Die Kolumne von Marion Lohoff-Börger | Masematte sollte ein lebendiges Sprachdenkmal sein

Porträt von Marion Lohoff-Börger
Mit Marion Lohoff-Börger

Guten Tag,

„Du sollst lau Jebbero krajöhlen, bevor du eins gekappt hast“ ist eine Binsenweisheit auf Masematte, die bedeutet, dass du nicht „Kaninchen“ rufen sollst, bevor du nicht eines gefangen hast.

Genau dieser Spruch kam mir in den Sinn, als ich am 10. April in den Westfälischen Nachrichten las, dass die Masematte nun Immaterielles Kulturerbe sei. Ich selbst hatte, wie sich einige von Ihnen vielleicht erinnern, bereits 2021 denselben Antrag gestellt.

Diesem wurde zwar nicht stattgegeben, wie mir die Jury im April 2022 mitteilte. Die Absage war aber mit dem Auftrag verbunden, die Stadtgesellschaft sollte sich sichtbarer mit der Thematik ihrer Kulturform auseinandersetzen. Gelinge das, könne ich den Antrag 2023 erneut stellen, sagte man mir. In einem Turnus von zwei Jahren ist das möglich. 

Im letzten Sommer bekam ich einen Anruf vom Institut für Materielles und Immaterielles Kulturerbe der Universität Paderborn. Man fragte mich, ob ich vielleicht davon absehen könnte, mein Gesuch zu erneuern. 

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Ein Herr Siewert wolle den Antrag „größer gedacht“ stellen. „Größer gedacht“ hieß in diesem Fall, dass nicht nur die Masematte, sondern alle Rotwelsch-Dialekte in Nordrhein-Westfalen, darunter beispielsweise das Manische aus Gießen oder die Buttjer-Sprache aus Minden auf dem Prüfstand der Jury stehen würden. 

Da ich festgestellt hatte, dass sich außer auf meine Initiative in Sachen kritischer Umgang mit der Masematte in Münster wenig bis gar nichts getan hatte, stimmte ich zu.

Ich dachte: Wenn ein Seegers wat plant, wat ömmes jovler als tofte is‘ – wenn ein Mann etwas plant, das offensichtlich besser als gut ist, dann sollte ich nicht im Weg rumsteh’n.

So weit, so tofte. 

Meine Absicht bei meinem Antrag vor drei Jahren war, die Masematte zu einem lebendigen Sprachdenkmal zu machen und von der Stadtgesellschaft Münsters den nötigen Respekt einzufordern, der ihr aufgrund der Schicksale ihrer ursprünglichen Sprecher:innen im Holocaust zusteht. 

Ich wende mich gegen eine Kommerzialisierung der Masematte und den Missbrauch als reine Spaßsprache. Ich sehe auch die künstliche Wiederbelebung kritisch und würde die Sondersprache eher in Würde sterben lassen, anstatt sie auf der akademisch-intellektuellen Intensivstation verzweifelt am Leben zu erhalten. 

Eine meiner Hoffnung stiftenden Erkenntnisse der letzten Jahre ist: Für das Weiterleben der Masematte sorgen bestimmte, oft nicht so gern gesehene Personengruppen in Münster selbst, und sie blüht immer wieder dort im Verborgenen auf, wo wir es nicht erwarten.

Zum Beispiel aktuell bei den Ultras auf Preußen. Stichwort: „Fede nerbolo!“ Handgroße Sticker kleben an jeder zweiten Ampel in Münster und bedeuten: verrückte Hoffnung. Wobei Hoffnung als fede, aus dem Lateinischen kommt. Ömmes bekane – tatsächlich – ein toftes Motto, das sich nun auch noch bewahrheitet hat. 

Siewert und Schemann

Zurück zum Kulturerbe. Wer ist noch gleich dieser Siewert? Klaus Siewert war Ende der Neunziger Germanist an der Uni Münster und habilitierte sich zur Masematte. Er ist der Herausgeber des Werkes: „Von achilen bis Zulemann. Das große Wörterbuch der Münsterschen Masematte“, das in seinem hauseigenen Geheimsprachenverlag erschien. 

Das gelbe Wörterbuch, genau. Aber Vorsicht! Nicht zu verwechseln ist Herr Siewert mit Herrn Schemann, dem ehemaligen Lokalchef der Westfälischen Nachrichten. Wolfgang Schemann hat zwar auch einen zweisilbigen Hausnamen, der mit S anfängt, ist aber der Autor der Masematte-Reihe im Aschendorff-Verlag. 

Klaus Siewert wiederum hat nicht nur Berühmtheit in Münster durch einen Wilsberg-Krimi erlangt, den er verbieten lassen wollte, sondern wehrte sich erfolgreich gegen das www.tackopedia.de, das der Verein Bürgernetz zehn Jahre auf Eis legen musste und erst 2022 wieder online ging. 

Und nun also Immaterielles Kulturerbe. Und maschemau – oh, ja! – mit diesem durchschlagenden Erfolg, den die Westfälischen Nachrichten am 10. April mit der Überschrift feierte: „Masematte ist jetzt Immaterielles Kulturerbe“ (nicht online). 

Zu tofte, um ömmes zu sein. (Zu schön, um wahr zu sein.)

Meines Wissens war 2021 das Prozedere noch so gestaltet, dass der erste Schritt zur  Anerkennung zum Immateriellen Kulturerbe der war, dass eine Landesjury eines jeden Bundeslandes eine Empfehlung ausspricht, welche die auserwählten Kulturformen auf eine Liste für die Bundeskultusministerkonferenz stellt, die diese dann in einem zweiten Schritt zum „Immateriellen Kulturerbe“ erhebt. Ich glaube nicht, dass sich dieser Weg zwischenzeitlich geändert hat. 

Erfolg ist jovel

Es ist somit meines Erachtens ein schöner, aber vorläufiger Erfolg, dass die gesamten Rotwelsch-Dialekte „als Träger kultureller Ausdrucksformen in der Gegenwart in das Landesinventar des Immateriellen Kulturerbes von NRW aufgenommen wurden“, wie mir auf Nachfrage das Institut in Paderborn mitteilte.

Und, wat is jetzt ömmes ambach? – und, was ist jetzt tatsächlich los?

Ist Masematte Immaterielles Kulturerbe? Oder nicht? Oder doch? Unter den Neuzugängen ist es jedenfalls nicht zu finden.  

Aber, ihr toften Kalinen und Seegers – liebe Leute – wen juckt‘s? Es ist doch zu tofte, um ömmes zu sein, wenn Masematte zukünftig in Münster als Kulturerbe angekneistert – angesehen – wird. Was sollen diese schoflen Spitzfindigkeiten von dieser Masematte-Alschen – Masematte-Mutti – auf der Wolbecker Straße bei Klein-Muffi (Mochum, Herz-Jesu-Viertel)? 

Ob dat jetzt auf einer Liste steht oder nicht, ist doch so wat von egal. Es ist ein Erfolg. Und Erfolg ist jovel. 

Und die Münsteraner Kalinen, Seegers, Dickbälger, Kower und Nobelstrehlen-Bigger – Frauen, Männer, reiche Geschäftsleute, Gastwirte und Prinzipalmarkt-Einkäufer – sehen sich einmal mehr in ihrer Selbstgefälligkeit bestätigt: „Haben wir es doch gemuckert – gewusst. Wir sind doch ömmes tofter als jovel (tatsächlich besser als gut)!“ 

Die Bücher von Wolfgang Schemann verkaufen sich in Zukunft besser denn je, und alle Produkte, die einen Masemattenamen tragen, werden durch den Titel Kulturerbe geadelt. Ein wahrhaftiger Gewinn für Münster. 

Doch drängt sich Ihnen nicht auch an dieser Stelle der Gedanke auf, dass dieses Tun, also die Masematte mit einem Brief, Siegel und Logo auf ein höheres Niveau zu bringen, die echten Sprecher, also die  „native speaker“, einen seibel – Dreck – schert? 

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Die meisten Masemattefreier – Sprecher:innen – nutzen die Sondersprache unbewusst und unreflektiert. Das stelle ich immer wieder neu bei meinen Vorträgen und Workshops fest, wenn die Teilnehmenden am Ende sagen, dass sie gar nicht wussten, wie viel Masematte sie tatsächlich in ihrer Alltagssprache gebrauchen würden. Und das passiert nicht nur innerhalb der Grenzen von Münster, sondern im ganzen Münsterland. 

Die besondere Stärke der Masematte ist und bleibt ihre Mündlichkeit und die daraus resultierende Superkraft ist, dass sie immer wieder dort auftauchen kann, wo es niemand erwartet und sie sich dem Versuch der Erfassung und Vereinnahmung entzieht. 

Masematte ist eine dynamische und anarchische Subkultur.

Aber warum habe gerade ich dann diesen Antrag 2021 selbst gestellt? Weil ich die Masematte neu und anders in den Fokus rücken wollte. Um ihr mehr Aufmerksamkeit und das Gedenken an die ursprünglichen Sprechergruppen als Holocaustopfer zu eröffnen. Ein Logo, ein Stempel, ein Listenplatz, das ist alles tofte und jovel, aber wem nützt das außer dem Kommerz und Ruhmstreben einzelner Münsteraner:innen?  

Neuer und letzter Ansatz meiner Kolumne heute: Ich möchte Sie am Ende meiner Ausführungen auf zwei sehr interessante Bücher, die sich mit den zwei Seiten der Spannung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit von Sprache befassen, aufmerksam machen. 

Martin Puchner hat sie geschrieben. Er wurde 1969 in Erlangen geboren und forscht und lehrt heute als Literaturwissenschaftler in Harvard. 2019 erschien sein Buch „Die Macht der Schrift. Wie Literatur die Menschheit formte“ im Blessing-Verlag. 

Dynamische und anarchische Subkultur

Puchner betont darin, dass es ein „Alphabet, Papier, ein Buch und den Druck“ brauchte, um die bisher mündlich weitergegebenen Wahrheiten über das Leben zu revolutionieren. „Literatur wurde geboren, als sich das Erzählen von Geschichten mit dem Akt des Schreibens kreuzte.“ (Seite 17) 

Genau derselbe Wissenschaftler und Autor mit deutschen Wurzeln schrieb das Buch „Die Sprache der Vagabunden. Eine Geschichte des Rotwelsch und das Geheimnis meiner Familie“, das 2020 im Siedler-Verlag erschien. 

Hier erzählt Puchner spannend und unterhaltsam davon, wie er in den Tiefen der Archive seiner Uni in Harvard auf Dokumente stieß, die zeigten, dass sein Großvater sich im Nazi-Deutschland der dreißiger Jahre um die Erfassung des Rotwelschen bemühte und damit dem Nazis half, die Sprechergruppen zu vernichten. 

Kein Zufall, dass beide Bücher vom gleichen Autor sind. Sie treffen in ihrer Dialektik meiner Meinung nach die Fragen unseres Zeitalters nach den auf die Schriftlichkeit folgenden Revolutionen in Sachen Sprache und Wissen, wie Internet und aktuell die Künstliche Intelligenz. 

Ich werde ja, wie immer, nicht müde, zu behaupten, dass allein die Existenz der Masematte uns tagtäglich vor hochaktuelle Themen der Gesellschaft und insbesondere der Stadtgesellschaft bringt und somit neues Denken anstoßen kann. Quod erat demonstrandum. Nein, das ist Latein. Auf Masematte hieße es: „Dat hätteste lau gemuckert, du Fitzkajöner…“

Herzliche Grüße
Marion Lohoff-Börger 

Porträt von Marion Lohoff-Börger

Marion Lohoff-Börger

… ist die Frau mit der Masematte und den alten Schreibmaschinen. Auf letzteren schreibt sie Gedichte und verkauft diese in ihrem Atelier an der Wolbecker Straße 105 als Postkarten. Die Masematte möchte die freie Autorin in Münster zu einem lebendigen Sprachdenkmal machen und versucht, dieses mit Kursen, Vorträgen, Lesungen, Büchern und Artikeln für Zeitungen und Onlinemagazine umzusetzen. 2021 stellte sie beim Land Nordrhein-Westfalen den Antrag „Masematte als Immaterielles Kulturerbe“, der abgelehnt wurde mit dem Hinweis, die Stadtgesellschaft Münster müsse sich noch mehr für dieses Kulturgut engagieren.

Die Kolumne

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