Verfassungsgerichtshof kippt Kommunalwahlgesetz | Ein Gespräch über die Schule der Zukunft | Erdbeeren pflücken

Porträt von Sebastian Fobbe
Mit Sebastian Fobbe

Guten Tag,

vor der Kommunalwahl im Herbst tagt der Rat in Münster insgesamt noch dreimal: morgen, im Juli und elf Tage vor der Wahl am 14. September.

Wie der Rat danach aussehen wird, das hängt auch davon ab, welches Wahlrecht gilt. Der Landtag in Düsseldorf hatte vergangenes Jahr eine Reform verabschiedet, die die Zersplitterung der Kommunalparlamente in Nordrhein-Westfalen eindämmen sollte. Anders gesagt: Größere Parteien hätten mehr Sitze in den Gemeinde- und Stadträten bekommen, kleinere Parteien hätten hingegen Mandate abgeben müssen.

Heute Vormittag erklärte der Verfassungsgerichtshof in Münster die Wahlrechtsänderung allerdings für verfassungswidrig. In der Urteilsbegründung heißt es, das neue Sitzzuteilungsverfahren hätte die „verfassungsrechtlich gewährleisteten Rechte auf Chancengleichheit als politische Partei und auf Gleichheit der Wahl“ verletzt.

Zur Erklärung: Im Juli haben die Fraktionen von CDU, Grünen und SPD ein neues Kommunalwahlgesetz im Landtag beschlossen. Das Gesetz hätte eine neue Berechnungsmethode für die Sitzverteilung in den Räten vorgesehen, um „extreme Verzerrungen der Sitzzuteilung“ und „überproportionale Rundungsgewinne kleiner Parteien“ zu reduzieren.

Warum sich die kleinen Parteien diskriminiert fühlten, wird klar, wenn wir die Kommunalwahl 2020 noch einmal durchspielen. Hätte die Reform damals schon gegolten, dann hätten die kleinen Parteien die meisten Sitze in Nordrhein-Westfalens Kommunalparlamenten verloren (die FDP 95, die Linke 64 und AfD 29 Sitze, alle anderen zusammengerechnet 131 Mandate). Profitiert hätten hingegen die CDU, die Grünen und die SPD (CDU 185, SPD 84 und Grüne 51 Sitze mehr). Geklagt hatten die FDP, die Linke zusammen mit „Die Partei“, Volt, die Piratenpartei und das BSW (RUMS-Brief).

Zur Urteilsverkündung war auch der ÖDP-Ratsherr Michael Krapp gekommen, der als Spitzenkandidat für seine Partei bei der Wahl im September in Münster antritt. Er sagte nach der Sitzung, das Urteil zeige, dass es nichts bringe, wenn man versuche, kleine Parteien zu verdrängen. Die größeren Parteien müssten sich die Arbeitsfähigkeit im Rat eben ein Stück weit erarbeiten. Im Rat funktioniere das ja gut: Das grün-rot-violette Bündnis hat zwar keine eigene Mehrheit, kann aber seine Vorhaben je nachdem mit der CDU, der FDP, der Linken oder der Internationalen Fraktion durchbringen.

Neue Reformen werden schwieriger

Robin Korte, Grünen-Ratsherr in Münster und kommunalpolitischer Sprecher der grünen Landtagsfraktion in Düsseldorf, bedauerte das Urteil. Das Gericht habe die Anforderungen an künftige Wahlrechtsänderungen sehr hoch gelegt, sagte Korte nach dem Urteil am Telefon. Auch andere Landesregierungen müssten sich Gedanken machen, denn das jetzige Berechnungssystem verzerre den Wählerwillen.

Ein Beispiel aus Münsters Stadtrat: Bei der Wahl 2020 hat die Linke viermal so viele Stimmen bekommen wie die Münsterliste. Trotzdem hat die Linke nur drei Ratsmitglieder, die Münsterliste stellte aber (bis es zum Bruch kam) mit Georgios Tsakalidis einen Ratsherrn. Hätte die geplante Reform damals gegolten, wäre die Linke zu viert in den Rat eingezogen, Tsakalidis wäre hingegen leer ausgegangen. Mehr Bewegung hätte die Wahlrechtsreform zumindest in Münster nicht hervorgebracht.

Ganz abgeschlossen scheint die Debatte um das Kommunalwahlrecht in Nordrhein-Westfalen noch nicht zu sein. Als Vizepräsident Andreas Heusch das Urteil vorlas, betonte er, wie knapp die Entscheidung gefallen sei. Vier Richter:innen haben den kleinen Parteien Recht gegeben, drei nicht. Die drei abweichenden Meinungen hat der Verfassungsgerichtshof in einem Sondervotum festgehalten (hier nachzulesen ab Seite 41). Das dürfte auch in Zukunft Stoff für Diskussionen bieten. (sfo)

Korrekturhinweis:

In einer früheren Fassung dieses Textes hieß es, die Landesregierung habe die Wahlrechtsreform verabschiedet. Das ist ungenau: Tatsächlich wurde das Gesetz im Landtag beschlossen – beantragt hatten es die Fraktionen von CDU, SPD und Grünen.

Machen Sie mit!

Grafik mit dem Titel "Deine Stimme, Deine Themen", auf der ein Megafon, eine Wahlurne und ein Notizzettel zu sehen sind, auf dem etwas notiert wird

Im September ist Kommunalwahl. Was sind Ihre Themen und Ihre Fragen? Wir sammeln sie und sprechen darüber mit den Politiker:innen.

Das Projekt „Deine Stimme, deine Themen“ ist eine Kooperation zwischen RUMS und dem Netzwerk CORRECTIV.Lokal, das Recherchen und Dialog im Lokaljournalismus fördert.

Wie es weiterging

… mit dem leeren Haus im Kreuzviertel

Nachdem wir am Freitag über das leere Mehrfamilienhaus an der Schulstraße 19 berichtet haben, hat sich noch mal jemand aus der Nachbarschaft gemeldet. Die Person hatte Kontakt zur Stadt aufgenommen, um sich über den Dauerleerstand und das Gefahrenrisiko zu beschweren. Seit einem Brand auf dem Grundstück fühlen sich Anwohnende nicht mehr sicher. Das Antwortschreiben der Stadt liegt uns vor. Darin heißt es, das Bauordnungsamt könne nichts am Zustand des Hauses ändern, da es nicht für die Behebung von Gebäudemissständen zuständig sei. Eine Kontrolleurin habe sich aber vor Ort ein Bild von der Lage gemacht. Ergebnis: Sie habe „keine baulichen Schäden festgestellt, die eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellen“. Auch der Brandschutz sei „gesichert“. (sfo)

Kurz und Klein

+++ Im Ruderverein Münster, einem Landesleistungszentrum für Talente im Leistungssport, gibt es laut einem WDR-Bericht (hier die halbstündige Langversion) schwere Vorwürfe gegen den langjährigen Cheftrainer. Ehemalige jugendliche Leistungssportlerinnen und Leistungssportler hätten von jahrelanger psychischer Gewalt, Demütigungen, sexistischer Sprache und einem Klima der Angst berichtet. Auch weitere Trainer sollen laut WDR körperlich übergriffig gewesen sein. Der Trainer selbst weist alle Vorwürfe zurück. Wie die WDR-Lokalzeit berichtet, hat der NRW-Ruderverband den Cheftrainer von seinen Aufgaben entbunden. Im Verein gebe es inzwischen ein Schutzkonzept, doch das sei offenbar nicht wirksam umgesetzt worden, meldet der WDR. Als Betroffene ihre Beschwerden eingereicht hätten, habe der Verein sich hinter den Trainer gestellt und die Ansprechpersonen entlassen. Der Landessportbund NRW wertete die Vorfälle laut WDR klar als Machtmissbrauch und forderte Konsequenzen. Landessportbund und Staatskanzlei haben laut dem Bericht in Reaktion auf die Recherchen die Fördergelder für den Stützpunkt gestoppt. Auch der Stadtsportbund habe seine Unterstützung eingestellt. 16 Athletinnen und Athleten haben sich dagegen laut den Westfälischen Nachrichten in einem offenen Brief hinter den Trainer gestellt. (rhe)

+++ Preußen Münster hat – das ist wohl schon durchgesickert – den Klassenerhalt geschafft. Danach und drumherum ist noch einiges passiert. Die Fans haben die Mannschaft gestern beim Saisonabschluss im Stadion gefeiert, berichtet unter anderem die WDR-Lokalzeit. Wo’s geschafft ist, hat der kurz vor der Ziellinie gefeuerte Trainer Sascha Hildmann sich in einem emotionalen Instagram-Posting bei den Fans bedankt. Und: Preußen-Fans haben nach dem Attentat am Wochenende Genesungswünsche nach Bielefeld geschickt, melden die Westfälischen Nachrichten. In der nächsten Saison trifft man sich nach dem Aufstieg der Arminia dann wieder im Stadion. (rhe)

+++ Pflege ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Das sehen zumindest 92 Prozent der Münsteraner:innen ab 60 Jahren so. Doch die Realität sieht oft anders aus. Eine repräsentative Umfrage der Stadt zeigt: Pflegende Angehörige stemmen die Hauptlast. Zum Großteil sind es Frauen, die oft über Jahre hinweg pflegen und nur wenig Unterstützung erfahren. Pflegende Angehörige fühlen sich zudem überlastet. Viele wünschen sich mehr Erholung. Rund ein Drittel vermisst gewohnte Freizeitaktivitäten – dafür bleibe meist keine Zeit mehr. Von den 1.900 Menschen über 60 Jahren, die an der Umfrage teilgenommen haben, hat fast jede fünfte Person angegeben, im Alltag regelmäßig Hilfe in Anspruch zu nehmen. Die guten Nachrichten: Über die Hälfte der Befragten kann sich vorstellen, sich selbst für andere zu engagieren – ehrenamtlich oder im Minijob. Die Stadt will das in Zukunft gezielter fördern und die Leute mehr einbinden, zum Beispiel durch neue Netzwerke in den Quartieren. So könnte auch der wachsenden Einsamkeit im Alter entgegen gewirkt werden: 18 Prozent der Pflegebedürftigen gab an, sich manchmal bis oft einsam zu fühlen. Besonders betroffen sind – wieder einmal – die Frauen. (ani)

+++ In Münster sind im vergangenen Jahr so viele Angriffe auf städtische Beschäftigte gemeldet worden wie noch nie. Laut dem Gewaltbericht der Stadtverwaltung zählte die Stadt 121 Fälle, in denen städtisches Personal, vor allem des Ordnungsamts, des Sozialamts und der Feuerwehr, beleidigt, bedroht oder körperlich verletzt wurde. Besonders betroffen sind diesmal Männer. In mehreren Fällen hätten sexistische, antisemitische, rassistische oder behindertenfeindliche Motive eine Rolle gespielt, schreibt die Stadt. Um solche Taten zu verhindern, will sie ihr Personal schulen, psychologisch unterstützen und überhaupt dafür sensibilisieren, solche Fälle der Polizei zu melden. (rhe)

+++ Am Anfang des RUMS-Briefs steht es schon: Morgen Nachmittag ist Ratssitzung. Dann entscheiden die Parteien über vieles, was in den vergangenen Wochen oder Monaten diskutiert worden ist. Zum Beispiel darüber, wie es mit dem Kreisverkehr an der Von-Esmarch-Straße weitergeht. Wird der tatsächlich zur Ampelkreuzung? (RUMS-Brief) Und sinken die Kita-Elternbeiträge für Menschen in den unteren und mittleren Einkommensklassen? (aller Voraussicht nach: ja). Das Ratsbündnis aus Grünen, SPD und Volt will einen Kompromiss zur Schulsozialarbeit beschließen. Wegfallen soll das Angebot nirgendwo, aber an einigen Schulen soll es mehr geben. Die CDU schlägt vor, dass die Musikschulen in den Stadtteilen mehr Geld bekommen. Die FDP möchte gern, dass die Stadt in Schwimmbädern künstliche Intelligenz einsetzt, um rechtzeitig zu erkennen, wenn jemand untergeht. Auf der Tagesordnung stehen 46 Punkte. Geschätzte Dauer: dreieinhalb Stunden. Falls Sie dabei sein möchten: Im Rathausfestsaal bietet die Stadt Stühle, im Internet einen Livestream. Los geht’s um 16:15 Uhr. (rhe)

2025-05-19_portrait-metabild_sebastian-kurtenbach

Interview mit Sebastian Kurtenbach

„Wir müssen den Kindern zuhören“

Münster muss sparen, sparen, sparen und kürzt deshalb die Haushaltsmittel für Familien, Kinder und Jugendliche. Erst kürzlich stand die Sozialarbeit an den Grundschulen kurz vor dem Aus, bevor im letzten Moment die Wende kam (RUMS-Brief). Sind der Stadt Kinder nicht mehr wichtig?

Fragt man Sebastian Kurtenbach, Professor für Sozialpolitik an der Fachhochschule Münster, dann sind Kinder in unserer Gesellschaft weitgehend aus dem Blick geraten. Zusammen mit den Soziologen Aladin El-Mafaalani und Klaus Peter Strohmeier hat er Anfang des Jahres das Buch „Kinder. Minderheit ohne Schutz. Aufwachsen in der alternden Gesellschaft“ veröffentlicht, das für den deutschen Sachbuchpreis 2025 nominiert ist.

Mit Sebastian Kurtenbach haben wir über das Buch, die Schulen der Zukunft und die Frage gesprochen, wie Münster eine kinderfreundlichere Stadt werden könnte.

Herr Kurtenbach, Ihr Buch über Kindheit hat es kurz nach Erscheinen auf die „Spiegel“-Bestsellerliste geschafft. Hat Sie der Erfolg überrascht?

Kurtenbach: Mir war natürlich bewusst, wie wichtig und relevant dieses Thema ist. Schließlich bewegt es unsere Gesellschaft, wie wir mit Kindern umgehen. Dass das Buch aber so durchschlägt, habe ich nicht erwartet. Ich denke, wir haben einen Nerv getroffen.

Eine Kernthese Ihres Buches ist: Kinder sind in den vergangenen Jahren so sehr aus dem Blick geraten, dass sie zu Außenseiter:innen in unserer Gesellschaft geworden sind. Widerlegt das große Interesse an dem Thema nicht diese These?

Kurtenbach: Ich glaube, das Buch fasst gut in Worte, was viele Menschen spüren: Wir berücksichtigen Kinder als Minderheit nicht mehr, dabei sind Kinder unsere Zukunft. Und wenn viele das Gefühl haben, wir gefährden unsere Zukunft, dann ist das Thema natürlich sehr präsent.

Woran machen Sie fest, dass unsere Gesellschaft Kinder nicht mehr ausreichend berücksichtigt?

Kurtenbach: Die „Pisa“-Studien sind gute Beispiele. Als die Ergebnisse in den Nullerjahren katastrophal ausgefallen sind, war der Aufschrei laut. Die Politik rief die Bildungsrepublik aus. Die Aufmerksamkeit war riesig, weil die Babyboomer damals die Eltern waren. Heute sind aber auch Eltern zur Minderheit geworden: Es gibt heutzutage nur noch rund 11 Millionen Eltern von minderjährigen Kindern – zum Vergleich: Der ADAC hat 22 Millionen Mitglieder. Durch die neuen Größenverhältnisse hat sich auch die Aufmerksamkeit verschoben. Das erklärt, warum der Aufschrei ausblieb, obwohl die letzte „Pisa“-Studie noch deutlich schlechter ausfiel.

Kindheiten von heute beschreiben Sie in Ihrem Buch als fragmentiert und superdivers. Was heißt das konkret?

Kurtenbach: Dazu müssen wir uns fragen: Wie nehmen Kinder ihren Alltag wahr? Kinder wachsen beispielsweise in Familien auf, die über unterschiedlich viel Geld, Zeit und Fertigkeiten verfügen. Immer mehr Kinder haben auch eine Migrationsbiografie, wachsen mit mehreren Kulturen und Sprachen auf. Auch die Netzwerke außerhalb der Familien können erheblich unterschiedlich sein. Manche Kinder haben zum Beispiel engagiertere Lehrer in der Schule oder Trainer im Sportverein als andere.

Ein anderer wichtiger Punkt sind Nachbarschaften. Wie sieht der Schulweg aus? Wie weit wohnen die Großeltern weg? Wie sehen die Parks und Spielplätze in der Nähe aus? In Münster hat Wolbeck zum Beispiel viele Grünflächen und Spielplätze für Kinder. Berg Fidel hat hingegen nur auf dem Papier viel Grün, das meiste davon ist für Preußen Münster reserviert. Alle Unterschiede zusammengenommen meinen wir, wenn wir von fragmentierten und superdiversen Kindheiten sprechen.

Diese Entwicklung hört sich nach einer Herausforderung für unsere Gesellschaft an. Wie könnte das Bildungssystem darauf reagieren?

Kurtenbach: Zuerst einmal: Es gibt keine Standardlösung für alle. Es gibt trotzdem eine Sache, die alle Schulen machen können: Wir müssen den Kindern zuhören. Schulen haben eine klare Vorstellung davon, was als normal gilt. Diese Normalität gibt es aber in einer superdiversen Gesellschaft nicht.

Dazu kommt eine Haltung, die wir in der Forschung „Adultismus“ nennen. Übersetzt heißt das: Wir denken meistens, Erwachsene wissen es immer besser als Kinder. Wenn wir wissen wollen, wie es Kindern geht, fragen wir wahlweise Eltern, Lehrer oder Sozialträger. Das muss sich aber ändern, wenn wir einen Kulturwandel in der Bildung herbeiführen wollen.

Machen Sie das mal konkret.

Kurtenbach: Kinder verbringen schon jetzt mehr Zeit in Bildungsinstitutionen als zu Hause. Das dürfte in Zukunft noch mehr werden, wenn vor allem Mütter mehr arbeiten. Allein deshalb brauchen Kinder und Jugendliche mehr Mitbestimmung. Sie müssen darüber mitentscheiden dürfen, auf welchen Stühlen sie im Unterricht sitzen und welche Wandfarbe das Klassenzimmer haben soll. Außerdem müssen wir Schulen und Kitas zu Community-Zentren weiterentwickeln.

Was meinen Sie damit?

Kurtenbach: Schulen sollten zu Stadtteilzentren werden, um die sich der Alltag herum organisiert. Daran angeschlossen wären beispielsweise Beratungsstellen, die Stadtteilbücherei und -kantine, Eltern- und Nachbarschaftsinitiativen und Vereine. Das bedeutet auch: Die Schule ist nicht länger ein Arbeitsplatz allein für Lehrer, sondern für Teams aus verschiedenen Berufen.

Was erhoffen Sie sich davon?

Kurtenbach: Die Schulen zu entlasten. Wir sehen jetzt schon, dass die Schulen an der Belastungsgrenze arbeiten. Jedes Jahr verlassen deutschlandweit 50.000 Jugendliche die Schule ohne Abschluss, obwohl es immer weniger Kinder gibt. Die Schulen müssen gleichzeitig immer mehr Aufgaben wuppen, können es aber nicht. Kurz gesagt: Das derzeitige Bildungssystem ist dysfunktional.

Damit wir die Schulen entlasten, müssen sie sich auf ihre Kernkompetenz konzentrieren: guten Unterricht anzubieten. Alles weitere können Fachkräfte aus anderen Disziplinen oder die Community übernehmen. Nachhilfe in Deutsch und Mathe, handwerklicher Unterricht oder Vorlesepatenschaften in der Kita, das können auch die Babyboomer leisten, wenn sie in Rente gehen.

Das hört sich alles sehr schön an, aber auch ein wenig nach Zukunftsmusik. Gibt es schon Vorbilder?

Kurtenbach: Ja, schauen Sie etwa in die Niederlande, nach Dänemark oder Osteuropa. In Deutschland gibt es Community-Zentren in einer vollwertigen und leistungsfähigen Form noch nicht. Aber erste Ansätze: Der Campus der Berliner „Rütli“-Schule geht beispielsweise schon weit über den klassischen Schulbetrieb hinaus. In Dortmund hat die Grundschule „Kleine Kielstraße“ ein sehr kindorientiertes Konzept und vor Kurzem ist in München ein riesiger Schulcampus eröffnet worden. In Köln wurde mit der Bildungslandschaft Altstadt-Nord sogar eine Lösung gefunden, die nicht an einen Ort gebunden ist. Die einzelnen Bausteine sind also schon alle erprobt.

Klingt revolutionär – und teuer.

Kurtenbach: Mittlerweile gibt es viele Fördertöpfe und ich bin auch zuversichtlich, dass die Schulen etwas aus dem Infrastruktur-Sondervermögen abbekommen. Geld ist interessanterweise kein Argument gegen Community-Zentren, das ich in Gesprächen höre.

Sondern?

Kurtenbach: Meist geht es um drei Gegenargumente. Erstens: Es fehlen geeignete Gebäude. Ich denke aber, dass vieles möglich ist, wenn wir Schulen umbauen oder aufstocken. Der zweite Einwand lautet: Wie sieht es mit dem Kinderschutz aus? Wo mehr Erwachsene rumlaufen, braucht es natürlich neue Schutzkonzepte. Da können auch die Kirchen gute Ratgeber sein, weil sie in den vergangenen Jahren umfangreiche Kinderschutzkonzepte entwickelt haben.

Und drittens?

Kurtenbach: Das ist die Frage: Wer bekommt den Schlüssel? Das ist tatsächlich der größte Knackpunkt. Denn dahinter steckt eine viel grundlegendere Frage: Wer trägt die Verantwortung? Wenn viele Sozialträger an einem Ort ein gemeinsames Community-Zentrum errichten wollen, dann verschwimmen Zuständigkeiten und Haftungsfragen. Das ist keine Kleinigkeit. Man muss das alles erproben und juristisch durchexerzieren. Ich denke aber, das ist alles in den Griff zu kriegen, und es wäre am Ende auch nicht teurer als der offene Ganztag.

Braucht man für Community-Zentren auch neue Fachkräfte?

Kurtenbach: Nicht unbedingt. Ich habe noch einen Lehrauftrag an der Ruhr-Uni Bochum und bilde dort Lehrer aus. Wenn man Absolventen danach fragt, was sie an der Uni gelernt haben und was sie im Beruf machen müssen, hat das oft recht wenig miteinander zu tun. Sie müssen oft mehr leisten als nur unterrichten. Möglichst alle Aufgaben, die über den Unterricht hinausgehen, sollten die Lehrer in den Community-Zentren an andere Fachkräfte übertragen. An der FH Münster lernen angehende Sozialarbeiter:innen außerdem die Kompetenzen, wie sie so ein Community-Zentrum auf Augenhöhe mit der Schulleitung führen können.

Im Grunde sprechen wir gerade darüber, Stadtteile zu entwickeln. Wenn wir das einmal auf ganz Münster übertragen: Was könnte die Stadt kindgerechter machen?

Kurtenbach: Wenn wir die Perspektiven von Kindern berücksichtigen wollen, dann heißt das: Menschen, die Entscheidungen treffen, müssen sich zu den Anliegen von Kindern äußern. Im Buch schlagen wir einen Zukunftsrat vor, der aus Mitgliedern zwischen 10 und 35 Jahren besteht. Dieser Zukunftsrat könnte Stellungnahmen erarbeiten. Politik und Verwaltung müssten sich dann damit befassen und ihre Entscheidungen öffentlich erklären.

So etwas Ähnliches gibt es schon in Münster mit dem Jugendrat, der Anregungen in die Ratspolitik einbringen darf. Man könnte dem Jugendrat mehr Kompetenzen geben und ihn so zu einer Art Zukunftsrat in Münster weiterentwickeln: Er muss Einspruch erheben dürfen und die Politik muss sich strukturell mit den Ideen des Jugendrats befassen. Dann wird die Stimme von Kindern und Jugendlichen auch kommunalpolitisch relevanter. (sfo)

Sie möchten dieses Thema mit anderen Leser:innen diskutieren oder uns Hinweise geben

Nutzen Sie einfach unsere Kommentarfunktion unterhalb dieses Textes. Wenn Sie diesen Brief gerade als E-Mail lesen, klicken Sie auf den folgenden Link, um den Text auf unserer Website aufzurufen:

diesen Brief kommentieren

Klima-Update

+++ Trotz eines ungewöhnlich trockenen Frühjahrs sehen große Stadtwerke in Nordrhein-Westfalen aktuell keine Gefahr für die Trinkwasserversorgung, berichtet die Nachrichtenagentur dpa (hier zu lesen bei Sueddeutsche.de). In Münster sei die Lage wie auch in Köln, Düsseldorf, Wuppertal, Essen, Dortmund und Bochum stabil. Die Stadtwerke Münster nutzten ein aufwändiges Verfahren zur künstlichen Grundwasseranreicherung mit gefiltertem Kanalwasser. Für den Sommer sehen die meisten Versorger laut dpa keinen akuten Handlungsbedarf, warnen jedoch davor, zu viel Wasser zu verbrauchen. Bislang sei der Wasserverbrauch nur leicht gestiegen. (rhe)

+++ Eigentlich sollte man sich nicht mit anderen vergleichen, manchmal scheint es aber auch zu helfen. Forscher:innen der Uni Münster haben herausgefunden: Der Vergleich mit anderen kann helfen, das eigene Verhalten zu verändern – und das sogar langfristig. Vor allem dann, wenn’s ums Klima geht. Die psychologische Grundidee dahinter: Wenn ich sehe, dass meine Nachbar:innen deutlich weniger Strom verbrauchen als ich, fühle ich mich motiviert, selbst zu sparen. Das funktioniert laut Studie auch bei Themen wie Bewegung oder Lernen – dort aber eher kurzfristig. Beim Klimaschutz hingegen bleibe der Effekt oft stabil. Das Forschungsteam hat 79 kontrollierte Studien mit mehr als 1,3 Millionen Menschen ausgewertet. Heraus kam: Wer regelmäßig realistische Vergleichswerte bekommt, passt sein Verhalten eher an. Vielleicht fragen Sie Ihre Nachbar:innen ja mal nach der Stromabrechnung und vergleichen die mit Ihrer eigenen. (ani)

Anonymer Briefkasten

Anonymer Briefkasten

Haben Sie eine Information für uns, von der Sie denken, sie sollte öffentlich werden? Und möchten Sie, dass sich nicht zurückverfolgen lässt, woher die Information stammt? Dann nutzen Sie unseren anonymen Briefkasten. Sie können uns über diesen Weg auch anonym Fotos oder Dokumente schicken.

zum anonymen Briefkasten

Ein-Satz-Zentrale

+++ Die Baumarkt-Kette Hellweg schließt im August ihre Filiale in der Loddenheide. (WDR)

+++ In einem Hinterhof an der Friedrich-Ebert-Straße (Höhe Südpark) entsteht ein Apartmenthaus für 16 Menschen mit einer psychischen Beeinträchtigung. (Westfälische Nachrichten)

+++ Die Stadt hat vor der Gottfried-von-Cappenberg-Grundschule im Süden erstmals eine Straße gesperrt, um morgens das Chaos mit den Elterntaxis zu verhindern. (Westfälische Nachrichten)

+++ An der Windthorststraße am Bahnhof (Ecke Berliner Platz) gibt es einen kleinen neuen Supermarkt. (Westfälische Nachrichten)

+++ Ab übernächstem Jahr will die Stadt die Kanalstraße zwischen Lublinring und Rjasanstraße für eine knappe Million Euro zu einer Fahrradstraße umbauen – mit barrierefreien Haltestellen, neuen Gehwegen und einer Mobilstation. (Stadt Münster)

+++ Die Stadtwerke Münster statten ab sofort alle Wohn- und Geschäftshäuser mit Glasfaseranschlüssen aus – unabhängig davon, ob Mieterinnen und Mieter einen Vertrag abgeschlossen haben. (Westfälische Nachrichten)

+++ Um die Soziale Erhaltungssatzung durchzusetzen, hat die Stadt Münster im Hansa-, Hafen- und Herz-Jesu-Viertel 2023 und 2024 sieben Bußgelder über insgesamt mehr als 26.000 Euro verhängt, eine Baustelle gestoppt und einen Gerichtsprozess weitgehend gewonnen. (Stadt Münster)

+++ Vor der Erna-de-Vries-Realschule (Hammer Straße) soll ein Mann am Freitagmorgen mehrere Jugendliche sexuell belästigt haben. (Polizei Münster)

+++ Trotz angespannter Lage bleibt der Immobilienmarkt in Münster stabil – mit wachsendem Interesse an exklusivem und nachhaltigem Wohnraum. (Westfälische Nachrichten)

+++ Übernächste Woche Montag untersucht die Stadt, ob an der Goerdelerstraße ein Blindgänger liegt. (Stadt Münster)

Unbezahlte Werbung

Frische Erdbeeren gibt’s jetzt wieder vom Feld – zum Selberpflücken oder fertig geerntet. Zum Beispiel direkt am Feld von Hof Schwermann gegenüber der Pleistermühle, am Pleistermühlenweg 196. Wenn Sie Spargel, Kartoffeln, Soßen, Weine und andere regionale Spezialitäten mitnehmen möchten, besuchen Sie den Hofladen, einen Kilometer die Straße runter, der auch Produkte von weiteren lokalen Produzent:innen bietet. Öffnungszeiten und weitere Infos hier.

Hier finden Sie alle unsere Empfehlungen. Sollte Ihnen ein Tipp besonders gut gefallen, teilen Sie ihn gerne!

Drinnen und Draußen

Heute hat Katja Angenent für Sie in den Kalender geschaut. Das sind ihre Empfehlungen:

+++ Am Donnerstag wirft Peter Oestmann, Dekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät, einen Blick in die Münsteraner Rechtsgeschichte. Dabei geht es unter anderem um den Dom und das Sendschwert (Sie erinnern sich vielleicht, dass der Cold Case vom verlorenen Sendschwert im letzten Sommerloch die Runde machte). Der Themenabend des Stadtarchivs wird auch im Internet übertragen. Um 18 Uhr geht es los. Wer persönlich dabei sein möchte, sollte sich vorab anmelden.

+++ Haben Sie gewusst, dass die Beatweltmeister des Jahres 1967 aus Münster kamen – und dass sie heute immer noch Musik machen? „The Dandys“ spielen am Donnerstag ein Konzert im Kulturbahnhof Hiltrup. „Neues von Damals“ nennen sie ihr Programm und bieten neben Beatmusik (das ist eine Mischung aus Gitarre und Popmusik) auch rockige Stücke oder Countrysongs. Karten kosten 16 Euro und sind hier erhältlich.

+++ Wenn Ihnen der Sinn mehr nach Jazz steht, können Sie am Donnerstag alternativ im LWL-Museum für Kunst und Kultur um 20 Uhr den diesjährigen WDR-Jazzpreisträger Simon Oslender erleben. Zusammen mit der WDR-Bigband tritt er um 20 Uhr auf. Karten gibt es im Vorverkauf für 28 Euro.

+++ Als Reaktion auf die Verbote bestimmter Bücher in den USA hat die Uni Münster das „Banned Books Network Münster“ am Fachbereich Anglistik gegründet. Das Netzwerk will gerade diese Bücher in den Vordergrund stellen, los geht’s am Donnerstag um 17:45 Uhr im Specops. Das erste Buch, das vorgestellt wird, ist das Bilderbuch „And Tango Makes Three“. Darin brüten zwei männliche Pinguine gemeinsam ein Ei aus. Der Vortrag und die Diskussion finden auf Englisch statt.

+++ Seit Sonntag ist in der F24 die Fotoausstellung „Leben mit fetalem Alkoholsyndrom“ zu sehen. Darin zeigen die Fotografin Ingrid Hagenhenrich und die Texterin Iris Brandewiede, wie Betroffene mit dem Syndrom umgehen. Die Ausstellung ist noch bis zum 4. Juli zu den Öffnungszeiten der Kneipe zugänglich. Und schauen Sie auch mal hier. Charlotte Köhler hat 2021 für RUMS eine Betroffene aus Münster porträtiert.

+++ Der Journalist und Autor Hasnain Kazim liest morgen Abend in Münster aus seinem neuen politischen Reisebericht: Um 19 Uhr (Einlass ab 18:30 Uhr) in der Studiobühne. Tickets gibt’s vor Ort für 12 Euro. Veranstalter ist der Soroptimist International Club Münster-Mauritz. Der nimmt auch die Anmeldungen per E-Mail entgegen.

+++ Übermorgen veranstaltet das Haus der Niederlande einen Literaturabend. Zu Gast sind Lize Spit und Rob van Essen, zwei der renommiertesten zeitgenössischen Schriftsteller:innen der Niederlande und Flanderns. Sie stellen ihre neuen Bücher vor: „Der ehrliche Finder“ und „Hier wohnen auch Menschen“. Moderiert wird der Abend von der Literaturwissenschaftlerin, -übersetzerin und ehemaligen RUMS-Lektorin Lisa Mensing. Beginn ist um 19:30 Uhr, der Eintritt ist frei.

Am Freitag schreibt Ihnen Ralf Heimann. Ich wünsche Ihnen eine gute Woche!

Herzliche Grüße
Sebastian Fobbe

Mitarbeit: Anna Niere (ani), Ralf Heimann (rhe), Katja Angenent (kat) – das bedeutet: Die einzelnen Texte im RUMS-Brief sind von der Person geschrieben, deren Kürzel am Ende steht.
Lektorat: Susanne Bauer

PS

Vor zwei Wochen war die Reportageschule Reutlingen bei RUMS zu Gast. Die erste Reportage über den Hebammen-Kongress in der Halle Münsterland ist schon erschienen und gerade kommen weitere Texte bei uns an, die Sie in den nächsten Wochen bei uns lesen werden. Wenn Sie sich fragen, was eigentlich aus den Absolvent:innen der Reportageschule geworden ist, dann schauen Sie mal in den neuen „Fluter“. Erik Hlacer, der vergangenes Jahr über die Sperrung an der Wolbecker Straße geschrieben hat, schreibt in der aktuellen Ausgabe über eine homosexuelle Frau aus Libyen, die nach Deutschland flüchten musste und der der Fußball hilft, durchzuhalten. Und Jakob Milzner hat es mit seiner RUMS-Reportage über einen jungen Mann, der trotz Zölibat und Missbrauchsskandal katholischer Priester werden will, gerade in den neuen „Spiegel“ geschafft.

Ihnen gefällt dieser Beitrag?

Wir haben Ihnen diesen Artikel kostenlos freigeschaltet. Doch das ist nur eine Ausnahme. Denn RUMS ist normalerweise kostenpflichtig (warum, lesen Sie hier).

Mit einem Abo bekommen Sie:

  • 2x pro Woche unsere Briefe per E-Mail, dazu sonntags eine Kolumne von wechselnden Autor:innen
  • vollen Zugriff auf alle Beiträge, Reportagen und Briefe auf der Website
  • Zeit, sich alles in Ruhe anzuschauen: Die ersten 6 Monate zahlen Sie nur einen Euro.

Wir freuen uns sehr, wenn wir Sie ab heute in der RUMS-Community begrüßen dürfen!

Bitte melden Sie sich an, um zu kommentieren.
Anmelden oder registrieren