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Unbeantwortete Fragen | Blick in die Zukunft | Papierflieger
Guten Tag,
unbeantwortete Fragen haben eine unangenehme Eigenschaft. Sie verschwinden nicht einfach so, sondern sie verwandeln sich. Manchmal werden sie zu Futter – für Gerüchte und Mutmaßungen.
In dem Brief, den Ralf Heimann Ihnen am Mittwoch geschickt hat, ging es um Kommunikation – und um offene Fragen, die zurückblieben.
Das sind zum einen die Fragen, die Oberbürgermeister Markus Lewe Thomas Robbers, bis Montag Chef der Wirtschaftsförderung, wegen dessen Verbindung zum Hauptverdächtigen im Missbrauchsfall gestellt und die dieser, wie wir aus mehreren Quellen wissen, nicht hinreichend beantwortet hat. Das führte zum Vertrauensbruch und letztlich zu seiner Freistellung.
Dann geht es um Fragen, die wir der Stadt Münster zu demselben Thema geschickt haben – und die vage oder gar nicht beantwortet wurden.
Wir haben auch Fragen an Thomas Robbers. Doch er möchte sich zurzeit nicht äußern.
Schon kurz nach unserem Brief schrieben uns Menschen aus Münster. Viele wollen nicht, dass Gerüchte und Mutmaßungen befeuert werden, sie wollen keine Vorverurteilungen. Unserer Leserinnen und Leser wollen Klarheit und Antworten. Wir auch.
Deswegen haben wir der Stadt weitere Fragen geschickt. Wir hoffen, dass wir in der nächsten Woche einige Antworten für Sie haben.
Mehr Tatverdächtige, mehr Opfer, mehr Ermittler
Es war zu erwarten. Die Zahl der mutmaßlichen Täter im Missbrauchsfall Münster steigt durch die Ermittlungen und die Auswertung der riesigen Beweisdatenmengen immer weiter an. Inzwischen sind 18 Personen festgenommen worden, sieben davon befinden sich in Untersuchungshaft, unter anderem auch die Mutter des Hauptbeschuldigten Adrian V. Sechs Kinder sind mittlerweile als Opfer identifiziert. Die Zahl der Ermittelnden in der Arbeitsgruppe „Rose“ ist von 50 auf 76 aufgestockt worden – hier die Zusammenfassung des WDR.
Eines bleibt konstant: Die Ratlosigkeit und Unschuldsbeteuerungen bei den Verantwortlichen. Das Jugendamt, der Kommunale Sozialdienst, die Therapeuten und das Familiengericht wussten von den pädophilen Neigungen und Vorstrafen des Haupttäters. Sie alle haben die Situation und Adrian V. offensichtlich falsch eingeschätzt.
Die ehemalige Münsteranerin Jana Stegemann schreibt in einem Text für die Süddeutsche Zeitung, dass die Polizei Ende vergangenen Jahres 500 Darstellungen von sexuellem Missbrauch auf Datenträgern des Hauptverdächtigen fand. Das Material ging an die Staatsanwaltschaft Münster. „Im Raum stand ein möglicher Bewährungswiderruf“, sagte Landeskriminaldirektor Dieter Schürmann laut dem Bericht am Mittwoch im Innenausschuss des NRW-Landtags. Letztlich widerrief man die Bewährung nicht. Es bestehe keine akute Gefahr für Kinder, so glaubte man. Ein Irrtum.
Verbindliche Standards fehlen
In einem Interview mit dem Magazin Der Spiegel erklärt der Jurist Ludwig Salgo, wo die Politik ansetzen müsste, um systemische Ursachen für Versäumnisse und Fehlentscheidungen beim Kinderschutz anzugehen.
Er sagt: „Es fehlt häufig an verbindlichen Standards: Jugendämter schöpfen aus Unkenntnis rechtliche Möglichkeiten nicht aus. Es gibt wenige geeignete Gutachter zum Thema Missbrauch. Um als Verfahrensbeistand ein Kind vor Gericht zu vertreten, muss man aktuell keine besondere Qualifikation nachweisen.“
Und dann sind da noch die juristischen Hürden: Wenn ein Jugendamt beim Familiengericht nicht mit seinen Bedenken durchkommt, muss es Beschwerde einlegen. Eventuell sogar beim Bundesverfassungsgericht. Damit seien die ohnehin völlig überlasteten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auch rechtlich überfordert, so Salgo.
Was muss also seitens der Politik getan werden?
- flächendeckend juristische Unterstützung für die Mitarbeitenden der Jugendämter
- verbindliche Regeln für die Anhörung von Kindern
- Entwicklung von Standards für die Qualifikation sämtlicher Personen, die mit Kinderschutz zu tun haben
Wie nötig diese Qualifikation ist, wird in einem Zitat Salgos deutlich: „Als Insolvenzrichter muss ich in Deutschland entsprechende Kenntnisse und Fortbildungen nachweisen. Als Familienrichter nicht.“
Die Wirksamkeit von Wissen
Auch NRW-Familienminister Joachim Stamp sieht die Ursachen des wiederholten Versagens in der mangelnden Qualifikation vieler Beteiligter. Laut Münsterscher Zeitung sagte er am Donnerstag beim Treffen des Familienausschusses des Landtages, dass es in Behörden, Gerichten und Sozialeinrichtungen nicht genug Wissen über Täterstrategien und Symptome bei Kindern gebe.
Der Plan jetzt: Das Land richtet eine Fachstelle zur Prävention sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche ein. Die Arbeit beginnt nach den Sommerferien. Außerdem soll die Fachberatung bei Jugendämtern gestärkt werden.
Präventionsarbeit sei mindestens ebenso wichtig wie Strafverschärfungen bei Kindesmissbrauch, sagt Stamp.
+++ Münster schaut auf das Jahr 2030 und will die Weichen für neue Stadtquartiere stellen. Der Rat stimmt deshalb in der nächsten Sitzung am 24. Juni über mehrere Beschlussvorlagen der Verwaltung ab, damit es mit der konkreten Entwicklung losgehen kann.
Besonders stechen dabei zwei Areale hervor. Eines liegt westlich der Busso-Peus-Straße (15 Hektar), ein weiteres an der Steinfurter Straße (50 Hektar). Insgesamt könnten hier laut Rechnung der Stadt 2.500 Wohnungen entstehen und Platz für 6.000 Arbeitsplätze geschaffen werden, zudem kann der Technologiepark ausgebaut werden. Doch bevor die Abstimmung stattfinden kann, melden sich zum kleineren Areal an der Busso-Peus-Straße bereits kritische Stimmen. Die CDU in Münsters Westen ist mit den Planungen nicht so recht einverstanden. Die Westfälischen Nachrichten schreiben, dass Mechthild Neuhaus vom Vorstand der Gievenbecker CDU „Bauchschmerzen“ damit hätte, dass ein Flächennutzungsplan ohne Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger verändert werde. Eigentlich habe man für den Grüngürtel Gievenbecks anderes geplant. Nämlich „Freizeit, Erholung, leben in Gievenbeck.“ Das klingt tatsächlich so gar nicht nach urbaner Wissenschaftsstadt. CDU-Bezirksvertreter Peter Hamann findet außerdem 600 Wohneinheiten für das kleine Areal unverhältnismäßig. Er empfiehlt, sie um mindestens die Hälfte zu reduzieren.
Was dort passieren soll und wie es weitergeht, schauen wir uns in den kommenden Wochen an.
Kalt erwischt. Gerade noch haben wir uns zusammen mit der Weltgesundheitsorganisation (WHO) über die nachgewiesene Wirksamkeit des Medikaments Dexamethason aus Großbritannien gefreut, da erschrecken uns Zahlen aus unserer östlichen Nachbarschaft. Am Stammsitz des Fleischverarbeiters Tönnies in Rheda-Wiedenbrück sind inzwischen mehr als 700 Menschen positiv auf das Corona-Virus getestet worden, meldet die Tagesschau. 7.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter befinden sich in Quarantäne, der Kreis Gütersloh schloss vorsorglich alle Schulen und Kindergärten. Eine der Begründungen: Viele Tönnies-Angestellte haben Kinder. Dass Tönnies-Angestellte regelmäßig shoppen, Freunde treffen, Eis essen oder ins Restaurant gehen, ist offensichtlich unerheblich –Geschäfte und Gastronomie bleiben geöffnet. Die Regelungen betreffen also nur den Bereich, in dem es der Wirtschaft vermeintlich am wenigsten schadet. Wie wütend das die Eltern macht, lesen Sie hier.
Die Tönnies-Corona-Tests liefern unterdessen keine Auskunft darüber, woran genau es trotz aller Hygienemaßnahmen gelegen hat. Eine Erklärung, die Tönnies selbst lieferte: Die Reiselockerungen hätten dazu geführt, dass viele Werksarbeiterinnen und -arbeiter am Wochenende in ihre osteuropäischen Heimatländer gereist seien und das Virus von dort aus mitgebracht hätten. Die Kritik an dieser Theorie klingt recht plausibel: Bei den Löhnen sei gar kein Kurztrip in die Heimat drin, hat ein Gewerkschaftssprecher der Tagesschau gesagt. Tönnies wolle die Schuld einfach von sich schieben.
Eine andere Erklärung ist, dass die kalten Temperaturen bei der Fleischverarbeitung das Virus lange leben lassen. Möglich ist das tatsächlich. Virologe Christian Drosten hat dafür sogar einen Namen, er nennt das im NDR-Podcast den „Temperatureffekt“. Dieser führt uns übrigens vor Augen, dass uns ein heißer kalter Winter samt Infektionswelle bevorstehen könnte. Denn dann haben wir, unabhängig davon, ob wir Vegetarier, Metzger oder Tierschützerin sind, überall Temperatur-Bedingungen wie im Schlachthof. So berichtet übrigens Der Spiegel über den gefährlichen Kälteeffekt.
Gute Zahlen in Münster
In Münster sieht es bei momentan sommerlichen 24 Grad in Sachen Neuinfektionen zum Glück ganz anders aus. Die Stadt meldet erneut keine Neuinfektionen. Die Gesamtzahl labordiagnostisch bestätigter Corona-Fälle im Stadtgebiet stagniert weiterhin bei 731. Davon sind 707 Patienten wieder genesen. 13 Personen, die mit dem Coronavirus infiziert waren, sind gestorben. Somit gelten aktuell elf Münsteranerinnen und Münsteraner als infiziert.
Die Künstlerin Ayumi Paul spielt Violine und singt – unkonventionell, unerwartet, barfuß. Sie und ihre Video-Installationen handeln vom Zuhören und vom Verbundensein. Ich habe mir sagen lassen, dass sie und ihre Werke meditative Ruhe und sehr viel Kraft ausstrahlen, und die Ausstellung „Sympathetic Resonance“ die Kunsthalle Osnabrück derzeit wahrhaftig zum Klingen bringt. Wer sich auf den Weg nach Niedersachsen macht, um zuzuhören und hinzuschauen (halbstündig fahren Züge von Münster nach Osnabrück), bekommt übrigens am Eingang ein Geschenk, das uns besonders gefällt: einen Brief! In Japan sagt man „Origata“ dazu, denn diese Willkommensbriefe sind liebevoll gefaltete Geschenke, in denen jede Faltung für einen Atemzug steht. Weil ihr diese Tradition gefiel, faltete Ayumi Paul für ihre Gäste. „Lebenszeit, Lebensqualität wird messbar und fühlbar ausgedrückt durch unser Atmen“, sagt sie.
Alles so schön bunt hier. Seien Sie nicht so bescheiden und zeigen Sie ruhig, wie prachtvoll es bei Ihnen zu Hause ist. Die Pflanzen in Ihrem Garten oder auf Ihrem Balkon sind im Moment schließlich auch nicht gerade zurückhaltend. Stolz präsentieren sich die Blumen in den schönsten Farben, die Bäume wedeln mit ihren knallgrünen Blättern und an den sprießenden Sträuchern kommt eh niemand vorbei. Also: Fotografieren Sie Ihre Gartenschönheiten und gewinnen Sie vielleicht eine Picknickkiste des Münsterland e.V. Der fordert unter dem Motto „Das Münsterland blüht auf“ Hobbygärtnerinnen und -gärtner auf, bei diesem Gewinnspiel mitzumachen und Bilder von Garten- und Balkonpflanzen bis zum 24. Juni einzusenden.
Am Sonntag schreibt Ihnen wieder Ruprecht Polenz. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Freitagabend.
Ihre Katrin Jäger
PS
Wir verschicken unsere Briefe ja nur per Mail und falten sie nicht wie die Künstlerin Ayumi Paul. Aber nichts hindert Sie daran, einen Brief auszudrucken und daraus zum Beispiel einen Papierflieger zu basteln. (Wenn Sie das wirklich tun, wüssten wir übrigens gerne, wie weit Ihr RUMS-Jet fliegt.) Besonders weit kommen unsere Briefe allerdings, wenn Sie sie per Mail an Ihre Freundinnen und Freunde weiterleiten, die vielleicht noch gar nicht von uns gehört haben. Helfen Sie uns beim kerosinfreien RUMS-Meilensammeln!
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