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Gesundheitsämter in Not | Prozessbeginn | Café Lenzig
Guten Tag,
Sarah Fischer erfuhr vor genau einer Woche von ihrer Corona-Infektion. Das Ergebnis kam überraschend, denn sie hatte keine Symptome. Es war ein Routine-Test, den sie bei ihrem Hausarzt hatte machen lassen, am Donnerstag, kurz vor dem Wochenende. Danach vergingen fünf Tage, bis am vergangenen Dienstag das Testergebnis vorlag.
Am Freitag darauf, drei Tage später, meldete sich das Gesundheitsamt bei der Privatschule, an der sie in ihrer Freizeit Geflüchteten Deutsch-Unterricht gibt, so schildert Sarah Fischer es. Wiederum zwei Tage später, am Sonntag, informierte das Amt die Kolleg:innen aus ihrem Hauptberuf. Am gleichen Tag klingelte bei den Fischers zu Hause das Telefon. Diesmal ging es um den Mann und die Kinder. Sie sollten in Quarantäne. Fünf Tage nach der Diagnose, zehn Tage nach dem Test. „Ich hatte das Gefühl, das läuft überhaupt nicht gut“, sagt Sarah Fischer.
Ihren richtigen Namen und ihren Beruf möchte sie nicht öffentlich machen. Sie wolle nur auf das Problem hinweisen, sagt sie. Und dieses Problem rückt die Gesundheitsämter nun wieder in den Mittelpunkt des Interesses. Sie verfolgen die Kontakte von Infizierten. Kommen sie nicht mehr nach, besteht die Gefahr, dass die Pandemie sich schneller ausbreitet. Im Moment deutet einiges darauf hin, dass das passieren könnte.
Seit dem Dienstagmorgen ist das gesamte Ruhrgebiet Risikogebiet. Der Kreis Warendorf in der Nachbarschaft hat den Grenzwert von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner:innen innerhalb von einer Woche schon vor Tagen überschritten, der Kreis Borken ist kurz davor. In Münster bewegt sich der Wert weiter auf einem Niveau von etwa 30. Doch das kann sich schnell ändern.
“Sie wissen gar nicht, was hier los ist”
In anderen Städten ist der kritische Punkt längst überschritten. Die große Überschrift auf der Titelseite der Süddeutschen Zeitung heute lautet: „Gesundheitsämter am Limit.“
Das Kreisgesundheitsamt in Wesel hat vor ein paar Tagen nach einem Bericht der Rheinischen Post mitgeteilt, „man sei nicht mehr in allen Fällen in der Lage, Infektionsketten nachzuverfolgen beziehungsweise zu ermitteln, wo sich eine Person angesteckt hat“. Im Kreis Viersen hieß es, es handle sich bei der Nachverfolgung um so komplexe Strukturen, dass „hier in der Regel kein eindeutiger Zusammenhang festgestellt werden kann“.
In diese Richtung geht die Entwicklung im gesamten Bundesland. Das NRW-Gesundheitsministerium befragt die Gesundheitsämter dazu in regelmäßigen Abständen. Bei der Befragung Ende August kam heraus: In acht von zehn Fällen lässt sich die Infektionsquelle ausfindig machen. Anfang Oktober waren es nur noch sechs von zehn.
Die Zahlen für Münster hat das Ministerium nicht. Aber die Stadt schreibt auf die Frage, ob es zurzeit noch gelingt, alle Fälle nachzuverfolgen: „Natürlich sind unsere logistischen Möglichkeiten endlich. Derzeit sind wir aber – auch durch Anhäufung von Überstunden – in der Lage, die angegebenen Kontakte nachzuverfolgen.“
Sarah Fischer hatte in der vergangenen Woche das Gefühl, der kritische Punkt sei in Münster bereits überschritten. Sie telefonierte fast täglich mit den Behörden, und sie hörte Sätze wie: „Sie wissen gar nicht, was hier los ist.“
Verzögerungen sind der erste Hinweis darauf, dass das System langsam an seine Grenzen stößt. Die „Rückstände reflektieren die Arbeitsfähigkeit des Gesundheitsamts“, hat der Neuköllner Amtsarzt Nicolai Savaskan vor wenigen Tagen dem Berliner Tagesspiegel gesagt.
Grenze zum Kontrollverlust
Münster befindet sich den Zahlen nach in einem vergleichsweise frühen Stadium. Die Situation in Neukölln könnte ein Ausblick darauf sein, was passieren kann, wenn es schlecht läuft. Der Berliner Stadtteil hat 330.000 Einwohner:innen, etwas mehr als Münster. Sie verteilten sich allerdings auf 45 Quadratkilometer, Münster hat etwa 300. Die Menschen, die in Neukölln leben, sind zudem im Durchschnitt jünger. Beides begünstigt die Corona-Verbreitung, die Enge und das Alter – wie auch die Tatsache, dass das Gesundheitsamt in Berlin kaum noch Schritt halten kann, wenn es darum geht, die Kontakte nachzuverfolgen.
„Bei 70 Prozent der Fälle finden wir nicht mehr den Infektionsherd“, sagt Amtsarzt Savaskan. Genau das ist aber ist enorm wichtig, das hat der Virologe Christian Drosten in der vergangenen Woche in seinem NDR-Podcast erklärt. Die Gefahr, durch die jemand sich angesteckt habe, bestehe ja weiterhin. Und wir seien jetzt in der Zeit, „wo die Fallverfolgung zunehmend schwerer wird, wo die Gesundheitsämter eines nach dem anderen sagen: ‚Wir kommen so langsam nicht mehr hinterher, Bundeswehr bitte zur Hilfe kommen.‘“ Auch das ist schon passiert, in dieser Woche zum Beispiel in Bitburg.
In den Gebieten von 71 der 400 deutschen Gesundheitsämter ist der Grenzwert bereits überschritten, berichtet die Süddeutsche Zeitung. Gerd Landsberg, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebunds, sagt, man befinde sich mancherorts „an der Grenze zum Kontrollverlust“. Die Zahlen aus Europa deuten darauf hin, dass es Parallelen zur ersten Welle gibt. Viele EU-Staaten sind schon stärker betroffen als Deutschland. „Was derzeit in unserer Nachbarschaft geschieht, könnte also ein Vorgeschmack sein auf die kommenden Wochen“, schreibt der Spiegel.
In Münster telefonieren zurzeit 20 sogenannte Containment-Scouts (Containment bedeutet Eindämmung) auf dem Gelände der York-Kaserne die Kontakte ab, mit denen die Infizierten in den vergangenen Wochen zu tun gehabt haben. Wie viele das im Durchschnitt sind, und wie viele Telefonate die Scouts am Tag schaffen, das könne man nicht genau sagen, schreibt die Stadt.
Ein ehemaliger Containment-Scout aus Münster, der diese Aufgabe bis vor wenigen Wochen in einer anderen Stadt in Nordrhein-Westfalen hatte, sagt: „Mehr als 50 Anrufe am Tag sind kaum möglich.“ Zur durchschnittlichen Zahl der Kontakte hat der Neuköllner Amtsarzt gesagt, eine infizierte Person gebe im Schnitt 15 Personen an. Doch diese Zahl kann stark schwanken. Wer in einer Schule arbeitet, kommt mit 15 Kontakten kaum hin. Hinzu kommt: In den vergangenen Wochen sind die Listen wieder länger geworden, weil die Menschen sich öfter getroffen haben. Wenn die Infektionszahlen weiter steigen, wird das sich nun wohl wieder ändern.
Die Containment-Scouts sind nicht die einzigen Menschen, die sich für die Stadt um Infizierte und mögliche Infizierte kümmern. Da ist das medizinische Personal, da sind Menschen aus der Verwaltung. Etwa 20 von ihnen bildet die Stadt derzeit zu sogenannten „Interimsscouts“ aus, die dann für einige Monate einspringen werden. Aber für einen Inzidenzwert, der sich in Richtung der kritischen Grenze bewegt, sind es immer noch zu wenige. NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann hat gestern gefordert, die Zahl der Mitarbeiter:innen in den Gesundheitsämtern von 2.200 auf 4.500 zu verdoppeln.
200 E-Mails pro Tag
Im Moment kommt noch eine zusätzliche Belastung hinzu: Menschen, die aus dem Urlaub zurückkehren. Auch um sie muss sich jemand kümmern. Ihre Bedeutung für das Infektionsgeschehen war zuletzt eher gering. Nach den Zahlen des NRW-Gesundheitsministeriums steckten sich in der letzten Septemberwoche sieben Prozent der Infizierten auf einer Reise an. Aktuelle Zahlen gibt es noch nicht. Aber die Stadt schreibt von bis zu 200 E-Mails, die pro Tag über die Adresse reiserueckkehrer@stadt-muenster.de eingingen.
Allzu sehr ins Gewicht fallen dürfte diese Gruppe allerdings auch in der neuen Statistik nicht. Über die Hälfte der Infektionen, die nachverfolgt werden konnten, passierte zuletzt im privaten Umfeld (55 Prozent). Mehr als ein Drittel der Infizierten steckte sich zu Hause an, nur knapp eine von zehn infizierten Personen bei einer privaten Veranstaltung an (8 Prozent). Etwas mehr als eine von zehn Personen fing sich das Virus am Arbeitsplatz ein (13 Prozent). In der Schule holten es sich 9 Prozent, in der Kita 2 Prozent.
Schaut man nur auf Münster, sieht alles gar nicht so bedrohlich aus. Die tägliche Pressemitteilung der Stadt mit den aktuellen Zahlen trägt heute die Überschrift „12 Neuinfektionen, 12 Gesundungen“. Aktuell sind im Stadtgebiet 157 Menschen als infiziert gemeldet. Dienstags und freitags erhebt die Stadt jetzt auch, wie viele Menschen in Quarantäne sind. Im Moment sind es 628. Etwa die Hälfte dieser Menschen muss zu Hause bleiben, weil sie von einer Reise zurückgekehrt sind, die andere Hälfte, weil sie intensiven Kontakt mit Infizierten gehabt haben. Einer dieser Menschen ist Sarah Fischers Mann. Er muss noch zu Hause bleiben. Ihre Quarantäne ist schon vorbei. Überstanden ist alles aber noch immer nicht. Von einer Kollegin hat Sarah Fischer erfahren: Es gibt schon den nächsten Kollegen mit einem positiven Testergebnis.
+++ Am 12. November beginnt der Prozess im Missbrauchsfall von Münster. Vor Gericht stehen laut einer Mitteilung des Landgerichts der 27-jährige Hauptverdächtige, dessen Mutter sowie drei Männer aus Hannover, Staufenberg (Hessen) und Schorfheide (Brandenburg). Der 27-Jährige soll das Kind seiner Freundin immer wieder vergewaltigt und anderen Tätern zum Missbrauch angeboten haben. Der Prozess wird viel Zeit in Anspruch nehmen. Es sind fast 30 Verhandlungstermine angesetzt.
+++ Der Häftling, der am Freitag im Gefängnis eine Auszubildende in seine Gewalt gebracht hatte und bei der Befreiung erschossen worden war, hat laut der Nachrichtenagentur dpa schon vorher Bedienstete bedroht. Aus diesem Grund sei er in einem mit einer Doppeltür gesicherten Haftraum untergebracht gewesen. Am Freitag war es ihm nach einem Bericht, aus dem die Agentur zitiert, unter einem Vorwand gelungen, die Frau als Geisel zu nehmen. Als drei Beamte ihm das Frühstück brachten, habe er gesagt, er wolle seinen Wäschesack übergeben. Dann sei er mit einem großen Schritt aus der Zelle getreten und habe die Frau in den Schwitzkasten genommen. Vor 13 Jahren hatte der Mann schon einmal viereinhalb Jahre im Gefängnis gesessen. Damals ging es um versuchten Totschlag.
Das Café Lenzig an der Südstraße gibt es seit 64 Jahren, den Mittagstisch noch nicht ganz so lange. Den hat Abdel Ennachete eingeführt, als er das Café vor zwei Jahren übernahm. Für jeweils fünf Euro bekommt man eines von mehreren wechselnden Gerichten, etwa Pasta mit Salbeibutter, lauwarmen Ofenkartoffelsalat oder gefüllte Paprika, dazu für sehr wenig Geld üppige Beilagen. Das Besondere ist: Die Küche ist einfach und sehr gut. Diese Kombination findet man ja wirklich überraschend selten. Am besten testen Sie den Mittagstisch im Lenzig gleich in dieser Woche. Wer weiß, wie lange die Restaurants noch geöffnet sind.
Hier finden Sie alle unsere Empfehlungen. Sollte Ihnen ein Tipp besonders gut gefallen, teilen Sie ihn gerne!
+++ Im RUMS-Brief am Freitag hatten wir einen Spaziergang in die Zukunft angekündigt. Den können Sie morgen und übermorgen noch machen. Die übrigen Veranstaltungen des Projekts „Die kommende Stadt“ müssen wir aber leider wieder absagen – oder besser: in die Zukunft verschieben. Das Spiel und die Performance von Iris Dzudzek und Jan Deck fallen leider wegen Corona aus. Es werden wahrscheinlich nicht die letzten Termine sein.
+++ Wie wird es weitergehen, wenn die Krise vorbei ist? Das ist nicht nur die Frage, die uns alle beschäftigt, es ist auch der Inhalt einer Filmreihe („Krise und Veränderung. Aufbruch im Film“), die am Dienstag (27. Oktober) im Landesmuseum am Domplatz beginnt. Der erste von fünf Filmen ist der Cannes-Gewinner „Höhere Gewalt“ des Regisseurs Ruben Östlund. Es geht um eine Familie, die beim Skifahren fast einer Lawine zum Opfer fällt, in eine Ausnahmesituation gerät, und plötzlich steht alles in Frage. Der Tagesspiegel schreibt, der Film sei „beinahe ein Lehrstück über Geschlechterrollen und deren Wandel im Postfeminismus, und dass Östlund bis zum Schluss nicht Partei ergreift, gehört zu den vielen Stärken dieses Films.“ Der Eintritt kostet fünf Euro. Tickets gibt es hier. Das komplette Programm der Reihe finden Sie auf dieser Seite.
+++ Und am Wochenende öffnen wieder die Ateliers am Hawerkamp, jeweils zwei Mal für jeweils gut zwei Stunden, konkret: am Samstag und Sonntag von 13 bis 15:15 Uhr sowie von 15:45 bis 18 Uhr. Sie müssten sich vorher anmelden. Das ist hier möglich. Und ein Tipp von mir: Seien Sie früh da. Sonst kann es passieren, dass Sie trotz Anmeldung sehr lange vor dem Eingang warten müssen. Ich weiß, wovon ich spreche.
Am Freitag schreibt Ihnen wieder Constanze Busch. Haben Sie bis dahin eine schöne Woche.
Herzliche Grüße
Ralf Heimann
PS
Vielleicht haben Sie in den vergangenen Tagen in Münster Sätze aus Kreide auf der Straße gelesen, mit denen Sie erst mal nichts anfangen konnten. Zum Beispiel: „Er strich an meinem Oberschenkel hoch zu meinem Po. Danach habe ich mich extrem unwohl gefühlt.“ Oder: „Wir erklärten ihm den Weg, dann rief er uns hinterher: Heute Abend gehört ihr beide mir!“ Wenn die Sätze Ihnen bekannt vorkommen oder Sie aus anderen Gründen gern wüssten, worum es geht, schauen Sie auf die Instagramseite „Catcalls of Münster“. Vier Studentinnen sammeln dort seit Anfang September Erfahrungen von Frauen, die in der Öffentlichkeit von Männern sexuell belästigt worden sind. Die FAZ hat im Juni über diese ursprünglich aus New York stammende Bewegung geschrieben. Lisa Bauwens hat für das Online-Magazin Alles Münster mit den Studentinnen gesprochen, die diese Erlebnisse jetzt in Münster sammeln. Wenn Sie selbst solche Erfahrungen gemacht haben, schreiben Sie den Initiatorinnen auf Instagram. Oder schreiben Sie uns eine E-Mail. Wir leiten Ihre Nachricht dann weiter.
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