin pele“. Karten können Sie hier kaufen.

+++ Wenn Sie Lust auf Jazz-Pop haben, dann kaufen Sie sich eine Karte (hier) für ein Konzert im Kulturbahnhof in Hiltrup am Samstagabend. Da stellt nämlich die Sängerin Maria Masur mit ihrem Trio ihr neues Album „Postcard Pictures“ vor. Hier können Sie sich einen Eindruck verschaffen.

Am Dienstag schreibt Ihnen Ralf Heimann. Haben Sie ein schönes Wochenende und einen schönen Wahlsonntag.

Herzliche Grüße
Sebastian Fobbe

Mitarbeit: Jan Große Nobis (jgn), Jakob Milzner (jmi), Anna Niere (ani), Ralf Heimann (rhe), Annalena Zernott (aze) – das bedeutet: Die einzelnen Texte im RUMS-Brief sind von der Person geschrieben, deren Kürzel am Ende steht.
Lektorat: Svenja Stühmeier

PS

Heute ist ein wirklich schöner Tag. Warm, sonnig, richtig frühlingshaft. Am Wochenende soll es so schön bleiben. Ob sich die Stimmung am Sonntag nach den ersten Hochrechnungen schlagartig ändert, werden wir sehen. Falls es ganz schlimm wird, dann wäre das hier etwas: 20 Uhr, Improtheater, Hot Jazz Club. In ihrer Ankündigung verspricht die Gruppe „Placebo“ nichts Geringeres als „Muskelkater im Zwerchfell und tränende Augen“. Bis dahin – schönes Wochenende!

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