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Lewe bleibt | Schnitt durch die Mitte | Der Abend der Stichwahl

Guten Tag,
gegen 19.30 Uhr dürfte es spannend werden, sagte Jochen Temme, der Moderator des Wahlabends, am Sonntag gegen 18 Uhr in der Bürgerhalle des historischen Rathauses. Die Wahllokale hatten soeben geschlossen. Das Ergebnis stand fest. Es musste nur noch ausgezählt werden. Temme skizzierte den Zeitplan. Um 20 Uhr werde das Endergebnis wohl hoffentlich feststehen, sagte er. Doch dann war um 19.15 Uhr schon alles gelaufen. Der Amtsinhaber Markus Lewe (CDU) hatte wieder gewonnen.
Lewe stand kurz hinter dem Eingang der Bürgerhalle, umringt von Menschen und Mikrofonen. Er hatte knapp 7.000 Stimmen mehr bekommen als sein Gegenkandidat Peter Todeskino (Grüne). Es war ein knappes Ergebnis. Eine Reporterin fragte Lewe, ob er gezittert habe. Er antwortete: „Ich hab’s am Anfang gar nicht angeguckt.“ Und dann sagte er: „Am Ende zählt das Ergebnis.“
Das ist ein interessanter Satz, denn natürlich, Markus Lewe hat die Oberbürgermeister-Wahl gewonnen. Aber was genau ist das Ergebnis dieser Wahl? Diese Frage ist nicht so leicht zu beantworten.
Die Entscheidungen trifft der Rat
Als Markus Lewe und Peter Todeskino in der Woche vor der Wahl den Westfälischen Nachrichten zum Abschluss ihres Wahlkampfs große Interviews gaben, ging es um Fragen wie: Wird es einen Musik-Campus geben? Wann wird der Hafenmarkt eröffnet? Schafft es Münster bis zum Jahr 2030 klimaneutral zu sein? Doch über diese Dinge entscheidet nicht der Oberbürgermeister. Das ist die Aufgabe des Rates der Stadt. Der wurde schon vor zwei Wochen gewählt. Und nach dem Ergebnis dieser Wahl könnte sich nun eine Situation ergeben, in der eine linke Mehrheit konsequent das Gegenteil von dem beschließt, was der Oberbürgermeister sich vorstellt.
Um zu verstehen, worüber bei der Stichwahl eigentlich abgestimmt wurde, muss man sich ansehen, wer in einer Stadt welche Aufgaben hat, und warum diese Aufgaben so verteilt sind.
Dazu ein kleines Gedankenexperiment. Eine einfache Form von Demokratie wäre: Münster wählt eine Oberbürgermeister:in, die über alles eigenmächtig entscheidet. In dieser Demokratieform käme die unterlegene Minderheit allerdings nicht vor. Bis zur nächsten Wahl könnte die Amtsinhaber:in machen, was sie will.
Der Rat schränkt diese Möglichkeit ein. Er trifft in der Stadt die Entscheidungen. Markus Lewe ist zwar Mitglied und Vorsitzender des Rates, doch wie alle übrigen Mitglieder hat er nur eine Stimme. Gleichzeitig ist er aber Chef der Verwaltung. Seine Aufgabe ist, die Beschlüsse des Rates vorzubereiten und umzusetzen.
Vermittler:in und Impulsgeber:in
Das muss man wissen, um zu verstehen, dass Markus Lewes Handlungsspielraum begrenzt ist. Bei der Wahl am Sonntag ging es nicht um konkrete politische Entscheidungen wie den Musik-Campus oder ein Schwimmbad, es ging zuallererst um eine Person – um die Frage: Welche Führungsfigur soll an der Spitze der Stadt stehen?
Wichtig ist aber noch eine weitere Aufgabe, die das Amt mit sich bringt. Die Oberbürgermeister:in hat im Rat zwar nur eine Stimme. Aber sie ist die Stimme der Stadt. Sie repräsentiert sie. Ihr Amt ist so zugeschnitten, dass sie alle im Blick behalten soll, auch die unterlegene Minderheit. Wenn man so will, hält die Oberbürgermeister:in den Laden zusammen. Sie moderiert, sie vermittelt, und sie hat eine wichtige Aufgabe, die nirgendwo niedergeschrieben steht: Sie ist eine Impulsgeber:in, die Ideen anregt, Visionen formuliert und Debatten in Gang bringt.
Die Wahl zur Oberbürgermeister:in ist daher immer auch eine Entscheidung über die Richtung. Und dabei spielen konkrete politische Projekte dann doch eine Rolle, denn mit ihnen lässt sich die große Richtung auf kleine Fragen herunterbrechen.
In einer Stichwahl werden alle Fragen, die mit dieser komplizierten Entscheidung über die Person an der Stadtspitze zusammenhängen, auf zwei Optionen verkürzt. Ja oder Nein. Schwarz oder Weiß. Wenn man sich den Wahlkampf der vergangenen Wochen angesehen hat, könnte man sagen, in Münster waren die Optionen: Veränderung oder Kontinuität?
Ein „Ja, aber“ wird möglich
Schaut man nur darauf, wer eine Mehrheit hinter sich vereint, wäre die Antwort: Die Menschen haben sich für Kontinuität entschieden. Aber bei so einem knappen Ergebnis blendet diese Deutung eine Hälfte vollkommen aus.
Der Satz „Am Ende zählt das Ergebnis“ ist richtig, wenn es darum geht, zu ermitteln, wer eine Wahl gewonnen hat, aber er greift zu kurz, wenn es darum geht, Erklärungen zu finden.
Unser politisches System reduziert komplizierte Zusammenhänge auf einfache Wahlentscheidungen. Aber es gibt den Menschen die Möglichkeit, eine mehrdimensionale Auswahl zu treffen. Sie können mit ihren Kreuzchen auf dem Wahlzettel nicht nur mit Ja oder Nein antworten, sondern durch die Kombination von mehreren Wahlen auch mit „Ja, aber“.
Das ist in diesem Fall passiert. Bei dieser Wahl haben mehr Menschen Ja zu Markus Lewe gesagt als zu seiner Partei. Lewe hat eine Mehrheit, eine konservative Politik hat in der Stadt keine. Aber auch das ist ein trügerisches Ergebnis, denn wenn man näher heranzoomt, stimmt dieses Bild nicht mehr.
In den Außenbezirken hat eine konservative Politik eine sehr deutliche Mehrheit. Hier hat bei den Ratswahlen fast überall die CDU gewonnen, und so war es auch bei der Stichwahl am Sonntag. Die Grünen kamen nur in Gievenbeck (Nord und Süd) und in Sentrup auf über die Hälfte der Stimmen. In der Innenstadt gewannen sie mit Ausnahme des Wahlbezirks Düesberg, wie auch schon bei den Ratswahlen, überall.
Ein Schnitt durch die Mitte
Hätte die Innenstadt mit ihren 100.000 Einwohnern einen eigenen Oberbürgermeister gewählt, wäre Peter Todeskino aus dieser Wahl mit 57 Prozent der Stimmen als Sieger hervorgegangen. Hätten die Außenbezirke sich auf einen Kandidaten einigen müssen, wäre Markus Lewe mit deutlich über 60 Prozent der Stimmen gewählt worden.
Man kann nun nach Erklärungen dafür suchen, dass Peter Todeskino die Wahl nicht gewonnen hat, obwohl das allgemeine Klima für die Grünen doch günstig war. In anderen Städten wie Wuppertal oder Aachen haben ihre Kandidaten sich schließlich durchgesetzt. Warum war das so? Sind die politischen Präferenzen in Münster einfach andere? Lag es am Wahlkampf? Hätte Todeskino Münsters Stadtteile mehr in den Blick nehmen müssen? War es falsch, eine so große Organisation wie die Stadtverwaltung mit mehreren tausend Mitarbeiter:innen gegen sich aufzubringen? Hätte eine jüngere Frau bessere Chancen gehabt als ein Mann kurz vor dem Ruhestand?
Für das konkrete Wahlergebnis könnten Antworten auf diese Fragen aufschlussreich sein. Um das Ergebnis zu interpretieren, sind sie nicht wichtig. Auf dem Papier gibt es einen Wahlsieger. Aber die eigentliche Aussage der Stichwahl und auch der gesamten Kommunalwahl ist: Durch die Stadtgesellschaft geht ein Schnitt, ziemlich genau durch die Mitte. Die dominierenden politischen Vorstellungen in der Innenstadt und den Außenbezirken Münsters unterscheiden sich deutlich. Was könnte die Ursache sein?
Es könnte daran liegen, dass die Probleme, die Veränderungen notwendig machen, in der Stadt sichtbarer sind als in ländlicheren Gebieten. Der überteuerte Wohnraum, der Verteilungskampf zwischen dem Rad- und dem Autoverkehr, der Lärm auf den Hauptverkehrsstraßen. Das alles dürfte in der Innenstadt gegenwärtiger sein als zum Beispiel in Hiltrup.
Es könnte sein, dass es Menschen mit konservativen Wertvorstellungen eher in die Stadtteile zieht, weil zu ihren Lebensmodellen eher ein eigenes Haus gehört als eine Stadtwohnung. Eine Erklärung könnte sein, dass es den Menschen in den Stadtteilen überwiegend gut geht. Und dass sie mit Veränderungen die Sorge verbinden, dass es schlechter werden könnte. Vielleicht ist es auch eine Generationenfrage. Im Hafenviertel und Pluggendorf, wo sehr viele junge Menschen wohnen, erreichten die Grünen fast zwei Drittel der Stimmen. In Hiltrup hatte die CDU einen ähnlichen Stimmenanteil.
Rückkehr in den alten Modus
Gegen diese Erklärungsversuche spräche: In Altenberge, Havixbeck oder Emsdetten dürfte der Altersschnitt deutlich höher sein als im Bahnhofsviertel, auch die Verkehrsprobleme und die hohen Mieten dürften nicht mit denen in Münster zu vergleichen sein. Doch auch dort gewannen Kandidaten der Grünen die Bürgermeister:innen-Stichwahl. Das könnte daran liegen, dass es bei der Bürgermeister:innen-Wahl eben doch vor allem um Personen geht.
Am Sonntagabend in der Bürgerhalle, kurz nachdem das Ergebnis bekannt geworden war, sagte Markus Lewe: „Es geht jetzt darum, neue Mehrheiten zu bilden.“ Er sprach auch die an, die ihn nicht gewählt hatten, oder die nicht zur Wahl gegangen waren. „Ich bin Oberbürgermeister für alle Münsteranerinnen und Münsteraner“, sagte er. Das klang etwas floskelhaft, aber es war in dem Fall ein wichtiger Satz, denn genau das wird entscheidend sein, um zu verhindern, dass der Schnitt durch die Stadtgesellschaft auf Dauer zu einem Graben wird.
Nach dem zuletzt etwas entglittenen Wahlkampf machte Markus Lewe dann gleich vor, wie er sich die Rückkehr in den alten Modus vorstellt. „Wenn keine Corona-Zeit wäre, würde ich meinem Mitbewerber gerne die Hand geben“, sagte er. Das werde er dann gleich mit dem Ellenbogen machen. „Oder wie auch immer, damit wir uns dann auch weiter in die Augen gucken können, zusammenarbeiten in den unterschiedlichen Rollen, auch das gehört dazu“, sagte Lewe. Peter Todeskino sagte später, für ihn beginne am Montagmorgen um 9 Uhr ein ganz normaler Arbeitstag, als Geschäftsführer der Parkhaus-Gesellschaft Westfälische Bauindustrie, einer Tochter der Stadt Münster.
+++ Die genauen Ergebnisse der Oberbürgermeister-Stichwahl am Sonntag finden Sie hier.
Ein regulärer Brief kommt wieder am Freitag. Dann schreibt Ihnen meine Kollegin Constanze Busch. Haben Sie bis dahin eine schöne Woche.
Herzliche Grüße
Ralf Heimann
PS
Einen siebenminütigen Audio-Mitschnitt des Moments kurz nach der Bekanntgabe des Endergebnisses hören Sie in der Audio-Version unseres Beitrags (Audio-Player oben unter der Überschrift). Hier können Sie es auch nachlesen.
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