Die Kolumne von Michael Jung | Nach der Wahl ist vor der Wahl

Porträt von Michael Jung
Mit Michael Jung

Guten Tag,

eine Woche nach der Bundestagswahl haben Sie vermutlich schon alle denkbaren Analysen und Kommentare gelesen, aber trotzdem ist es vielleicht lohnend, einen Blick auf das Wahlergebnis in Münster zu werfen – und zwar jenseits der tagesaktuellen Analysen. Schauen wir auf längerfristige Trends und strukturelle Fragen und die Aussichten für die Kommunalwahlen im Herbst.

I. Münster ist eine Stadt mit strukturell linker Mehrheit

Das Image Münsters ist ein anderes, aber schon seit fast 20 Jahren hat Münster eine strukturell linke Mehrheit. Das hat sich bei jeder Wahl seit dem Ende der 2000er Jahre manifestiert, und auch am vergangenen Sonntag. Die Parteien der linken Mitte und des linken Spektrums erzielen eine mehr als solide absolute Mehrheit – ganz anders als im Bundesschnitt.

Das ist nicht schon immer so gewesen, sondern prägt sich seit anderthalb bis zwei Jahrzehnten deutlicher aus. Dafür gibt es zwei Ursachen, einen großen Trend und eine kommunale Zugabe: So ist das Bürgertum der Stadt nicht mehr automatisch schwarz. War es vor vierzig Jahren normal, dass Menschen in Einfamilienhäusern und mit einem gewissen Einkommen schwarz wählten, wählen deren Kinder (vor allem deren Töchter) heute grün.

Am deutlichsten können Sie diese Generationenfolge in Stimmbezirken wie Mauritz und Sentrup besichtigen, wo schon immer gut situierte Menschen lebten: Vor einem Vierteljahrhundert waren das schwarze Bastionen mit absoluten Mehrheiten, heute liegen die Grünen dort uneinholbar vorn.

Die Grünen sind ins Bürgertum hineingewachsen. Insofern ist die strukturelle Mehrheit der linken Mitte in der Stadt ein Ergebnis dieses Generationswechsels. Der dürfte auch nachhaltig sein, denn so schnell werden sich die zugrundeliegenden Wahlpräferenzen nicht ändern, und wer in der eigenen Immobilie lebt, der bleibt auch noch länger.

Es gibt aber auch noch eine kommunale Zugabe, die den Trend zur linken Mehrheit verstärkt: Die Einführung der Zweitwohnsitzsteuer Anfang der 2010er-Jahre wirkt sich strukturell gegen die Farben schwarz und gelb aus. (Disclaimer: An der Einführung war der Schreiber dieser Kolumne im Rat wesentlich mitbeteiligt).

Eingeführt aus fiskalpolitischen Gründen, zielt die Steuer vor allem auf die Ummeldung der Erstwohnsitze von Studierenden und hier arbeitenden Menschen, um von höheren Schlüsselzuweisungen und Lohnsteueranteilen zu profitieren. Von einer schwarz-roten Haushaltsmehrheit verabschiedet, hat sie bewirkt, dass heute viel mehr Studierende und ins Berufsleben Startende in Münster wählen und nicht am Heimatort. In der Tendenz stärkt das eher die linke Mehrheit in der Stadt.

Es ist eine schöne Pointe, dass die CDU in der Zeit, als sie Haushaltskonsolidierung über alles stellte, sich mit der Zustimmung zu dieser Steuer selbst den Ast, auf dem sie saß, abgesägt hat. Zusammen mit dem übergeordneten Trend des akademisch gebildeten Bürgertums hin zu den Grünen wirkt das zugunsten einer strukturell linken Mehrheit in der Stadt.

Dass auch die Strategen im Konrad-Adenauer-Haus erkannt haben, dass die Zeiten Münsters als CDU-Hochburg nur noch im Geschichtsbuch stehen, erkennen Sie leicht daran, dass der CDU-Kanzlerkandidat sich in Münster nicht hat sehen lassen.

II. Auf Erstwählende ist für Parteien kein Verlass

Wegen der Hochschulen und der bereits erwähnten Folgen der Zweitwohnsitzsteuer ist die Gruppe der Jung- und Erstwählenden in Münster von weit höherem Gewicht als in vielen anderen Regionen des Landes. Das führt dazu, dass in Münster die Wahlergebnisse von noch stärkeren Umschwüngen geprägt sind als in anderen Städten.

Ein kurzer Rückblick zeigt das: Vor einer Dekade, 2014, war die SPD bei den unter 30-Jährigen in Münster die klar stärkste Kraft, dieser Umstand erlaubte es ihr, auch in der strukturell dominanten linken Mehrheit damals die stärkste Kraft zu sein. Sie konnte so mit den Gewinnen in dieser Altersgruppe die damals schon signifikanten Verluste bei Älteren noch einmal überkompensieren.

Ein verhältnismäßig starkes Kommunalwahlergebnis 2014 und ein sehr gutes Erststimmenresultat bei der Bundestagswahl 2017 belegten das. 2019 kam der Umschwung, die Grünen wurden angesichts einer sklerotischen Groko in Berlin und des Bedeutungszuwachses des Klimathemas zur deutlich dominanten Kraft bei den Jung- und Erstwählenden und konnten dies auch 2020 bei den Kommunalwahlen und 2021 bei der Bundestagswahl in eine klare Hegemonie in der linken Mitte und darauf gestützt sogar in der Gesamtwählerschaft umsetzen.

Mit der Ampel kam auch hier der Wechsel: Je länger diese dauerte, umso schwieriger wurde es für die Grünen in dieser Gruppe, während sie in anderen Altersgruppen weiter punkteten: 2022 lief die Landtagswahl noch gut, 2024 bei der Europawahl errang Volt überraschend starke Gesamtanteile, gestützt vor allem auf die Jungen. Und am Sonntag war es dann „Die Linke“ – keineswegs deren erstes zweistelliges Ergebnis in Münster, 2017 gab es das auch schon einmal.

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Man sieht daran: Jung- und Erstwählende sind in Münster eine besonders fluide Gruppe bei der Wahl. Sie sind – in Münster jedenfalls – (von kurzzeitigen liberalen Ausflügen wie in den 2000er-Jahren oder in Ansätzen 2021 abgesehen) strukturell Garanten der linken Mehrheit, aber nicht auf eine Partei gebucht: Man wechselt je nach Trend die Partei, bleibt aber im Lager.

Das ist für die Parteistrategen eine etwas unangenehme Sache: Man kann sich auf nichts verlassen, und die größere zahlenmäßige Bedeutung der Gruppe in Münster führt zu deutlicheren Ausschlägen im Gesamtergebnis.

Mit Blick auf den vergangenen Sonntag heißt das aber auch: Münster steht keineswegs vor einer trotzkistischen Renaissance. Bei der nächsten Wahl kann es auch schon wieder Volt, die Grünen oder SPD sein (in absteigender Wahrscheinlichkeit). Nur CDU oder gar AfD wird es eher nicht werden.

III. Die älteste Partei verliert ihre demografische Basis.

Während die Grünen ihr demografisches Potenzial in den vergangenen zwei Jahrzehnten deutlich erweitern konnten, geschah bei einer anderen Partei das Gegenteil, nämlich bei der SPD. Die Partei lag am vergangenen Sonntag bei den Zweitstimmen erneut deutlich unter 20 Prozent, und das wird langsam immer mehr zur Gewohnheit.

Angefangen mit der Europawahl 2019 (14 Prozent), der Kommunalwahl 2020 (17,5 Prozent), der Landtagswahl 2022, der Europawahl 2024 und dem vergangenen Sonntag war das nun schon eine ganze Reihe von Wahlen, bei denen sich die SPD unter der Marke und auf dem dritten Platz einfand (die Bundestagswahl 2021 war ein knapper Ausreißer nach oben – aber auch damals war sie weit entfernt vom Gewinn des Direktmandats, der ihr 2002 gelungen war, als sie bundesweit zuletzt stärkste Kraft geworden war).

Die SPD erzielt seit vielen Jahren in Münster Ergebnisse etwa auf dem Niveau des aktuellen Bundestrends, wenn sie einen guten Wahlkampf führt, gibt es Ergebnisse leicht oberhalb davon, führt sie schlechte Wahlkämpfe, landet sie unterhalb.

Insofern ist die Entwicklung natürlich Teil eines übergeordneten Trends, aber er hat in Münster auch markante Ergebnisse zur Folge: Die SPD konnte am vergangenen Sonntag überdurchschnittliche Ergebnisse wie schon bei der Kommunalwahl 2020 dort erzielen, wo Menschen schon lange in ihren Häusern und Wohnungen leben, wo ein etwas lebenserfahreneres Publikum siedelt und der Partei die Stange hält.

War die SPD früher in den Außenbezirken schwach und in der Innenstadt stark, so hat sie heute ihre besseren Ergebnisse dort, wo am wenigsten Fluktuation in der Bewohnerschaft ist. Wo das aber nicht der Fall ist und wo sich die Stadt dynamisch verändert, da bekommt sie kein Bein mehr an den Boden: Am deutlichsten kann man das im Bereich der südlichen Innenstadt erkennen.

Vor einer Dekade war die SPD noch stärkste Partei in all diesen Stimmbezirken, heute ist sie dort als drittstärkste Kraft marginalisiert und kämpft zum Teil noch um diesen Platz. Die Ursache ist ebenso hart wie banal: Hier hat ein massiver Generationswechsel stattgefunden. Die neu Eingezogenen wählen anders, und das hat auch etwas damit zu tun, dass die neuen Mietverträge und Immobilienkaufpreise anders situierte Menschen in die Wohnungen bringen als die alten Bestandsmietverträge.

An der Hammer Straße kann man die fortschreitende Gentrifizierung mit Händen greifen – und der SPD geht die soziodemographische Basis verloren. Und man muss kein Prophet sein, um zu ahnen: Dieser Trend wird sich auch in anderen Quartieren fortsetzen, und da, wo es heute noch bessere Ergebnisse gibt wegen der fehlenden Fluktuation, kann das mit dem zeitversetzt eintretenden Generations- und Bewohnerwechsel dann auch anders aussehen.

Gleichzeitig verliert die SPD die Stimmen derer, die für sich wenig Lebenschancen sehen – in den letzten 20 Jahren zuerst an die Nichtwähler, jetzt an die AfD – deutlich zu erkennen in Stimmbezirken im Norden der Stadt. Die Kernwählerschaft der SPD, Menschen, die von ihrer Erwerbsarbeit oder ihrer Rente leben, findet in der hochpreisigen Stadt kaum noch Platz.

Der Niedergang der SPD hat wenig mit kurzfristigen Trends, aber viel mit dem Wandel der Stadt zu tun. Das darf auch anderen Parteien eine Warnung sein, vor allem der Union.

IV. Ein Schatten ihrer selbst

Auch die CDU lebt immer mehr von der Erinnerung an große Zeiten. Vor 26 Jahren noch eine absolute Mehrheit bei der Kommunalwahl, zeigt der Trend seither steil nach Süden. In einer strukturell linken Stadt kommt man mit einem strammen Rechtskurs nicht an, das dürfte erklären, wieso am vergangenen Sonntag das Direktmandat ebenso unerreichbar blieb wie ein Zweitstimmenergebnis wenigstens auf Bundesniveau.

Wer das seine ganze Amtszeit über klar erkannt hatte, war der amtierende Oberbürgermeister – solange er wiedergewählt werden wollte, achtete er darauf, dass er als liberaler und weltoffener Repräsentant der Stadt Geltung beanspruchen und so auch im linken Mehrheitslager nach Stimmen fischen konnte.

Umso bemerkenswerter war die Volte eine Woche vor der Wahl, als sich im Interview mit den Westfälischen Nachrichten selbst Markus Lewe plötzlich zum Verteidiger des gemeinsamen Abstimmens von CDU und AfD im Bundestag aufwarf und auch migrationspolitisch neue Töne anschlug.

Dass das kein Ausrutscher war und er seine Annahme, Merz habe mit dem Vorgehen der AfD das Wasser abgegraben, auch durch das Wahlergebnis nicht widerlegt fand, belegte er diese Woche dann mit dem öffentlich inszenierten Austrittbei Kolping – der Verband hatte es gewagt, die Abstimmung der CDU/CSU im Bundestag zusammen mit der AfD zu kritisieren.

Und man fragt sich: Welcher Oberbürgermeister war denn jetzt der echte Markus Lewe? Derjenige der letzten Jahre, der stets das weltoffene und liberale Münster zu repräsentieren vorgab? Oder der, der den harten Rechtskurs der Bundes-CDU jetzt, da er nicht mehr zur Wiederwahl ansteht, kompromisslos mitgeht?

Die CDU in Münster war jedenfalls immer dann erfolgreich, wenn sie sich als pragmatische Partei der Mitte positionierte und nicht nach rechts ausschlug. Das wissen auch in der CDU viele, und trotzdem gibt es in Teilen der Partei immer wieder die Tendenz, nach rechts aus der Kurve zu fliegen – erinnert sei an die Vorliebe, rechte Narrative entlang der Obdachlosen- und Drogenszene zu bedienen oder an die immer wieder aufbrechenden Macht- und Richtungskämpfe entlang von Personalfragen.

Konnte die CDU ihre Schwäche kommunal durch den früher in der linken Mitte Stimmen fischenden Markus Lewe noch ein Stück weit kompensieren, sieht man nicht erst seit letztem Sonntag: Das liberale Lager der CDU ist dahinter blank. Katholisch zu sein und vom Bischof zu kommen, das genügt auch nicht mehr, wenn man auf keiner Podiumsdiskussion bestehen und auch sonst politisch keine Akzente setzen kann.

Der vom Landtag in den Bundestag gewechselte Kreisvorsitzende verpasst daher das Direktmandat selbst bei viel günstigerem Bundestrend nicht nur gegen eine grüne Amtsinhaberin wie 2021, sondern nun auch gegen eine grüne Newcomerin – man darf gespannt sein, ob seine Partei nicht beim nächsten Mal nach einem stärkeren Bewerber Ausschau halten wird.

Siege sind für die CDU in Münster nur noch drin, wenn sie ein sehr überzeugendes, in die linke Mehrheit ausstrahlendes Personalangebot machen kann. Rechts zu fischen, lohnt sich wenig, der Teich ist auf dieser Seite eher leer in der Stadt. Schafft die CDU diese Erkenntnis nicht mehr, bleibt’s beim zweiten Platz.

V. Die Aussichten für den Herbst

Was bedeutet der zurückliegende Wahlsonntag nun für die Kommunalwahl im Herbst? Nichts und doch viel. Sicher sein kann man, das Rennen wird eng, und es läuft nach den Ergebnissen vom Sonntag wohl auf eine Stichwahl zwischen Grünen und der CDU hinaus. Prognosen über den Sieger sind schwer, und das hat mit einem Faktor zu tun, der noch gar nicht vorkam: die Wahlbeteiligung.

Bei der Bundestagswahl lag diese über 87 Prozent – bei der Kommunalwahl im September werden es rund 20 Prozent weniger sein (mindestens), jedenfalls war das bisher immer so. Das hat Folgen für das Ergebnis. Verglichen mit den Bundestagswahlen mobilisieren Kommunalwahlen vor allem das strukturell linke Lager der Stadt weniger.

Deswegen erzielt die CDU kommunal immer bessere Ergebnisse als bei Bundestagswahlen in der Stadt – auch wenn die Kandidierenden der CDU natürlich wieder glauben werden, es sei ihr umwerfender Persönlichkeitsfaktor, ist es in Wirklichkeit die niedrigere Wahlbeteiligung des linken Lagers, welche die Prozentwerte der CDU etwas höher steigen lässt.

Dennoch hält der Wahlsonntag Lehren bereit: So etwa die, dass das Rennen um das Oberbürgermeisteramt völlig offen sein dürfte. Niedrigere Mobilisierung des linken Lagers steht dessen größerer Umfang gegenüber, für die CDU fällt der Amtsbonus weg, weil Markus Lewe nicht mehr antritt, auf der anderen Seite zeigen die leichten Verluste der Grünen bei der Europa- und Bundestagswahl, dass die Spitzenresultate von 2019 bis 2021 nicht ohne Weiteres wiederholbar sind.

Die Grünen dürften andererseits davon profitieren, dass sie im Bund nicht mehr in der Regierung sein werden – der erste Unmut über die neue Regierung dürfte sich bis Herbst eingestellt haben. Es wird also alles auf den Wahlkampf ankommen, der mit entsprechend hohen Einsätzen von Mensch und Material geführt werden wird.

Anders sieht es bei der Ratswahl aus. Dort ist nicht im Ansatz erkennbar, wie die CDU eine Mehrheit jenseits der Grünen zustande bringen könnte. Sicher ist dagegen, dass das strukturell dominante linke Lager noch zerfaserter auftreten wird als bei der Bundestagswahl.

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Die Grünen werden dort wohl führend sein, aber neben der SPD werden zahlreiche kleinere linke Parteien im Rat die Mehrheitsfindung zur Herausforderung machen: Ob die willigen Partner von Volt ihr Europawahlergebnis bestätigen können, oder ob auch im Rathaus der Trotzkismus zweistellig wird – da wird viel vom Wahlkampf abhängen.

Ebenso entscheidet sich das Schicksal der kommunalen SPD daran, ob sie ihre verbliebenen Wählerinnen und Wähler wieder an die Urne bekommt oder nicht – am Sonntag hat sie bei extrem hoher Beteiligung das Maximum des derzeit Mobilisierbaren gesehen. Im September wird alles darauf ankommen, möglichst viele davon bei sinkender allgemeiner Beteiligung wieder an die Urnen zu bekommen. Das wird schwer genug.

Noch spannender als das Wahlergebnis wird der Machtpoker hinterher sein: Wird es den Grünen gelingen, die strukturelle linke Mehrheit zu einer stabilen Mehrheit zu fügen? Oder sparen sie sich die Mühe und arbeiten in einem Zweierbündnis mit der CDU zusammen? Oder gelingt es der CDU doch noch, eine Fraktion aus dem linken Spektrum zu bezirzen?

Wenn die CDU nach der Wahl im Rat irgendwie ins Spiel kommen will, sollte sie es wohl besser vermeiden, sich vorher allzu weit rechts rauszuhängen – und vielleicht sollte sie sich daher fragen, ob sie dem scheidenden Oberbürgermeister bei seinem neuen Kurs folgen oder ob sie dem früheren Instinkt treu bleiben will. Was sie beim Rechtsabbiegen zu gewinnen meint, könnte sie in der Mitte doppelt verlieren in einer Stadt wie Münster. Es bleibt spannend.

VI. Wahlkampf

Und weil der Wahlkampf so wichtig ist, ist es ganz entscheidend, keine Fehler zu machen. Über Verstorbene soll man ja nur Gutes sagen, und daher noch zur FDP. Die hatte letzte Woche einen großen Auftritt in den Westfälischen Nachrichten.

Eine halbe Seite bekommt sie da fast nie – was war passiert? Die Schulleiterin eines Berufskollegs hatte heftige Störgefühle angesichts einer FDP-Wahlkampfverteilaktion vor ihrer Bildungsanstalt. Dort hatten die Liberalen eine Tüte verteilt, in der auch ein Kondom enthalten war. Es waren sogar Blätter dabei, die man gerüchteweise für den Konsum kürzlich legalisierter Substanzen verwenden kann.

Da rief die fassungslose Schulleiterin unter Hinweis darauf, dass an ihrer Schule auch 16- und 17-Jährige unterrichtet werden, die offenbar noch an den Storch glauben und das C-Wort noch nie gehört haben, empört die Westfälischen Nachrichten an, deren Entrüstung ähnlich groß war.

Hier sieht man, wie sehr die angenommene Gefühlswelt einer immer noch als konservativ-katholisch imaginierten Stadtgesellschaft in den Westfälischen Nachrichten mit der Realität einer strukturell linken und linksliberalen Gesellschaft aufeinanderprallen können.

Die nächste Wahl dürfte jedenfalls wieder einmal nicht in der Scheinwelt der letzten Tageszeitung entschieden werden. Und daher: Nein, liebe FDP, es hat nicht am Kondom gelegen.

Herzliche Grüße

Ihr Michael Jung

Porträt von Michael Jung

Michael Jung

… lebt schon immer in Münster. Er wurde 1976 hier geboren. Er hat an der Uni Münster Latein und Geschichte studiert und in Geschichte promoviert. Heute ist er Lehrer am Annette-Gymnasium in Münster. Michael Jung war viele Jahre in der Politik: Von 2013 bis 2020 war er Fraktionschef der SPD im Rat der Stadt. Im Jahr 2020 trat er für die SPD bei den Kommunalwahlen als Oberbürgermeisterkandidat an.

Die Kolumne

Immer sonntags schicken wir Ihnen eine Kolumne. Das sind Texte, in denen unsere acht Kolumnistinnen und Kolumnisten Themen analysieren, bewerten und kommentieren. Die Texte geben ihre eigene Meinung wieder, nicht die der Redaktion. Mitgliedschaften in politischen Parteien oder Organisationen machen wir transparent. Wenn Sie zu den Themen der Kolumnen andere Meinungen haben, schreiben Sie uns gern. Wenn Sie möchten, veröffentlichen wir Ihre Zuschrift im RUMS-Brief. Wenn Sie in unseren Texten Fehler finden, freuen wir uns über Hinweise. Die Korrekturen veröffentlichen wir ebenfalls im RUMS-Brief.

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