Wahlkampf oder eine Frage der Zeit | Die Krise der Preußen | Bierhimmel

Porträt von Katrin Jäger
Mit Katrin Jäger

Guten Tag,

Lucius Annaeus Seneca starb im Jahr 65 nach Christus. Es ist also schon sehr, sehr lange her. Was von dem römischen Philosophen, Naturforscher und Politiker aber unter anderem überliefert ist, ist folgendes Zitat:

„Es ist nicht zu wenig Zeit, die wir haben, sondern es ist zu viel Zeit, die wir nicht nutzen.“

Dieser Satz beschreibt auch heute, 1.955 Jahre nach seinem Tod, sehr gut, warum manche Dinge scheitern. Zum Beispiel der Wahl-O-Mat in Münster.

Millionen Deutsche kennen die Internetseite sehr gut, auf der Interessierte – ganz einfach gesagt – Fragen zu politischen Positionen beantworten und anschließend erfahren, welche Partei ihren Einstellungen am besten entspricht. Die Wahlhilfe wurde seit dem Jahr 2002 82 Millionen Mal genutzt, schreibt die Bundeszentrale für politische Bildung, die sie damals entwickelte. Nun hätte es ein ähnliches Online-Angebot auch für die Kommunalwahl in Münster geben können. Wohlgemerkt: hätte. Denn dafür ist es nun zu spät. Um das zu erklären, machen wir einen kleinen Zeitsprung rückwärts:

Die SPD und die FDP brachten am 15. Juni ihren Antrag ein, der münstersche Rat möge bei seiner nächsten Sitzung am 24. Juni beschließen, eine onlinebasierte Wahlhilfe zur Kommunalwahl auf den Weg zu bringen. Da war noch genügend Zeit vorhanden. Erst recht, weil das Thema bekannt war: Der Jugendrat hatte es schon im Frühjahr aufgebracht. Seit Mai engagierte sich dann die FDP in der Sache. Parallel dazu hatte es zwischen den Parteien Gespräche gegeben. Paavo Czwikla, Kreisvorsitzender der FDP, erinnert sich: „Auch die Vorsitzenden der Grünen und der SPD äußerten sich auf meine Anfrage zur Unterstützung damals positiv.“ Die Grünen hätten sich dann „unglücklicherweise ausgeklinkt und auf meine Kontaktversuche in dieser Sache nicht mehr reagiert.“ Die CDU war von Anfang an zurückhaltend.

Digitale Wahltools rücken in den Fokus

Gar nicht zurückhaltend, sondern sehr überzeugt von der Machbar- und Sinnhaftigkeit eines Online-Wahlentscheidungs-Tool ist Norbert Kersting, Leiter des Kompetenzzentrums „Urbane Innovation und Internet“. Sein Lehrstuhl für Vergleichende Politikwissenschaft, Kommunal- und Regionalpolitik der Uni Münster hätte laut FDP-SPD-Antrag das Projekt technisch und inhaltlich umsetzen sollen.

In einer schriftlichen Erklärung schrieb der Wissenschaftler dazu schon im Vorfeld der Ratssitzung: „Der Wahlkampf wird in diesem Jahr aufgrund der ‚Corona-Krise‘ unter besonderen Bedingungen durchgeführt. Digitale Wahltools rücken daher in den Fokus.“

Sehr konkret schilderte der Professor dann, wie dieser Wahlkompass (hier im Text und in der münsterschen Politik auch Wahl-O-Mat genannt) auf Münster angepasst und umgesetzt werden könne. Das Werkzeug sei dabei wissenschaftlicher Neutralität verpflichtet und differenzierter in den Ergebnissen als der originale Wahl-O-Mat. Anhand von 80 Thesen, die bereits in vergangenen Projekten getestet wurden, könne man lokalspezifische Fragen abdecken. Fraktionen würden mit einbezogen, die Oberbürgermeisterwahl integriert. Die Westfälischen Nachrichten berichteten vor gut einem Jahr über die Arbeit des Kersting-Wissenschaftsteams im Rahmen der Europawahl.

Der münstersche Wahlkompass entsteht in Kooperation mit Kieskompass, der in den Niederlanden schon seit 2006 existiert – und funktioniert. Fast die Hälfte aller niederländischen Kommunen arbeiten bereits mit diesem Tool.

Auch das Budget war festgezurrt. 35.000 Euro standen im FDP-SPD-Antrag. Die Kalkulation des Lehrstuhls lag sogar darunter und betrug „nur 22.000 Euro“, so Czwikla von der FDP.

Bliebe also noch der Faktor Zeit. Die Fraktionsgeschäftsführerin der SPD, Sandra Wulf, sagt: „Der von uns vorgeschlagene Auftrag an die WWU hätte umgehend erfolgen können, sodass eine Umsetzung innerhalb weniger Wochen möglich gewesen wäre.“ Zieltermin war der 1. August.

Doch der Antrag, der die Beauftragung in Gang setzen sollte, wurde in der Ratssitzung am 24. Juni kassiert und umformuliert. Warum? Und von wem?

Es war spät, schon nach Mitternacht, als Tagesordnungspunkt 54.6 aufgerufen wurde. Die Koalition der Grünen und der CDU löste sich an jenem Abend auf (es ging dabei um die unterschiedlichen Ansichten zum Ausbau der B51/B64), doch irgendwie hatte man bis kurz vorher ja noch zusammengearbeitet. Und so stellten dann CDU und Grüne zusammen einen Änderungsantrag. Einen, der Zeit kostete.

Der CDU-Fraktionsvorsitzende Stefan Weber erklärt uns, warum seine Partei nicht zustimmte. Eines der Hauptprobleme sei, dass beim kommunalen Wahlkompass „nur stadtweite Themen abgebildet werden. Stadtteilbezogene Fragen sind nicht enthalten, spielen aber bei Kommunalwahlen eine wichtige Rolle.“ Außerdem könne ein Wahl-O-Mat einen „unangemessenen Einfluss mit manipulativer Wirkung entfachen“, so seine Befürchtung. Denn das Tool basiere ebenso wie der bekannte Wahl-O-Mat auf Selbstauskünften der Parteien, außerdem fehle die kritische Bewertung der Parteiprogramme durch die Öffentlichkeit. „Gerade weil wegen Corona der übliche Wahlkampf (Veranstaltungen, Hausbesuche) kaum stattfinden kann.“

Von echten und falschen Argumenten

Dass Norbert Kersting auf wissenschaftliche Neutralität hinweist, überzeugte die CDU offensichtlich nicht. Für FDP und SPD sind deren Argumente ohnehin nur „durchsichtig“ und „vordergründig“: In Wahrheit wollten CDU und Grüne keinen Wahl-O-Maten. Das entspräche der „Demobilisierungsstrategie für die Kommunalwahl des ehemaligen schwarz-grünen Rathausbündnisses“, attackierte Czwikla CDU und Grüne. CDU-Mann Weber konterte: „Das betrachte ich als Anzeichen einer gewissen Mobilisierungsschwäche anderer Parteien.“ Ja, es ist nicht zu überhören. Es ist ganz eindeutig Wahlkampfzeit.

Nun könnten vor allem die Grünen ein Glaubwürdigkeitsproblem haben, weil sie und ihre Wähler:innen Bürger:innen-Beteiligung, Transparenz und folglich auch einen Wahl-O-Maten eigentlich richtig gut finden müssten. In der Ratssitzung jedenfalls trugen sie mit ihrem Stimmverhalten dazu bei, dass die Zeit immer knapper wurde, das Beteiligungsinstrument einzuführen – und die Verwaltung etwas prüfen musste, von dem sie wusste, dass die Mehrheit im Rat es gar nicht wirklich will.

Man habe nicht gegen den Wahl-O-Maten gestimmt, sondern die Verwaltung beauftragt, ihn rechtssicher umzusetzen, erklärt dazu Sylvia Rietenberg vom Vorstand der Grünen. Und sie fügt hinzu: Ein Wahl-O-Mat sei ein wichtiges Instrument in Zeiten der Corona-Pandemie.

Auch Grünen-Vorstands-Kollege Christoph Kattentidt sagt, dass das Zeitfenster ohnehin sehr eng gewesen sei. Doch dann sagt er auch: „Für die grüne Fraktion wäre die Zustimmung zu dem Antrag der FDP/SPD der klarere, eindeutigere Weg gewesen.“

So oder so: Der Wahl-O-Mat wird für diese Kommunalwahl nicht mehr kommen. In der ausführlichen Begründung, die die Stadt Münster an die Fraktionen verschickte, und in der knapperen öffentlichen Pressemitteilung, erläuterte Oberbürgermeister Markus Lewe am Mittwoch, dass eine Online-Wahlhilfe ein sinnvolles, der politischen Entscheidungsfindung zuträgliches Instrument darstelle, allerdings in der Kürze der Zeit nicht umgesetzt werden könne.

Bei der nächsten Wahl, da soll dann alles anders werden. Bis dahin ist ja noch viel Zeit.

Die Krise der Preußen – eine lange Geschichte

Unser Kolumnist Klaus Brinkbäumer hat in seinem letzten RUMS-Brief aus New York beschrieben, wie sehr er aus der Ferne immer noch mit Preußen Münster leidet und hofft. Auch jetzt wieder, nach dem Abstieg in die 4.Liga. Preußenkenner und Buchautor Dietrich Schulze-Marmeling hat jetzt für RUMS aufgeschrieben, dass die Krise des Vereins schon vor drei Jahrzehnten begann, was falsche Vorbilder sowie schlechte Trainingsbedingungen damit zu tun haben und was konkret zu tun ist, um wieder aufzusteigen. Seinen Text finden Sie hier. (Mir persönlich gefällt übrigens Punkt zwölf auf seiner To-Do-Liste am besten. Demnach sollten die Preußen zumindest mittelfristig über ein Engagement im Frauenfußball nachdenken).

Noch mehr Reportagen, Interviews und Hintergrundberichte wie den von Schulze-Marmeling sowie Schwerpunktthemen wie „Streit um den Hafen: Wer bestimmt, wie die Stadt wächst“ finden Sie künftig auf unserer Website, die wir mit Hilfe unserer Community – also Ihnen – immer weiter aus- und aufbauen werden. Denn die Rechnung geht nur mit Ihnen auf: Je mehr Leser:innen, desto mehr RUMS-Berichterstattung für Münster.

In aller Kürze

+++ Eine weitere Festnahme im Missbrauchsfall von Münster. Ein 62-jähriger Franzose ist dringend verdächtig, ein Kind sexuell missbraucht zu haben. Adrian V. aus Münster soll es ihm zugeführt haben. Die Tat geschah im Dezember 2018 in Puhlheim. Mit dem Hauptbeschuldigten sind damit inzwischen elf Verdächtige in Haft.

+++ Prozessbeginn. Der Prozess vor dem Dortmunder Schwurgericht gegen Ralf H., den mutmaßlichen Mörder der Schülerin Nicole-Denise Schalla, hat am Dienstag begonnen. Der Angeklagte erschien laut Verteidiger Udo Vetter „erhobenen Hauptes“. Trotz dringenden Mordverdachts musste der Angeklagte vor zwei Wochen aus der Untersuchungshaft entlassen werden. Während dieser Zeit hat er sich angeblich in Münster aufgehalten. Im RUMS-Brief vom 28. Juli erklärt Ralf Heimann den Fall und die juristischen Hintergründe, die zu dieser richterlichen Entscheidung führen mussten.

Corona-Update

Ein Grund, warum die Infektionszahlen wieder steigen, liegt in unser aller Nachlässigkeit. Wir treffen uns immer unbefangener, kommen uns näher und vergessen, wovor wir im März noch solche Angst hatten: das unberechenbare Coronavirus. Der Blick auf die aktuellen Zahlen – auch aus Münster – zeigt, dass wir uns wieder daran erinnern sollten.

Die Gesamtzahl labordiagnostisch bestätigter Corona-Fälle im Stadtgebiet ist gestern auf 812 gestiegen. Davon sind 739 Patienten wieder genesen. 13 Personen, die mit dem Coronavirus infiziert waren, sind gestorben. Somit gelten aktuell 60 Personen als infiziert. Vor wenigen Wochen stand dort ein paar Tage lang die Zahl: 1.

Unbezahlte Werbung

Trinkempfehlung. Vorweg eine kleine Gesundheits-Warnung: Bitte verwenden Sie Bier in den kommenden Tagen nicht als Durstlöscher. Egal, wie viel Sie davon trinken – es bleibt draußen heiß, Sie werden weiter schwitzen und ganz sicher keinen kühlen Kopf bewahren. Aber das wissen Sie ja sowieso. Dann kann ich Ihnen jetzt also mit gutem Gewissen „The James“ empfehlen. Die Eckkneipe, oder besser das Pub, liegt gleich neben dem Lotharinger Kloster in der Hörsterstraße 27. Öffnet man die Tür, befindet man sich in einem urgemütlichen Bierhimmel. 30 verschiedene Sorten aus Großbritannien, Belgien und Deutschland kann man ausprobieren, acht davon vom Fass: Fullers London Pride, ESB, Porter, Greene King Abbot Ale, Guinness, Newcastle Brown Ale, Strongbow Cider und Faust Pils. Ja, es schmeckt so gut, wie es klingt. Bestellt und bezahlt wird übrigens, wie in englischen Pubs üblich, am Tresen. Und auch die Einrichtung ist very british: viele Bilder an den Wänden, alte Ledersofas zum Versinken, Teppiche auf dem Fußboden. Trinken kann man drinnen, aber auch draußen auf dem Vorplatz. Und auch wenn ich es noch nie gemacht habe, ich glaube, man kann auch Wasser bestellen.

Hier finden Sie alle unsere Empfehlungen. Sollte Ihnen ein Tipp besonders gut gefallen, teilen Sie ihn gerne!

Drinnen

Der Verurteilte. Mehr als 30 Jahre lang saß Jens Söring wegen Doppelmordes in einem US-Gefängnis. Er beteuert bis heute seine Unschuld. Vor einem Jahr kam er frei und wurde nach Deutschland abgeschoben. Jetzt erschien eine ZDF-Dokumentation mit dem etwas reißerischen Titel „Killing For Love – Der Fall Jens Söring“ (auch in der Mediathek). Darin wird der spektakuläre Justizfall aus den 80er-Jahren in vier Kapiteln von damals bis heute erzählt. Zeitzeugen kommen zu Wort, Filmmaterial aus den Prozessen wird gezeigt und wir sind dabei, wenn Detektive und Anwält:innen immer wieder nachhaken und ermitteln, um Sörings Unschuld zu beweisen. Beim Zuschauen habe ich fast vergessen, dass die Story keine Story ist, die sich besonders kreative Drehbuchautor:innen aus den üblichen Zutaten wie Liebe, Leidenschaft und Mördersuche ausgedacht haben, sondern eine minutiöse Aufarbeitung realer Ereignisse. Extrem spannend ist das. Und es lässt tiefe Einblicke in die menschliche Psyche und das amerikanische Rechtssystem zu. Eine ausführliche Kritik zur Serie finden Sie in der Frankfurter Rundschau. Und hier eine Zusammenfassung über den Fall Söring im Spiegel.

Draußen

Hitzetage. Egal, was Sie morgen draußen unternehmen: Tun Sie es langsam oder sehr früh! Bester Platz: im Schatten. Wenn Sie ins Schwimmbad möchten, sollten Sie unbedingt erst noch einen Online-Check machen. Die meisten Plätze waren schon gestern ausgebucht.

Am Dienstag schreibe ich Ihnen wieder. Lassen Sie es bis dahin ruhig angehen.

Herzliche Grüße

Katrin Jäger

PS

Gleich werde ich mir ein Handtuch schnappen und damit leider nicht zum hauseigenen Pool schlendern. Ich werde es zum Auspolstern meines zur Hälfte ausgeräumten Bücherregals benutzen. Auf den Stoff lege ich dann ein Aufnahmegerät und lese, was ich Ihnen hier gerade geschrieben habe, möglichst klar und deutlich vor. Das Handtuch sorgt für einen besseren Ton, habe ich mir sagen lassen. Morgen können Sie dann unsere frisch geschnittene Podcast-Version dieses Briefes hören. Wie übrigens auch unsere anderen Briefe und Kolumnen auf unserer Website. Horchen Sie doch mal rein!

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