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Rücksicht allein reicht nicht | Müllabfuhr kommt noch | Ouzeri
Guten Tag,
es war eigentlich ein sicherer Plan. Der Cartoonist Ralph Ruthe wollte am Samstag in Münster Autogramme geben. Vier Stunden lang, in einer 400 Quadratmeter großen Halle an der Gildenstraße in Handorf. Er hätte hinter Plexiglas gesessen. Ein Türsteher hätte darauf geachtet, dass jede Person, die den Raum betritt, Desinfektionsmittel benutzt. Maximal 40 Personen hätten gleichzeitig in der Halle sein dürfen. „Die ganze Veranstaltung wäre somit sicherer gewesen als ein Supermarktbesuch“, schreibt Ruthe bei Twitter. Aber darum gehe es nicht. Es werde wieder kälter, die Infektionszahlen stiegen, Menschenleben seien in Gefahr. „Da möchte ich einfach nicht das Signal senden: ‚Guckt mal, wir machen trotzdem eine große Veranstaltung‘“, schreibt Ruthe. Und solche Signale bekommen in diesen Tagen wieder eine größere Bedeutung.
Ein schneller Blick auf die Corona-Zahlen in Münster: Am Samstag meldete die Stadt 25 Neuinfektionen, am Sonntag 17, am Montag 12, am Dienstag 22. Das ist mehr als im Sommer, aber es ist weit entfernt von einer Situation, die außer Kontrolle gerät, wenn man von dem Bordell im Süden absieht, das die Stadt am Wochenende „aufgrund erheblicher Mängel mit sofortiger Wirkung“ dichtgemacht hat.
Ansonsten verteilen die Infektionen sich über das Stadtgebiet. So schreibt das Presseamt es am Montag in seiner täglichen Wasserstandsmeldung. Betroffen sind danach vor allem Menschen im Alter von 20 bis 40 Jahren, die sich überwiegend in ihrem privaten Umfeld angesteckt haben. Und das kann man auf unterschiedliche Weise deuten.
Es könnte damit zu tun haben, dass das, was man früher Nachtleben nannte, inzwischen nicht mehr in Clubs stattfindet, sondern überwiegend zu Hause – in kleinen Gruppen, die mittlerweile vielleicht nicht mehr so klein sind wie während der Spitze der ersten Corona-Welle. Und das könnte damit zu tun haben, dass viele junge Menschen vielleicht nicht allzu vorsichtig sind, weil sie wissen: Ganz so groß ist das Risiko für sie nicht.
Ein Signal gegen den Verdacht
Wenn das so wäre, hätte man immerhin einen Sündenbock: die jungen feiernden Menschen. „Pandemie, nicht Party“, das ist auch die Überschrift eines Kommentars auf der Titelseite der Westfälischen Nachrichten heute (hier online mit anderem Titel). Der panische Inhalt, schnell zusammengefasst: Alles gerät außer Kontrolle, die jungen Menschen, die Politik. Der letzte Satz lautet: „Die Mittwochsrunde bei Merkel muss ein Signal gegen den fatalen Verdacht des Kontrollverlusts senden.“
Ein Signal also. Ein Signal gegen den fatalen Verdacht des Kontrollverlusts. Die phrasenhafteste Umschreibung dieser Art der geforderten Politik lautet: Klare Kante.
Es ist der Wunsch nach einer Lösung per Anweisung von oben, die dieses schwierige Problem endlich ein für allemal aus der Welt schafft – vielleicht so, wie die katholische Kirche das Problem mit dem Sex vor der Ehe per Anweisung von oben ein für allemal aus der Welt geschafft hat.
Nach der Problembeschreibung ist die Lösung einfach: Man muss eben nur einiges unterbinden, verbieten, kontrollieren und bestrafen. Und wenn man die Schuldigen benennen kann, um so besser.
Die Wirklichkeit ist leider komplexer. Nehmen wir zum Beispiel die rücksichtslose Feiergemeinde, die jungen Leute. Ja, solche Menschen gibt es. Aber ist das wirklich die ganze Erklärung?
Vielleicht ist es hier doch eher so: Menschen aus allen Altersgruppen versuchen unter den widrigen Umständen ein Leben zu führen, das sich halbwegs dem ähnelt, das sie vorher mal hatten. Und diese Normalität sieht in den unterschiedlichen Altersgruppen anders aus. Soziale Kontakte spielen im Leben von jüngeren Menschen eine andere Rolle als im Leben von alten. Jüngere lernen öfter Menschen kennen. Ihre Freundeskreise und Beziehungen sind noch nicht so fest gefügt. Sie sind auf der Suche. Ihr soziales Bezugsfeld formiert sich in der Schule, dem Studium oder den ersten Berufsjahren, bis dann alles irgendwann etwas ruhiger wird.
Wir brauchen Regeln
Für junge Menschen hat sich in der Corona-Zeit sehr viel verändert, obwohl die Krankheit für sie selbst ein verhältnismäßig geringes Risiko darstellt. Bei älteren Menschen ist das Verhältnis anders. Ihr eigenes Risiko ist größer, auch für sie ist heute vieles anders; nur sie befinden sich in einer Lebensphase, in der sich nicht mehr so viel verändert, oder besser: formt.
Das ist keine Wertung, sondern lediglich eine Analyse der Situation, um die unterschiedlichen Bewertungsmaßstäbe zu verdeutlichen. Menschen ihre Lebensweise vorzuwerfen, produziert Konflikte und Gräben, aber nichts, was die Probleme lösen könnte. Das kennen wir in umgekehrter Konstellation aus der Klimadebatte. Auch da ist der Vorwurf im Kern eine Lebensweise.
Was man sicher sagen kann: Die Hoffnung auf Rücksicht allein wird nicht ausreichen. Wir brauchen Regeln. Und da sind wir wieder bei dem Wunsch, dieses komplizierte Problem mit entschlossenen Vorschriften zu lösen.
Das ist eine wohlige Vorstellung, aber darin steckt die Illusion einer Macht, die es so gar nicht gibt. Wenn etwas verboten ist, bedeutet das nicht, dass die Menschen es nicht machen. Manchmal bewirken solche Regeln das genaue Gegenteil.
Für Menschen gibt es im Wesentlichen zwei Gründe, sich an Regeln zu halten. Der eine ist: Sie müssen bei einem Verstoß mit Sanktionen rechnen. Der zweite wäre: Sie halten die Regeln für vernünftig.
Das Maskentragen scheint in Münster auch ohne Strafen gut zu funktionieren, sicher auch wegen des sozialen Drucks, der entsteht, wenn die Mehrheit Masken trägt. Bei Kontaktlisten in den Kneipen scheint das nicht ganz so gut zu gehen. Hier gelten mittlerweile Strafen. Wer falsche Adressdaten einträgt, muss zumindest theoretisch 250 Euro zahlen. Kontrolliert wird das in der Regel nicht. Aber auch diese Möglichkeit gäbe es noch. In Hessen darf mittlerweile auch das Kneipenpersonal von Gästen einen Ausweis verlangen.
Das Zwiebelprinzip
In vielen Situationen werden Kontrollen nicht möglich sein. Und in diesen Fällen werden auch harte Vorschriften nicht weiterhelfen. Dann muss es über die Vernunft gehen. Auch in den Schulen wird das so sein. Am vergangenen Freitag hat Münsters Krisenstabsleiter Wolfgang Heuer angekündigt, die Regeln in den Schulen überprüfen zu wollen. Was das genau bedeutet, hat die Stadt uns bis Dienstagabend noch nicht beantwortet. Aber im Wesentlichen wird es auch hier so laufen wie anderswo: nach dem Zwiebelprinzip. Unterhemd, Shirt, Pullover, Jacke. Man wird sich warm anziehen müssen. Die Konferenz der Kultusministerien hat Ende September empfohlen, die Klassenräume alle 20 Minuten für drei Minuten zu lüften.
So weit, wie die Philologenverbands-Vorsitzende Susanne Lin-Klitzing vorschlägt, wird es in den meisten Klassen aber wahrscheinlich wohl nicht kommen. Sie rät beim Lüfen zu Ritualen. Beim Stoßlüften könne zum Beispiel das Lied „Wind of Change“ gespielt werden, sagt sie. Der Song dauert fünf Minuten und zehn Sekunden. Die Frage wäre dann, ob das für die Schüler:innen nicht alles noch schlimmer macht.
Es kann bei alledem natürlich passieren, dass Menschen lasche Regeln ausnutzen, wenn es möglich ist. Das wird man wohl nicht verhindern können. Aber es kann eben auch das Gegenteil passieren. Der Cartoonist Ralph Ruthe hätte am Samstag vier Stunden lang Autogramme geben dürfen. Er sagte trotzdem ab. „Es ist das Verantwortungsvollste“, schreibt er bei Twitter. Schade ist es für die Schülerinnen der Marienschule. Sie wollten mit einem Waffelstand etwas Geld für die Abi-Feier sammeln. Aber auch dafür hat Ruthe eine Lösung gefunden. Die Kontodaten für die Abikasse hat er bei Twitter veröffentlicht.
+++ Neues aus dem noch nicht vereidigten Rat: Zu einer Fraktion werden ödp, Die Partei und Georgios Tsakalidis sich zunächst nicht zusammenschließen, aber man werde kooperieren, sagte Tsakalidis am Dienstagabend nach einem Gespräch mit den Parteien. Er sprach von einer „Abstimmungsgemeinschaft“. Etwas Ähnliches sei auch zwischen ihm und der Europapartei Volt geplant, man wolle inhaltlich zusammenarbeiten. Die „Münster-Liste – bunt und international“ hat Tsakalidis aufgefordert, sein Ratsmandat zurückzugeben. Tsakalidis war in der vergangenen Woche ausgetreten (RUMS-Brief vom Dienstag).
+++ Der Nepalese Prakash Lohani sitzt für die Gruppe „Anerkennung für alle Ausländer“ (AAA) im Integrationsrat der Stadt und ist gleichzeitig AfD-Mitglied. Die Gruppe gibt an, davon bis kurz vor der Wahl nichts gewusst zu haben. Lohani behauptet das Gegenteil. Pjer Biederstädt berichtet darüber für die Westfälischen Nachrichten. Die Gruppe würde Lohani nun gern dazu bewegen, auf sein Mandat zu verzichten, offenbar auch mit Geld – bislang aber ohne Erfolg.
+++ Die Abfallwirtschaftsbetriebe sind etwas in Verzug mit der Müllabfuhr. Ungefähr 12.000 Mülltonnen sind in der vergangenen Woche wegen eines Streiks stehen geblieben. Das meldet die Stadt. Man arbeite das nun nach. Die Hälfte der Tonnen sei schon geschafft, die andere Hälfte folge bald. Das Problem dabei: Nach einem Streik kann das Unternehmen keine Überstunden anordnen. Das wär ja auch noch schöner. Es kann jedenfalls noch etwas dauern, weil jetzt parallel der neue und der alte Müll abgeholt werden. Ob Ihre Straße auch betroffen ist, steht in der Meldung der Stadt.
+++ Der Historiker und Journalist Gisbert Strotdrees ist für ein sein Buch „Im Anfang war die Woort“ mit dem Fritz-Reuter-Literaturpreis ausgezeichnet worden, berichtet unter anderem der Westfalenspiegel. In dem Buch beschäftigt er sich mit westfälischen Flurnamen wie Woort, Esch, Geist, Kamp, Brink oder Kopp, auf die man hier in der Gegend ja immer noch häufig stößt. Bestellen können Sie das Buch hier.
+++ Die Hallenbäder haben ihre Öffnungszeiten in den Herbstferien wieder geändert. Sie schließen jetzt etwas früher als vorher. Zu tun hat das nach Angaben der Stadt damit, dass die Reinigung in der Corona-Zeit etwas aufwändiger ist als sonst. Die aktuellen Öffnungszeiten finden Sie hier.
Mein bislang schönster Abend in der Ouzeri an der Mauritzstraße endete irgendwann damit, dass Menschen, so wie man es eigentlich nur aus Filmen kennt, auf den Tischen tanzten, während die Krisen-Kompagna nach ein paar Ouzos zu viel noch ein letztes Lied spielte (hier ist die Band bei Sekunde 16 zu sehen). Einmal im Monat gibt es einen Rembetiko-Abend, das ist ein Musikstil, man sagt, es sei der griechische Blues. Sie können in der Ouzeri aber auch einfach Essen gehen, sehr gut sogar. Und um die Speisekarte schnell zu erklären: Es gibt Tapas auf Griechisch. Von Vorteil ist, wenn Sie Knoblauch mögen. Dann bestellen Sie unbedingt das Kartoffelpüree (ja, wirklich). Den Tintenfisch sollten Sie eh probieren. Wenn Sie Knoblauch nicht mögen, müssen Sie etwas aufpassen, aber auch das ist kein Problem. Sie werden garantiert wiederkommen. Geöffnet ist die Ouzeri dienstags bis donnerstags von 17:30 bis 24 Uhr.
Hier finden Sie alle unsere Empfehlungen. Sollte Ihnen ein Tipp besonders gut gefallen, teilen Sie ihn gerne!
Im RUMS-Brief am Freitag haben wir geschrieben, die Hittorfstraße und die Max-Winkelmann-Straße seien im Sommer rot gefärbt und damit zu Fahrradstraßen geworden. Das stimmt leider nur optisch. Beide Straßen waren bereits Fahrradstraßen. Es war nur kaum zu erkennen, weil dort Autos fahren und auf beiden Seiten parken durften. Die rote Farbe auf der Straße soll Autofahrer:innen nun deutlich darauf hinweisen, dass sie auf einer Fahrradstraße fahren und Rücksicht nehmen müssen.
+++ Zuallererst eine Absage: Die Nacht im LWL-Naturkundemuseum, die ich am vergangenen Dienstag für den 24. Oktober hier angekündigt habe, fällt leider wegen Corona aus.
+++ Dann ein Konzert am Samstag (17. Oktober), das wahrscheinlich eher an Starkregen scheitern wird als an Corona. Es findet nämlich draußen statt, im Sozialpalast am alten Güterbahnhof (Hafenstraße, zwischen den Brücken die Straße hoch, rechts): Die Dortmunder Band „Wenn einer lügt dann wir“ und die Mainzer Solokünstlerin LIN spielen hintereinander. Wer dabei sein möchte, müsste eine E-Mail schreiben (Vorname, Nachname, Adresse und Telefonnummer) und dann um 17 Uhr da sein, damit die nicht abgeholten Karten noch vergeben werden können. Es dürfen ja nicht so viele rein. Noch besser wäre natürlich, einfach Bescheid zu sagen, wenn man nicht kommen kann.
+++ Das Cinema zeigt am Donnerstagabend den Dokumentarfilm „Oeconomia“, der in diesem Jahr auf der Berlinale seine Premiere gefeiert hat. Die Regisseurin Carmen Losmann hat sich in dem Film mit der Frage beschäftigt, wie der Kapitalismus funktioniert. Dazu hat sie mit den Menschen gesprochen, die in den Schaltzentralen an den langen Hebeln sitzen. Schöne Szene im Trailer, wie ein Hedgefonds-Manager sagt: „Das gesamte Vermögens-Volumen, das wir verwalten, ist knapp unter 1,5 Milliarden Euro – äh, Entschuldigung, nicht Milliarden (grinst): Billionen.“ Carmen Losmann wird am Donnerstagabend da sein und nach dem Film Fragen beantworten. Im Februar hat sie das schon im Deutschlandfunk-Interview getan. Ein paar mehr Sätze zum Inhalt des Films finden Sie hier. Karten für die Vorstellung am Donnerstag bekommen Sie hier. Falls Sie kein Glück haben: Der Film läuft danach im Programm.
Am Freitag schreibt Ihnen Constanze Busch wieder. Haben Sie bis dahin eine schöne Woche.
Herzliche Grüße
Ralf Heimann
Mitarbeit: Constanze Busch
PS
In dieser Woche wurde der Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften vergeben, und das bedeutet: Das Stockholmer Komitee musste es den beiden Forschern, die gewonnen hatten, Robert B. Wilson und Paul R. Milgrom, irgendwie mitteilen. Da war offenbar nicht ganz so leicht. Die Universität Stanford hat nun bei Twitter die Aufzeichnung einer Überwachungskamera veröffentlicht, die zeigt, wie Robert B. Wilson mitten in der Nacht bei seinem Kollegen an der Tür klingelt, um ihm mitzuteilen, dass er den Nobelpreis gewonnen hat. Bekommen haben die beiden Forscher den Preis übrigens für ihre Arbeiten über Auktionen. Robert Wilson hat nun verraten, dass er selbst noch nie an einer teilgenommen hat. Außer einmal, da hätten er und seine Frau Skischuhe gekauft. Bei Ebay.
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