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Ausflugswetter | Pläne für nach den Ferien | Corona-Karte
Guten Tag,
in der New York Times stand am Wochenende ein Artikel mit der Überschrift: „Eine deutsche Ausnahme? Warum die Coronavirus-Todesrate des Landes niedrig ist“. Die Autorin fand darauf mehrere Antworten:
- Die ersten Infizierten hatten sich die Krankheit beim Skifahren geholt und waren im Durchschnitt sehr jung.
- In Deutschland wird sehr viel getestet. Daher steigt die Zahl der gefundenen Infektionen schnell, aber nicht die der Todesfälle.
- Wenn Infektionen früh gefunden werden, ist die Überlebenschance größer.
Ein bemerkenswerter Unterschied zur Situation in den USA ist: In Deutschland waren die Tests von Anfang an kostenlos. Das erscheint auf den ersten Blick vielleicht wie ein nebensächliches Detail, ist aber ein wichtiger Punkt, denn wie der Bonner Virologe Hendrik Streeck im Text sagt: „Dass ein junger Mensch mit Halsschmerzen zum Arzt geht, ist unwahrscheinlich, wenn er dafür Geld zahlen muss. So riskiert er, noch mehr Menschen anzustecken.“
Es können solche vermeintlichen Kleinigkeiten sein, die darüber entscheiden, wie schnell sich die Epidemie ausbreitet. Viele Kausalitäten kennen wir möglicherweise gar nicht. Wie sich das Virus unter freiem Himmel überträgt, wissen Forscher zum Beispiel nicht ganz genau. Und wer in diesen ersten warmen Frühlingstagen nach draußen geht, weil dort angeblich nicht viel passieren kann, macht möglicherweise den kleinen Fehler, genau dorthin zu gehen, wo alle anderen auch sind.
Die amerikanische Forscherin Linsey Marr, die untersucht, wie Virusinfektionen sich übertragen, hat dem Magazin The Atlantic gesagt: „Draußen zu sein, ist großartig – solange Sie nicht in einem überfüllten Park sind.“ Und sie hat auch verraten, wie sie sich selbst verhält: „Wenn ich rausgehe, stelle ich mir vor, dass alle Menschen rauchen, und dann versuche ich, diesem Rauch so gut es geht auszuweichen.“ Sie halte sogar die Luft an, wenn sie zu nahe an jemandem vorbeigehe. „Ich weiß nicht, ob das einen Unterschied macht, aber theoretisch könnte es das“, sagt Linsey Marr. Und das ist derentscheidende Punkt bei allem, was wir zurzeit probieren. Es könnte fatal sein, es nicht zu tun.
Wenn Sie also in den nächsten Tagen oder Wochen einen Ausflug planen, ist es wahrscheinlich eine gute Idee, sich vorher die Frage zu stellen: Wo könnte denn heute etwas los sein? – und genau dorthin dann nicht zu fahren.
Osterferien und dann?
Für den Fall, dass Sie es noch nicht bemerkt haben sollten: Seit gestern sind Osterferien. Für viele Eltern endet damit, zumindest vorübergehend, ihr unfreiwilliger Seiteneinstieg ins Lehramt. Falls Sie in diesem Moment denken: So schlimm wird das ja wohl nicht gewesen sein, möchte ich Ihnen diesen Text von Sibylle Luig empfehlen, einer Mutter zweier Töchter, die für die ZEIT über ihre Überforderung und die vielen offenen Fragen geschrieben hat (kostenpflichtig, aber zurzeit gibt’s ein kostenloses Probeabo).
Sibylle Luig zitiert in ihrem Text eine befreundete Grundschullehrerin mit dem Satz: „Natürlich unternehmen die Lehrer hier einen Spaziergang auf der Rasierklinge der Homeschooling-Pädagogik.“
Sie fragt:
- Haben überhaupt alle Kinder einen Computerarbeitsplatz zu Hause – und einen Drucker? Was, wenn nicht?
- Was wird von Lehrerinnen und Lehrern, Eltern und Kindern erwartet? Dass sie nämlich genauso viel schaffen wie in der Schule, sei undenkbar.
- Hätte man den Kindern nicht erst mal drei Wochen Ferien geben können, um zunächst wenigstens die Lehrerinnen und Lehrer fortzubilden?
- Wie geht es nach den Ferien weiter?
Wir haben mit Lehrerinnen und Lehrern aus Münster über die Situation gesprochen und bei Facebook und Twitter um Erfahrungsberichte gebeten. Hier einige Antworten:
Eine Lehrerin an einem Gymnasium schreibt:
„Ich kann die blöden Sprüche über Coronaferien nicht mehr hören. Ich bin rund um die Uhr die ganze Woche für meine Schüler im Einsatz, weil Mütter in meinen Kursen erst am Abend oder am Wochenende lernen können, wenn die Kinder im Bett liegen oder der Partner sie beaufsichtigen kann.“
Und mit Blick aufs Ende der Ferien sagt sie:
„Was ist mit besonders gefährdeten Personengruppen unter Schülern und Kollegen? Ein Viertel der Kollegen ist über 60 Jahre alt, kein Kollege ist unter 40, etliche haben schwerwiegende Vorerkrankungen, gegen die Adipositas und Bluthochdruck reinster Kinderkram sind. (…) Zwei meiner Schüler habenAsthma. Etliche haben ernste psychische Probleme, dieAngst vor Corona macht es nicht besser. Wie soll in großen Klassen der Abstand eingehalten werden? Was ist zu Pausenbeginn und -ende, wenn alle gleichzeitig auf die Flure strömen? Wie sollen Schmierinfektionen über Pult, Tische, Kopierer, Notfalltelefon, Rechner, Türgriffe etc. vermieden werden? Wie wird sichergestellt, dass niemand krank zum Unterricht erscheint? Wie wird mit Erkrankungen umgegangen? Es wäre gut,wenn wir alle Mund-Nase-Masken tragen, aber kann man erwarten, dass alle ununterbrochen den ganzen Vormittag über durch die Maske atmen?“
Ein Lehrer eines Berufskollegs in Münster sagte am Telefon:
„Einige meiner Schüler haben gar keinen Computer zu Hause. Die machen das allesüber ihr Smartphone. Wir sind überhaupt nicht vorbereitet. Die Schüler haben nicht mal E-Mail-Adressen an der Schule. Ich muss meine private Handynummer herausgeben, und ich habe damit auch schon schlechte Erfahrungen gemacht.”
Alles in allem herrscht große Ratlosigkeit. Zur Frage, wie es mit der Schule nach den Ferien weitergeht, hatte die NRW-Landesregierung schon am Freitag angekündigt, darüber am 15. April zu informieren. Der Bonner Virologe Hendrik Streeck hat gestern bereits davor gewarnt, die Schülerinnen und Schüler zu schnell wieder zusammen in den Unterricht zu schicken.
Wir werden uns weiter damit beschäftigen und versuchen, Antworten zu finden. Schreiben Sie uns gern Ihre Erfahrungen, Fragen, Ideen oder Vorschläge. Wir besprechen das dann hier.
+++Vier Menschen sind in Münster inzwischen nach einer Corona-Infektion gestorben. Am Dienstag Nachmittag meldete die Stadt den Tod einer Frau mit Vorerkrankungen (Jahrgang 1932). Die Zahl der infizierten Menschen im Stadtgebiet sank auf 224 (Stand Dienstag, 15 Uhr). Damit gibt es insgesamt 595 identifizierte Corona-Fälle in Münster. 367 Menschen sind wieder genesen. Die Krankenhäuser behandeln zurzeit 43 Corona-Patienten, 24 auf der Intensivstation. 16 von ihnen müssen beatmet werden. Am Dienstagnachmittag waren 109 Intensivbetten in der Stadt frei.
+++ Warum trotz der sinkenden Zahlen noch lange nicht alles überstanden ist, sondern das, was wir erleben, erst der Anfang ist, erklärt die Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim sehr eindrucksvoll in diesem Video, das sich schon über vier Millionen Menschen angesehen haben. Sie sagt: „Ganz ohne Verzicht werden wir lange Zeit nicht auskommen.“ Und das bedeutet: „Vermeidbare Menschenansammlungen, Konzerte, gefüllte Fußballstadien, dicht gepackte Rheinstrände, Konferenzen – dieses Jahr, vergesst es.“ Das klingt nicht gut. Aber es gibt eine Perspektive. Mai Thi Nguyen-Kims Prognose: „Diese Epidemie wird erst mit einem Impfstoff enden.“ Wir müssen also wohl etwas Zeit überbrücken. Wie die Aussichten auf eine Impfstoff sind, erklärt der Virologe Christian Drosten hier.
+++ Ende März gerieten die Corona-Fallzahlen des Robert-Koch-Instituts in die Kritik, weil sie regelmäßig ein paar Tage hinterherhinkten, teilweise sogar eine halbe Woche (hier ein Bericht aus dem Spiegel). Die Firma con terra aus Münster hat nun eine Kartenanwendung entwickelt, die es möglich macht, unterschiedliche Datenquellen zu verwenden und diese zu vergleichen. Einfach diesem Link folgen, links in der Auswahl “Münster” eingeben – und dann nicht “Neumünster” anklicken.
+++ Bis zuletzt war nicht ganz klar, ob die Demonstration überhaupt stattfinden konnte, aber dann standen am Montagvormittag doch ungefähr 30 Atomkraftgegnerinnen und -gegner am Alfred-Krupp-Weg, um gegen einen Atomtransport der Firma Urenco zu protestieren. In diesen Tagen natürlich selbstverständlich: Die Demonstrierenden hielten Sicherheitsabstand. Nicht ganz so selbstverständlich bei einer Demo: der Mundschutz. Die Süddeutsche Zeitung zitiert Mitorganisator Stefan Kubel mit dem Satz: „Das ist wahrscheinlich die erste Versammlung mit Vermummungsgebot.“ Der Transport rollte irgendwann später relativ unspektakulär an den Demonstranten vorbei, wie hier in einem Videoschnipsel zu sehen ist.
+++ Heute vor zwei Jahren fuhr ein 48-jähriger Mann am Kiepenkerl mit seinem Kleinbulli in die Menge der dort sitzenden Restaurantgäste und tötete vier Menschen. Die Ermittlungen sind noch immer nicht abgeschlossen, berichtet die Deutsche Presseagentur. Die Westfälischen Nachrichten haben von der Staatsanwaltschaft erfahren, dass 17 Aktenordner weiterhin „sorgfältig ausgewertet“ werden. Offene Fragen sind zum Beispiel, woher die Waffe stammt, mit der sich der Amokfahrer nach seiner Tat erschoss. Was aus der Anzeige gegen die Stadt wird, zu der es kam, weil am Tatort wegen einer Baustelle ein Absperrpoller fehlte, muss laut dem Bericht ebenfalls noch geklärt werden.
+++ Der Münsteraner Nicholas Müller, früher Sänger der Band Jupiter Jones („Still“) und momentan unter normalen Umständen eigentlich auf Tour, hat zusammen mit der Deutschen Angsthilfe ein Journalismusprojekt gestartet. Er und andere stellen täglich Nachrichten so zusammen, dass sie nicht unnötig bedrohlich erscheinen. Dazu bedienen sie sich aus deutschen und internationalen Nachrichtenquellen. Wer Interesse hat, ehrenamtlich an dem Projekt mitzuarbeiten, kann sich melden unter: angstfrei.news@nicholas-mueller.de.
Es hilft ja alles nichts, wir müssen die Zeit irgendwie rumkriegen. Daher folgende Vorschläge:
+++ Vielleicht klingt es etwas abwegig, aber haben Sie schon mal drüber nachgedacht, in Ihrer Wohnung mit Ihren Kindern, Haustieren oder Netzkabeln klassische Gemälde nachzustellen? Haben Sie nicht? Dann machen Sie das mal – bevor der Trend nachher wieder vorbei ist. +++ Die Süddeutsche Zeitung hat eine lange Liste mit Kulturtipps zusammengestellt. Wenn Sie in dieser Liste nichts finden, mögen Sie womöglich einfach keine Kulturtipps. Und noch ein Hinweis von mir, den ich in einer Zusammenstellung des Tagesspiegels gefunden habe: Das Internationale Dokumentarfilm-Festival Amsterdam hat über 800 Filme aus den Archiven zugänglich gemacht.
+++ 800 Filme sind natürlich toll. Aber geht Ihnen das vielleicht auch so? Sich erst mal zu entscheiden, dauert meistens viel länger als am Ende der Film selbst? Wenn Sie das auch kennen, ist der Streaming-Dienst Mubi möglicherweise etwas für Sie. Dort gibt es nur 30 Filme zur Auswahl, allesamt Klassiker, mit Filmpreisen dekoriert oder mindestens liebevoll ausgesucht. Jeden Tag kommt ein neuer Film dazu, dafür verschwindet der älteste. Also am besten von hinten anfangen. Und wenn das immer noch zu schwer ist, schauen Sie sich einfach bei Youtube die mit einem Oscar prämierte Doku „Searching for Sugar Man“ an. Das ist einer meiner Lieblingsfilme.
+++ Dann noch etwas Lokales: Das Magazin „Alles Münster“ veranstaltet am Samstag das Online-Festival „Schallern im Beis“ (Ich übersetze: Singen im Haus) mit sieben Konzerten von Künstlerinnen und Künstlern, die bei Facebook zu sehen sein werden.
+++Alle reden von Videokonferenzen, aber viele wissen noch immer nicht, wie das geht. Wir haben die Anregung erhalten, ein Video zu empfehlen, in dem es erklärt wird. Meine Empfehlung wäre dieses Video. Dort geht es um Zoom-Konferenzen. Falls es immer noch irgendwo hakt, schreiben Sie gern, dann versuchen wir das zusammen am Telefon zu lösen.
+++ Und hier ein wunderschönes Lied, in der Quarantäne aufgenommen, von den Giant Rooks, einer Band aus Hamm, die ich vor vier Jahren in der BlackBox im Cuba an der Achtermannstraße gesehen habe (hier ein Foto vom Auftritt). Damals – es muss so 2016 gewesen sein – waren sie Vorband einer Musikschul-Lehrer-Combo, die so nett waren, ihnen mit ihrem Publikum auszuhelfen. Inzwischen ist einer der erfolgreichsten Songs der Giant Rooks bei Youtubeknapp sechs Millionen Mal aufgerufen worden.
+++ Zum Abschluss noch etwas Schönes: Ich frage mich zurzeit oft, wie all die Menschen ihre Zeit verbringen, die weder arbeiten noch verreisen können. Das Theater Münster gibt darauf jetzt bei Youtube eine Antwort. Dort melden sich Menschen, die für das Theater arbeiten, aus der unfreiwilligen Pause. Die Tänzerin Charla Tuncdoruk etwa zeigt in diesem wundervollen Video, wie sie sich im Homeoffice fit hält.
Das war’s für heute. Am Donnerstag schreibt Ihnen wieder Katrin Jäger. Und auch, wenn es in diesen Tagen etwas seltsam klingt: Haben Sie eine schöne Woche!
Herzliche Grüße
Ralf Heimann
PS
In der vergangenen Woche haben wir so viele E-Mails und Nachrichten erhalten, dass wir mit den Antworten etwas hinterherhängen. Erst mal ganz herzlichen Dank für die Nachrichten. Nur eine Bitte: Haben Sie etwas Geduld. Die Antworten kommen noch. Besonders freut uns natürlich, wenn Sie nicht nur uns, sondern auch anderen schreiben, dass es uns gibt, wie Münsters Grüne das offenbar vorbildlich getan haben, mit dem Hinweis, dass „das was sein könnte“, wie wir per E-Mail erfahren haben. Verbunden war die Mail mit der Bitte, auf eine Petition hinzuweisen, und das machen wir sehr gern. Es ist ein Aufruf zu Solidarität unter den EU-Staaten. Schauen Sie selbst, ob Sie unterschreiben mögen, hier ist der Link.
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