Wohnungsbau: Wieder Streit ums Grüne | Wie Martin Grewer ohne Abitur promovierte | Unbezahlte Werbung: Frische Nudeln von „Pastado“

Porträt von Ralf Heimann
Mit Ralf Heimann

Guten Tag,

in Mecklenbeck und Albachten nutzt die Polizei ihre Streifenwagen als Büros, denn dort gibt es keine Wache. Sie haben sicher schon angefangen, sich vorzustellen, was das im Alltag bedeutet.

Der Bezirksbeamte nimmt durchs offene Seitenfenster eine Anzeige auf („Das kommt jetzt sofort aus dem Drucker hinter mir auf der Rückbank“). Die Kollegin droht dem angetrunkenen Autofahrer: „Entweder Sie pusten jetzt in dieses Gerät, oder wir nehmen Sie für eine Blutprobe mit auf unseren Parkplatz vor dem McDonald’s.“

Solche Ordnungshüter kann niemand ernst nehmen. Deswegen möchte die CDU, dass die Polizei in Mecklenbeck und Albachten Büros bekommt. Sie möchte die Stadtteile, so könnte man sagen, grüner machen – wenn auch zunächst nur an einer einzigen Stelle.

Eigentlich ist das ja das Interesse der Partei, die das Anliegen schon im Namen trägt. Die Grünen, die den Streit darüber im Rat immer wieder mit der CDU ausfechten, zuletzt vor zwei Wochen, möchten platzsparend und in die Höhe bauen, damit drumherum möglichst viel Fläche grün bleiben kann.

Die CDU möchte möglichst nicht ganz so sehr in die Höhe bauen, weil sie soziale Schwierigkeiten befürchtet, und möglichst auch nicht so platzsparend, damit Einfamilienhäuser Platz finden und junge Familien nicht ins Grüne ziehen.

Im Rat haben in diesen Auseinandersetzungen zuletzt meistens die Grünen gewonnen, beziehungsweise das Ratsbündnis, das es am Ende doch irgendwie schaffte, eine Mehrheit zusammenzukriegen.

Am Montag hat die CDU das Ratsbündnis allerdings zusammen mit der FDP überrumpelt, nicht im Rat der Stadt, sondern ein Stockwerk höher im Regionalrat. Dort ging es um den sogenannten Regionalplan, der festlegt, wofür die Flächen in der Region langfristig zur Verfügung stehen sollen, ob als Baugebiete, Gewerbegebiete oder gar nicht.

Vorausgegangen war so etwas wie ein Pingpongspiel. Die Stadtverwaltung hatte verschiedene Flächen in Münster als mögliche Baugebiete vorgeschlagen. Der Rat in Münster hatte beschlossen, einige dieser Gebiete wieder aus der Liste zu streichen. Begründung: Sie seien für Naturschutz, Hochwasser- und Artenschutz wichtig.

Es geht um Grundstücke in Hiltrup, Berg Fidel, Mecklenbeck, Albachten, Coerde und Wolbeck (die genauen Orte hier).

Im Regionalrat, der die Interessen der Region abbildet, sehen die Mehrheitsverhältnisse etwas anders aus als im Rat. Hier haben CDU und FDP zusammen über die Hälfte der Stimmen. In der Sitzung am Montag (ab Minute 45) beschlossen sie, dass Münster an den vom Rat abgelehnten Orten nun doch mögliche Baugebiete bekommt. Baugebiete also, die man laut Ratsbeschluss gar nicht haben möchte.

Aus der Perspektive des Umlands ist das allerdings kein Geschenk, sondern eher ein Auftrag – nämlich der, mehr Wohnungen zu bauen. Martin Gerhardy von der FDP befand: „Münster muss seiner Verantwortung gerecht werden.“

Stefan Weber, im Rat Chef der CDU-Fraktion, im Regionalrat einfach Mitglied der Fraktion, sagte, die Situation auf dem Wohnungsmarkt in Münster lasse zurzeit wenig Spielraum. Es mangele ohnehin schon an Flächen. Verkleinere man die Auswahl, würden die vorhandenen noch teurer. Vor allem junge Familien wanderten ab. „Ich bin der Auffassung, wir sollten alles tun, um dem etwas entgegenzusetzen“, sagte Weber.

Die Grünen interpretieren die Entscheidung ganz anders. Den Menschen in Münster werde von außen „das genaue Gegenteil“ von dem aufgedrückt, was der Rat vor Ort beschlossen habe, sagt Fraktionssprecherin Sylvia Rietenberg. Der CDU wirft sie ein „merkwürdiges Demokratieverständnis“ vor. Carsten Peters, für die Grünen im Regionalrat, spricht von einem „Novum“.

Formal ist an dem Beschluss nichts auszusetzen. Das Verfahren geht wie geplant weiter. Die Bezirksregierung hat 1.200 Stellungnahmen und die Ergebnisse aus zehn Erörterungsterminen in das 12.000 Seiten dicke Beschlusspapier eingearbeitet. Ab Oktober liegt es zum zweiten Mal vier Wochen lang aus.

Ob auf den Flächen in Münster tatsächlich gebaut wird, das entscheidet ohnehin nicht der Regionalrat. Das entscheidet der Rat Münster. Wie die Entscheidung dann irgendwann ausfallen wird, hängt vor allem davon ab, wie grün es im Ratsbündnis dann noch ist. (rhe)

Kurz und Klein

+++ Ein Drittel der Menschen in Münster findet: Es war überfällig, dass Oberbürgermeister Markus Lewe nicht mehr kandidiert. Das hat das aktuelle „Münster-Barometer“ ergeben. Bei der Umfrage befragt die Uni Münster seit 1993 regelmäßig Münsteraner:innen zu Themen in der Stadt (die Rechte zur Veröffentlichung liegen exklusiv bei den Westfälischen Nachrichten). Ein wichtiges Thema ist diesmal die Kommunalwahl im nächsten Jahr. Etwa 30 Prozent sagen: Lewe hat einen guten Job gemacht, aber die Zeit sei reif für eine:n neue:n OB. 44 Prozent ist es egal, wer das ist. Hauptsache, das neue Stadtoberhaupt ist für seine Aufgabe geeignet. Bei der Frage nach der Ratswahl steht laut „Münster-Barometer“ die CDU mit 39 Prozent zurzeit eindeutig vorne. Alle Ampelparteien würden dagegen verlieren, die Grünen blieben allerdings die zweitstärkste Kraft im Rat (26 Prozent, 2022 waren es noch über 30 Prozent). Volt käme auf 6 Prozent – mehr als doppelt so viel wie bei der Kommunalwahl 2020. Trotzdem würde das Bündnis aus Grünen, SPD und Volt ihre knappe Mehrheit im Rat verlieren. Potenzielle Abhilfe könnte die Linke schaffen. Sie würde entgegen dem negativen Bundestrend ihr Ergebnis mit 5 Prozent halten. Und was ist mit der AfD? Die käme nur auf 2 Prozent der Stimmen, also auf ein kleines Minus im Vergleich zur letzten Wahl. (sfo)

+++ Mit den Umfrageergebnissen und vielleicht auch ein bisschen mit dem Wetter hat sich die Stimmung im Ratsbündnis anscheinend etwas verdüstert. SPD-Oberbürgermeister-Kandidat Stephan Brinktrine ließ vor einer Woche via Pressemitteilung fallen, die von der grünen Kämmerin und dem CDU-Stadtdirektor angedachte Erhöhung der Kita-Beiträge werde es mit der SPD nicht geben. Schöne Breitseite in alle Richtungen. Die Grünen schickten am Freitag eine Kutsche retour. Ratsherr Albert Wenzel zeigefingerte in Richtung der SPD-Kulturdezernentin, weil in der Theaterkasse 1,3 Millionen Euro fehlen. Dass die Personalkosten aus dem Ruder laufen, sei auch vor einem Jahr schon absehbar gewesen, sagte Wenzel. Gut an der Sache für beide Seiten: Solange man über Vorwürfe spricht, spricht man nicht über Umfragewerte. (rhe)

+++ Der nächste Oberbürgermeisterkandidat steht fest. Die Satirepartei „Die Partei“ hat wie auch schon 2020 Roland Scholle nominiert und zwar einstimmig. Sein Programm: Inhalte seien erstmal zweitrangig. Scholle gehe es bloß darum, die Wahl zu gewinnen, heißt es bei „Münstertube“. (sfo)

+++ Die „Megavo“-Studie ist erschienen. Die… bitte, was? Die Abkürzung „Megavo“ steht für „Motivation, Einstellung und Gewalt im Alltag von Polizeibeamt:innen“ – es geht also um die Rassismusstudie der Polizeihochschule Münster, die nicht Rassismusstudie heißen darf (RUMS-Brief). Ein Kernergebnis lautet: Die meisten Polizist:innen teilen die Werte der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, aber nicht alle. Vorurteile gegenüber Wohnungslosen und Geflüchteten sind in der Polizei weiter verbreitet als in der Gesamtbevölkerung. Bei frauenfeindlichen und antimuslimischen Einstellungen ist das Verhältnis genau andersherum. Die Studienleiterin Anja Schiemann sagte in einem Interview mit der taz, die Ergebnisse zeigten, es gebe kein Rassismusproblem in der Polizei. Von den 40.000 befragten Polizist:innen hätten nur rund 400 ein geschlossen rechtsradikales Weltbild. Trotz der geringen Zahl müsse man das ernstnehmen, sagte Schiemann. Genau das reiche aber nicht aus, kritisiert der Journalist Gereon Asmuth. Selbst kleinste Dosen seien für die Polizei zu viel: „Eine Polizei, die sich auch in Zeiten des aufkeimenden Faschismus damit zufrieden gibt, durchschnittlich zu sein (…), sollte keinem Anspruch genügen – vor allem nicht dem Anspruch der Polizei selbst“, schreibt Asmuth. In einem nächsten Schritt will die Hochschule der Polizei die Studienergebnisse feinanalysieren. Die nächsten Ergebnisse kommen 2026 heraus. (sfo)

+++ Im Haushalt des Bistums Münster klafft nächstes Jahr eine große Lücke. Unterm Strich werden 26 Millionen Euro fehlen. Das Bistum geht für 2025 von Einnahmen in Höhe von 741 Millionen Euro aus. Die Ausgaben liegen aber schätzungsweise bei 767 Millionen Euro. (Die Zahlen beziehen sich nur auf den nordrhein-westfälischen Teil des Bistums.) Ein großes Problem für die Kirchenfinanzen ist die rückläufige Mitgliederentwicklung im Bistum. Bis 2030 brauche das Bistum daher eine neue Sparstrategie, heißt es in einer Pressemeldung. Ziel müsse es laut Kirchensteuerrat sein, bis dahin 45 Millionen Euro einzusparen. Die größten Posten im Haushalt sind die Kirchengemeinden (229,5 Millionen Euro, davon fast 37 Millionen für die Kitas), die Schulen (46 Millionen Euro) und Soziales (42,5 Millionen Euro) – dazu gehören unter anderem die Caritas, Beratungsstellen oder auch die Jugend- und Altenhilfe. (sfo)

Wie es weiterging

… mit dem Hochhaus in Coerde

Die WDR-„Lokalzeit“ hat das Hochhaus an der Königsberger Straße besucht, um nachzuschauen, was sich seit dem Sommer getan hat. Kurzer Rückblick: Das Haus in Coerde geriet in die Schlagzeilen, nachdem dort u.a. kein Tropfen Wasser mehr aus der Leitung kam (RUMS-Brief). Der Vermieter, eine Wiesbadener Immobiliengesellschaft, kümmerte sich aber schlichtweg nicht um die Mängel im Haus. Die Stadt Münster griff nach einigen Beschwerden ein und schloss das Hochhaus an die Notwasserversorgung an. Und jetzt? Noch immer stehen vor dem Gebäude Sanitärwagen mit Toiletten und Duschen. Die Stadt hat den Müll entsorgt und die Vorgärten gestutzt. Die Ratten und der Schimmel sind aber geblieben. Ein Bewohner sagte dem WDR, dass sein Sohn vor Kurzem wegen Atemprobleme ins Krankenhaus musste. Viele fühlen sich im Stich gelassen. Jetzt soll sich aber ein Zwangsverwalter um die Probleme in dem Gebäude kümmern, den das Gericht für das Haus angeordnet hat. Der Zwangsverwalter ist somit der neue feste Ansprechpartner für die Stadt. Apropos: Die Stadt übernimmt zusammen mit dem Jobcenter gerade die Mieten für mehrere Hausbewohner:innen, die selbst nicht zahlungsfähig sind. Insgesamt geht es um 84.500 Euro, die jeden Monat an die insolvente Eigentümerin überwiesen werden. Wegen einer Lücke im Mietrecht kann die Stadt die Miete aber nicht mindern. Das können nur die betroffenen Mieter:innen selbst. (sfo)

2024-09-24-Martin-Grewer-Volt

Interview mit Martin Grewer

„Ich bin mir nicht immer sicher, wie man Chemie schreibt, aber ich kann das ganz gut“

Der Volt-Politiker Martin Grewer sollte nach der vierten Klasse auf die Hauptschule. Er hat nie Abitur gemacht. Aber jetzt in Chemie promoviert. Wir haben mit ihm über seinen ungewöhnlichen Weg durch das Bildungssystem gesprochen.

Herr Grewer, herzlichen Glückwunsch zum Doktortitel. Wie fühlen Sie sich?

Grewer: Es war ja ein langer Weg, aber am Ende ist das schon ein sehr schönes Gefühl, das Ergebnis zu sehen.

Können Sie in einfachen Worten erklären, worum es in Ihrer Doktorarbeit geht?

Grewer: Ja, es geht um Krebszellen und darum, wie sie sich auf Wanderschaft begeben und versuchen, sich vor dem Immunsystem zu verstecken. Sie nutzen Thrombozyten, also Blutplättchen, die eine Art Schutzschild um sie bilden, damit die Immunzellen sie nicht erkennen und sie unbemerkt durch das Blut wandern können.

Es geht darum, wie Krebs sich verbreitet?

Grewer: Genau. Wenn wir verstehen, wie diese Wanderschaft funktioniert und wie die Krebszellen sich auf ihrem Weg schützen, können wir eingreifen und diese Ausbreitung unterbrechen. Das wäre ein wichtiger Schritt, um die Krankheit zu bekämpfen.

Als Sie noch zur Schule gingen, war nicht absehbar, dass Sie später einmal forschen würden. Nach der vierten Klasse gab man Ihnen eine Hauptschulempfehlung. Wie kam es dazu?

Grewer: Das lag an meiner Legasthenie, also an einer Lese-Rechtschreib-Schwäche. Vor allem aber daran, dass man sie nicht erkannt hat.

Wie kann man so etwas übersehen?

Grewer: Meine Grundschullehrerin war damals schon etwas älter. Sie sagte damals, sie verstehe es einfach nicht. Ich sei doch ein aufgewecktes Kerlchen, wissbegierig in allen Bereichen, aber das Schreiben, das wollte einfach nicht klappen. Sie hatte dafür keine Erklärung.

Sie kamen dann aber trotzdem auf eine Realschule.

Grewer: Ja, die Lehrerin hat sich mit den Kolleg:innen der Realschule zusammengesetzt und sie gebeten, mich aufzunehmen. Das hat mir sehr geholfen.

Wie haben Sie die Situation damals empfunden?

Grewer: Das war für mich eine schwierige Zeit. Auf der Realschule war es ein Balanceakt zwischen Überforderung und Unterforderung. In den Naturwissenschaften und anderen Fächern gehörte ich zu den Besten. In den sprachlichen Fächern waren meine Noten so schlecht, dass meine Versetzung in Gefahr war.

Wann hat sich das verändert?

Grewer: In der siebten Klasse. Da sagte eine Lehrerin, die auch andere Lehrer:innen fortbildete, sie wolle mein Klassenarbeitsheft mit zu einer Fortbildung nehmen. Ich sei ja ein eindeutiger Fall.

Erinnern Sie sich noch an den Moment, in dem Sie das erfahren haben?

Grewer: Ja, ich weiß noch, wie die Lehrerin in der Klasse die Hefte verteilte. Wir hatten einen Aufsatz geschrieben, und bei mir war es wie immer: Stil und Ausdruck gut, Rechtschreibung ungenügend. An diesem Tag stand bei Rechtschreibung: „nicht benotet“.

Was haben Sie gedacht?

Grewer: Ich war so erleichtert, weil ich die Angst vor dieser Note nicht mehr hatte.

Was hat die Diagnose für Sie verändert?

Grewer: Die Ungewissheit war weg. Ich hatte für so vieles bis dahin keine Erklärung gehabt. Ich verstand zum Beispiel nicht, wieso mein bester Freund eine Gymnasialempfehlung bekam, während ich auf die Hauptschule sollte. Das hat auch mein Selbstbild beschädigt. Ich komme aus einer Handwerkerfamilie. Zu Hause war mein Bruder der handwerklich Begabte. Ich war der, der viel wusste. Aber das passte ja nicht zu den Noten. Und dann verstand ich endlich: Es liegt nicht an Faulheit, wie mir oft unterstellt wurde. Es lag an der Angst. An der Angst, Fehler zu machen. Das hat mich sehr lange blockiert.

Was haben Sie gemacht, um diese Angst loszuwerden?

Grewer: Ich habe eine Therapie angefangen. Meine Mutter fuhr mit mir einmal die Woche aus Kirchhellen, wo wir lebten, zum Institut für Diagnose und Lernkunde nach Gelsenkirchen. Da machte ich Übungen, um mir Schriftbilder einzuprägen. Ich lernte, mit der Angst umzugehen. Aber es blieb trotzdem schwierig.

Was waren das für Situationen, die Ihnen Probleme bereiteten?

Grewer: Ich hatte zum Beispiel große Probleme mit Englisch, vor allem mit den Vokabeltests. Ich würde auch in deutschen Vokabeltests heute immer noch versagen. Das ist eine Schwäche, die bleibt.

Das ist ja schon interessant. Beruflich arbeiten Sie mit komplizierten Formeln, aber an einfachen Wörtern scheitern Sie.

Grewer: Das ist tatsächlich ein interessantes Phänomen. Legastheniker sind sehr kreativ. Ich habe für jedes Wort drei, vier oder fünf verschiedene Schreibweisen im Kopf, die alle das Gesprochene ausdrücken könnten. Das bedeutet aber auch: Ich kann Texte voller Rechtschreibfehler flüssig lesen, ohne dabei ins Stocken zu geraten. Ich gehe zum Beispiel gern ins Museum. Und ich habe gemerkt: Viele Menschen haben Probleme, alte Schriften zu lesen, die entstanden sind, bevor der Duden die Standards festlegte. Für mich sind diese Texte gar kein Problem.

Wie erklärt sich das?

Grewer: Bei Legasthenie funktionieren bestimmte Hirnregionen, die für das Lesen und Schreiben zuständig sind, anders. Das hat nichts mit Intelligenz zu tun. Es beeinträchtigt lediglich die Fähigkeit, gesprochene Sprache in Schrift zu übertragen.

Kann man die Wörter nicht einfach auswendig lernen?

Grewer: Das geht leider nicht. Mir hat zum Beispiel das einfache Wort „mit“ immer große Probleme bereitet. Ich habe es manchmal mit „d“ und mit „t“ geschrieben.

Würden Sie sagen, das Problem war gelöst, als Sie die Ursache kannten?

Grewer: Nein, es war weiterhin schwierig, aber die Schwierigkeiten haben den Rest nicht mehr überschattet. Ich hatte mehr Spaß in der Schule. Am Ende der Zehn war ich sogar Klassenbester.

Sie haben sich trotzdem dagegen entschieden, Abitur zu machen. Warum?

Grewer: Ich wollte endlich raus aus der Schule – das machen, was ich gut kann.

Und dass das Chemie ist, das war Ihnen ganz klar?

Grewer: Ich denke heute manchmal: Ich bin mir nicht immer sicher, wie man „Chemie“ schreibt, aber ich kann das ganz gut. Das war auch schon in der Schule so. Aber dass das auch ein Beruf sein könnte, das wurde mir klar, als mein Vater mit mir zu einem Tag der offenen Tür in einem Chemieunternehmen gefahren ist. Da habe ich gedacht: Das möchte ich machen.

Nach Ihrer Ausbildung haben Sie einen weiteren Abschluss gemacht – den Techniker, der vergleichbar ist mit einem Meistertitel. Danach haben Sie Chemie studiert, danach promoviert. Wie haben Sie das alles hinbekommen?

Grewer: Wenn ich einen Abschluss hatte, habe ich immer gedacht: Da geht noch mehr. Und bislang ging dann auch immer noch mehr.

Wie haben Sie das Studium finanziert?

Grewer: Als Laborant und Techniker in der Wechselschicht verdient man sehr gut. Das Studium habe ich mir dann zum Teil selbst finanzieren können und zum Teil über Bafög finanziert.

Wie sind Sie mit Ihrer Legasthenie umgegangen?

Grewer: Da war ich immer sehr offen.

Haben Sie Verständnis erfahren? Oder war da auch Unverständnis?

Grewer: Das ist bis heute sehr unterschiedlich. Manche halten das einfach für eine Ausrede. Andere finden es gut, dass ich so offen damit umgehe. Ich merke aber oft, dass nur wenig darüber bekannt ist und wo die Schwierigkeiten liegen.

Wo merken Sie das?

Grewer: Zum Beispiel zurzeit in Bewerbungsgesprächen. Da kommen dann Fragen wie: „Sie müssen hier Berichte schreiben. Können Sie das denn?“

Und was sagen Sie dann?

Grewer: Na ja, ich habe eine Bachelorarbeit geschrieben, eine Masterarbeit, jetzt auch eine Doktorarbeit. Ich kann das.

Wie machen Sie das im Alltag, wenn Sie Texte schreiben müssen?

Grewer: Wenn Menschen schnell eine Antwort von mir erwarten, dann sage ich recht früh, dass ich Legastheniker bin. Das mache ich zum Beispiel, wenn ich als Politiker mit Medien zu tun habe. Im Prinzip weiß mein ganzes Umfeld Bescheid.

Benutzen Sie Hilfsmittel beim Schreiben?

Grewer: Ja. Natürlich die klassische Rechtschreibprüfung. Aber mittlerweile auch maschinelles Lernen – also das, was man auch künstliche Intelligenz nennt. E-Mails lasse ich durch ein Programm namens „you.com“. laufen. Das korrigiert Texte innerhalb von Sekunden.

Was hätte Ihnen das Leben in der Schule leichter machen können?

Grewer: Ich fand die Diskussion darüber sehr spannend, ob man Kinder erst mal so schreiben lässt, wie sie möchten. Das hätte mir damals sehr geholfen. Aber das war leider wieder eine Lösung, die für alle funktionieren sollte. Und daher hat es auch nicht funktioniert.

Sie meinen, das Bildungssystem ist zu starr, um auf verschiedene Bedürfnisse einzugehen?

Grewer: So war es jedenfalls auf der Realschule. Für die naturwissenschaftlichen Fächer musste ich nie lernen. In den Sprachen hätte ich viel mehr Unterstützung gebraucht. Ich wäre wahrscheinlich auf einer Gesamtschule besser aufgehoben gewesen.

Gab es auch etwas, von dem Sie sagen würden, das hat Ihnen geholfen?

Grewer: Es ist sehr gut, dass Legasthenie heute anerkannt ist und man Kinder dafür nicht mehr verurteilt. Das ist ein großer Fortschritt. Es ist auch sehr wichtig, Legasthenie früh zu erkennen und zu therapieren. Mein drei Jahre jüngerer Bruder zum Beispiel hat früh eine Therapie angefangen. Er hat heute keine Probleme mehr.

Sie sagten eben, Sie bewerben sich gerade: Was haben Sie vor?

Grewer: Ich komme ja aus der pharmazeutischen und analytischen Chemie. Ich würde gerne in der Qualitätssicherung oder im Qualitätsmanagement arbeiten, also da, wo es darum geht, zu überprüfen, ob Produkte bestimmte Standards erfüllen. In meiner politischen Arbeit habe ich mich ja auch sehr mit Nachhaltigkeit beschäftigt, auch da hätte ich Spaß dran.

Werden Sie auch weiterhin Politik machen?

Grewer: Wahrscheinlich nicht mehr in der ersten Reihe. Aber ganz werde ich die Finger wohl nicht davon lassen können.

Hatten Sie überhaupt schon Zeit, Ihren Doktortitel zu feiern?

Grewer: Ja schon, aber das Beste steht noch aus. Ich habe mich an eine alte Wette erinnert, die ich in der sechsten Klasse mit meinem besten Kumpel gemacht habe. Wir haben gewettet: Wer von uns beiden als Erster einen Doktor hat, der gibt dem anderen eine Currywurst aus. Und ich habe mich schon bei ihm gemeldet, die werde ich mir jetzt wohl noch holen.

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Korrekturen

Im RUMS-Brief am vergangenen Dienstag schrieben wir über die Pläne der Stadt, die Hafenstraße zu verlegen, eventuell über das Gelände zwischen den Bahnbrücken, auf dem das Kunstprojekt „Sozialpalast“ sich niedergelassen hat – beziehungsweise hatte, darauf hat das Projekt uns aufmerksam gemacht. Seit dem vergangenen Jahr sei man dort nicht mehr beteiligt. Wir haben die Angabe korrigiert. (rhe)

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Ein-Satz-Zentrale

+++ Am Wochenende wurde die Behelfsbrücke als Zubringer von der Umgehungsstraße zur Autobahn an der „Spinne“ installiert. (WDR)

+++ In Münsters Kfz-Zulassungsstelle fehlt weiterhin so viel Personal, dass man für einen Termin viel Geduld mitbringen muss. (Westfälische Nachrichten)

+++ Die ÖDP kritisiert den Hitzeaktionsplan der Stadt als zu unkonkret. (ÖDP Münster)

+++ Die FDP-Ratsfraktion kritisiert die geplante Bevorzugung der Gesamtschulen im Anmeldeverfahren für das kommende Schuljahr und fordert die Rückkehr zu einem einheitlichen Verfahren für alle Schulformen. (FDP Münster)

+++ Die Notschlafstelle „Sleep-In“ für Jugendliche in Münster sucht eine neue, dauerhafte Bleibe, weil der Mietvertrag Ende des Jahres ausläuft. (Westfälische Nachrichten)

+++ Die Bundesvorsitzende der Jungen Liberalen, Franziska Brandmann, wurde von der FDP Münster einstimmig als Direktkandidatin für die Bundestagswahl aufgestellt. (FDP Münster)

+++ Das Kulturamt sucht bis Ende November Leute, die ein Atelier im Speicher 2 am Stadthafen mieten wollen. (Stadt Münster)

+++ Das Gesundheitsamt empfiehlt, sich im Herbst gegen die Grippe impfen zu lassen. (Stadt Münster)

Unbezahlte Werbung

Beim kleinen Imbiss „Pastado“ ist der Name Programm: Es gibt (wie soll es auch anders sein?) hausgemachte Pasta und das sogar in Bioqualität. Am Aegidiimarkt 6 können Sie fünf verschiedene Nudelsorten mit elf typisch italienischen Saucen kombinieren – von Aglio e Olio über Bolognese bis hin zu Pollo Funghi. Unser Tipp sind Dinkel-Campanella mit (Achtung, pikant!) Arrabiata-Sauce. Einen Nachtisch gibt es auch, und zwar wahlweise Tiramisu oder Pannacotta. Wenn Sie noch ein Getränk dazu nehmen, bekommen Sie die Nudeln und die Süßspeise sogar als Menü. Buon Appetito!

Hier finden Sie alle unsere Empfehlungen. Sollte Ihnen ein Tipp besonders gut gefallen, teilen Sie ihn gerne!

Drinnen und Draußen

Diese Woche ist wieder viel los. Ein paar Kulturtipps hat Katja Angenent für Sie herausgesucht. Das hier sind ihre Empfehlungen:

+++ Das Literatur-Film-Festival ist in vollem Gange und präsentiert jede Menge Veranstaltungen. Heute Abend liest beispielsweise Autorin und Schauspielerin Anna Brüggemann aus ihrem „Trennungsroman“ im SpecOps. Darin geht es um das Ende einer Beziehung und die Frage: Wie lässt sich noch retten, was eigentlich nicht mehr zu retten ist? Morgen kommt die Autorin und Filmemacherin Irene Langemann für eine zweite Lesung ins SpecOps. Sie spricht über ihr Buch „Das Gedächtnis der Töchter“: die Chronik einer deutschen Familie, die versucht, im krisengebeutelten Russland Wurzeln zu schlagen. Weiter geht es am Donnerstag im „Dreiklang“ mit einem Lyrikabend. Der Autor Dinçer Güçyeter liest aus der Anthologie „Cinema“ vor. Alle Veranstaltungen beginnen um 20 Uhr.

+++ Von Mittwoch bis Samstag zeigt Jugendtheater Cactus im Pumpenhaus jeden Abend um 20 Uhr „Lüg mir dreckig ins Gesicht, mein Schatz“. In diesem Stück sucht der junge Schauspieler Mike nach einer Möglichkeit, dem Publikum seine Geschichte zu erzählen. Mit dreizehn Kolleg:innen lotet er dafür nicht nur die Grenzen des biografischen Erzählens, sondern auch die der Wahrheit aus. Mehr Infos und Karten gibt es hier.

+++ Am Donnerstag feiert um 20 Uhr „Kalter Weisser Mann“ im Wolfgang-Borchert-Theater Premiere. Die Gesellschaftssatire beschäftigt sich mit den Themen Gendern, politische Korrektheit und Alltagssexismus, erzählt am Beispiel eines Trauerfalls in einer Firma. Mehr zum Stück erfahren Sie an dieser Stelle. Die Premiere ist zwar schon ausverkauft, für die weiteren Vorstellungen gibt es aber noch Karten.

+++ Wenn Sie bei Wikipedia den Begriff „Cornern“ nachschlagen, dann sehen Sie den „Kiosk Ecke“ am Hansaring. Ein Bild aus längst vergangenen Zeiten. Denn das Ordnungsamt versucht es mehr und mehr einzuschränken, dass die Leute abends ihr Feierabendbierchen auf der Straße trinken, offiziell aus Lärmschutzgründen. Morgen findet deshalb ab 19 Uhr eine Tanzdemo statt, die sich für den Erhalt der Cornerkultur im Hansaviertel einsetzt. Start- und Endpunkt ist der Hafen, zwischendurch wird ein Stopp vor dem Rathaus für eine Kundgebung eingelegt. Mehr dazu bei Instagram.

Am Freitag schreibt Ihnen Anna Niere. Ich wünsche Ihnen eine gute Woche!

Herzliche Grüße
Ralf Heimann

Mitarbeit: Sebastian Fobbe (sfo), Jan Große Nobis (jgn), Anna Niere (ani) – das bedeutet: Die einzelnen Texte im RUMS-Brief sind von der Person geschrieben, deren Kürzel am Ende steht.
Lektorat: Maria Schubarth

PS

Der wandernde Entertainer Hape Kerkeling hat im Interview mit der Süddeutschen Zeitung über seine Vorfahren gesprochen, die – das ist das Ergebnis seiner Recherchen – im Münsterland gelebt haben, möglicherweise in Münster selbst, im Schloss von Bonifatius Reichsgraf von Hatzfeldt-Trachenberg. Bleiben Sie sitzen, das klingt nach mehr, als es ist oder war. In Wirklichkeit war dieses Schloss eine größere Villa mit Schlossanmutung: die Boniburg in Handorf, von der man seit ihrer Sprengung vor 54 Jahren nur noch die Umrisse erahnen kann. Die Geschichte geht sogar noch weiter. Wenn alles richtig ist, was Kerkeling mutmaßt, ist er möglicherweise auch noch auf irgendeiner Linie mit König Eduard VII. verwandt. Und nein, das ist nicht Eduard Hüffer, aus dessen Zeitung ich die Information mit der Boniburg habe. Das war der, wegen dem man vom Sakko heute den untersten Knopf offen trägt. Wobei womöglich auch das gar nicht stimmt. Wer weiß das schon. Erinnern Sie sich zum Beispiel noch an Armin Laschet, der sich seine Exzellenz im Grunde nur mit einer direkten Abstammungslinie zu Karl dem Großen erklären konnte, nach der Bundestagswahl aber auf einmal sehr klein war. Ich mag ja lieber Geschichten, in denen nicht ganz so sehr durchscheint, dass die ganze Sache auch mit Größenwahn zu tun hat. Kennen Sie zum Beispiel König-Wilhelm-Automobile am Dahlweg? Das ist so eine Geschichte. Ganz ohne Hybris und Anmaßung. Woher der Name kommt, steht auf der Website. Gegründet haben den Laden Martin König und Ludger Wilhelm. (rhe)

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