Klaus Brinkbäumers Kolumne | Die fünf Krisen der USA

Porträt von Klaus Brinkbäumer
Mit Klaus Brinkbäumer

Liebe Leserin, lieber Leser

als ich vorgestern mit meinem Sohn einen Gummiball durch den Madison Square Park von New York kickte, blickte der kleine Mann hoch, und dann hörte und sah ich sie auch: Über Manhattan schwebten sieben Polizei- und Militär-Hubschrauber. Mein Sohn liebt Hubschrauber (so viel zu geschlechtsneutraler Erziehung …), und selten bringt er so viel Geduld auf wie beim staunenden Blick in den Himmel über New York.
Wenig später kamen die Sirenen, dann der Zug der Demonstrantinnen und Demonstranten, die Hundertschaften. Es wurde unübersichtlich, und wir gingen nach Hause.

Es ist in diesen Tagen, wie immer, aufregend, in Amerika zu sein.
Ich mag es immer noch: Weil auch New York und die Vereinigten Staaten mittlerweile Heimat sind, auch weil die kulturelle Kraft dieses Landes selbst in Zeiten wie diesen nicht schwindet. Die Demonstrationen, die wir momentan erleben, entgleisen zwar hier und dort, werden mitunter missbraucht, aber zunächst und vor allem sind diese Demonstrationen integer, leidenschaftlich, empathisch und, auch dies, originell und oft sogar lustig.

Es ist zugleich ermüdend, anstrengend nämlich, jetzt in den USA zu sein. Wenn irgendwer (vielleicht ja doch Gott?) vor zwölf Tagen überlegt hätte: „Hm, was eigentlich fehlt jetzt noch, um dieses seltsame Land komplett in den Wahnsinn zu treiben?“, dann hätte er (sie?) nach nur kurzem Nachdenken mutmaßlich geantwortet: „Ach ja, klar, Rassenunruhen. Ein Mord! Durch weiße Polizisten! An einem Schwarzen!“

Nun also erleben wir hier das, was Segler und andere Meeresliebhaber einen perfekten Sturm nennen: fünf Krisen zur selben Zeit, die einander verstärken.

Hilflos und überfordert: Krise 1

Das Coronavirus schockiert und überfordert das Land noch immer, 110.000 Menschen hatte es bis zum Freitag getötet. In einigen Bundesstaaten sinken die Fallzahlen, aber nicht in allen. New York City, immerhin, hat die apokalyptischen Wochen überstanden, vorerst: Nun gibt es genug Betten in den Krankenhäusern, auch genug Beatmungsgeräte, und mein bester Freund, der Chirurg C., berichtet mir, dass vor allem die Handgriffe und Behandlungsmuster, im Leistungssport würde der Trainer „die Abläufe“ sagen, endlich eingeübt sind.

Dennoch: Das Weiße Haus hat noch immer keine Haltung und keine Planung gefunden, will das Virus halt irgendwie wegwünschen. Und Eric Trump, der intellektuell nicht überqualifizierte zweite Sohn des Präsidenten, sagt, Covid-19 sei eine einzige bösartige Verschwörung von Demokraten und Medien und werde am Tag nach der Präsidentschaftswahl wie durch ein Wunder verschwinden.

Es ist nicht egal, wenn jemand wie Eric Trump das sagt: Viele, viele Menschen hören ihm zu.

Man kann sich im Leben vermutlich vieles schönreden, die Wahrheit aber ist: Die Weltmacht Nr. 1, das reichste Land des Globus, die Heimat von Apple, Google, Microsoft und Facebook bleibt diesem Virus gegenüber auf peinliche und tödliche Weise hilflos. Von nationaler Geschlossenheit oder internationaler Zusammenarbeit, von Verlässlichkeit oder einer Strategie ist noch immer nichts zu sehen.

Ohne sozialen Schutz: Krise 2

Zum selben Zeitpunkt, am Freitag, waren über 40 Millionen Menschen arbeitslos geworden, die Quote liegt nun bei 20 Prozent. Aus Arbeitslosigkeit wird in den USA oft ein tiefer Sturz, da es kaum Sicherungsnetze gibt: Hunderttausende Menschen verlieren nun auch noch ihre Krankenversicherung, ihre Wohnung. Wenn wir also die Plünderungen in manchen Städten diskutieren, gehört dieser Punkt dazu. Die Städte sind verwaist, die Läden verbarrikadiert, und was für ein Bild das ist: Fifth Avenue, zentrale Meile im Zentrum der kapitalistischen Welt – verrammelt und zugenagelt. Natürlich sind manche Menschen, die keinen Arbeitsplatz und keinen sozialen Schutz mehr haben, in Zeiten wie diesen anfällig.

Geschichtsvergessen: Krise 3

Das uralte amerikanische Thema und damit Amerikas Trauma, der Rassismus, ist hinzugekommen, als vor knapp zwei Wochen in Minneapolis George Floyd von vier Polizisten ermordet wurde. Das über acht Minuten lange Video dieser Ermordung eines Mannes, dessen Hände längst auf seinem Rücken gefesselt waren, ist zum neuen Mahnmal dieses Rassismus geworden.
Und wer kann George Floyds Rufe vergessen?
„I can’t breathe.“„Mama.“

Die USA haben ihre Geschichte des Rassismus manchmal zurechtgebogen und manchmal zu ignorieren versucht; und sie haben vergessen, mit wie viel Gewalt und Gnadenlosigkeit dieses Land erobert und dieser Staat gegründet wurden.

Täter aber vergessen leichter als Opfer.

Die USA haben die Sklaverei mit dem Ende ihres Bürgerkriegs, 1865, zwar abgeschafft und sind seit der Bürgerrechtsbewegung der sechziger Jahre gewiss weniger rassistisch als in früheren Zeiten. Sie haben jedoch nie gemeinsam getrauert, nicht als Nation. Demut der Täter gab es kaum, Reparationen sowieso nicht. Zweifellos ist richtig, dass man Auschwitz und den Holocaust nicht mit der Geschichte der Sklaverei vergleichen kann; aber den Satz „Ihr Deutschen habt das besser gemacht“, der sich dann auf die juristische und historische Aufarbeitung und den gesellschaftlichen Diskurs bezieht, höre ich in den USA oft.

Amerikas Rassismus ist präsent, immer noch, und für Schwarze täglich und überall. Und mit ihm seine ganz spezielle Ausprägung, diese ewige Gewalt der Polizei gegen Afroamerikaner.

Polarisierung statt Sachlichkeit: Krise 4

Die vierte Krise ist das Scheitern der amerikanischen Politik. Es gibt in den USA dieser Jahre kein Thema mehr, das einfach nur als sachliche Frage diskutiert und dann, ohne Triumph und Verletzungen, geklärt würde. Alles hier ist zur Identitätsfrage geworden und damit zur Frage von Sieg oder Niederlage: wir oder die. Es ist kaum mehr vorstellbar, dass eine Amerikanerin zunächst John McCain und beim nächsten Mal Barack Obama wählt oder dass sie zwar für Klimapolitik, aber gegen Abtreibung, für den Schutz von Migranten und Flüchtlingen, aber doch auch für minimale Steuern ist – das moderne Amerika verlangt nach Entscheidung und Positionierung, damit nach Ausgrenzung und Verdammung.

Bist du also Republikanerin?
Dann existiert der Klimawandel für dich nicht; und Migration ist gefährlich für dein Land, und Steuern sind sozialistisch, und Abtreibung muss sogar nach Vergewaltigungen verboten werden, und Wissenschaft weiß auch nicht mehr als Religion, und CNN lügt.

Waffenliebhaber gegen Waffengegner. Klimawandelleugner gegen Klimabewegung. Impfgegner gegen Impfbefürworter. „Pro Life“ gegen „Pro Choice“, also Abtreibungsgegner gegen Abtreibungsbefürworter. Republikaner gegen Demokraten. Trump-Verehrer gegen Trump-Hasser.
Das ist Amerika 2020.

Und Land gegen Stadt, das ist die mutmaßlich wichtigste amerikanische Polarisierung: In den größten Bundesstaaten an den Küsten leben viele, viele junge Amerikaner, Studenten sowieso, mehrheitlich Demokraten, selbstverständlich. Der Bundesstaat New York hat 19 Millionen Einwanderer, Kalifornien 37 Millionen. Im Innern hingegen sind die USA weit, wüst, wundergleich – und leer. Der Bundesstaat Wyoming hat 494.000 Einwohner, North Dakota 673.000. Dort wird republikanisch gewählt, mehrheitlich. Wyoming und North Dakota stellen ebenso zwei Senatoren wie Kalifornien und New York, was diese angebliche Demokratie so grotesk ungerecht macht.

Lügen statt Fakten: Krise 5

Die fünfte Krise besteht im Verfall der Glaubwürdigkeit der Medien, und wir können dies natürlich weiter fassen: im Verfall der Glaubwürdigkeit von Wissenschaft und Medien, von Fakten und Daten oder auch in der Konjunktur, die Verschwörungstheorien und Lügen haben.
Ein Präsident, der Medien auch jetzt, inmitten der vier anderen Krisen, „Fake News“ nennt; und natürlich „Volksfeinde“. Ein Präsident, der selbst 16 Lügen pro Tag verbreitet, an 1226 Tagen im Amt 19.127 mal gelogen hat. Das sind die USA unserer Zeit.

Stark oder zum Lachen?

Und in Washington, D.C., ist dieser Präsident dann sauer darüber, dass berichtet wurde, er habe sich neulich im Bunker versteckt. Darum lädt er in den Rose Garden und erklärt sich zum Kriegspräsidenten. Er verlässt das Weiße Haus und geht zu Fuß zur St. John’s Church, gefolgt von Ministern, Tochter, Schwiegersohn, und dort vor der Kirche stellt er sich hin und lässt sich mit der Bibel in der Hand fotografieren, hält die Bibel zunächst aber falsch herum.

Ein Zeichen der Stärke, wie seine Anhänger rufen und schreiben?
Ein absurdes Symbol, zum Lachen? Gebetet übrigens wird nicht, es geht nur um das Foto; und Trump steht so ungelenk da, als habe er noch nie eine Bibel oder auch noch nie ein Buch in der Hand gehalten.
Oder ist das noch mehr: ein undemokratischer, ein autokratischer Vorgang? William Barr nämlich, der Attorney General (was nach deutschem Verständnis eine Kombination aus Justizminister und Generalbundesanwalt ist), hat persönlich den Befehl gegeben, den Park, durch welchen Trump schreiten wollte, räumen zu lassen; Tränengas wurde dabei eingesetzt, gegen friedliche, nicht vorgewarnte Demonstranten. Was eigentlich würde eine amerikanische Regierung über eine ausländische Nation sagen, deren Regierungschef sich so inszenierte?

Trump verlangt dann, dass Polizei und Militär „die Straßen dominieren“ müssten. Sein Verteidigungsminister Mark T. Esper sagt Gouverneuren, sie müssten „das Schlachtfeld dominieren“. Trump twittert in Richtung New York City: „RUF DIE NATIONAL GUARD! Minderwertige Lebewesen und Verlierer reißen dich in Stücke.“ Er sagt wirklich „lowlifes“, mitten in einer Debatte über Rassenkonflikte.
„Die Worte eines Diktators“, das sagt die demokratische Senatorin Kamala Harris.

Selten zuvor haben die USA ihre Schwächen so offen ausgestellt wie in diesem schonungslosen Sommer von 2020.

Keine Diagnose stimmt ganz und gar

Für das Verständnis dieses Landes übrigens bleibt wichtig, dass kaum eine Diagnose, die für einen Staat dieser Größe und Komplexität gestellt wird, jemals ganz und gar stimmen kann, also zu hundert Prozent. Natürlich gibt es auch in den USA von heute noch die Reste einer bürgerlichen Mitte und sogar Solidarität: In den ersten Monaten, als das Virus Sars-Cov 2 das Land erschütterte und lähmte, halfen viele Menschen einander, und es gab auch eine große Zustimmung für die Schließung von Schulen und Geschäften. Und die ökonomische und kreative Wucht des Silicon Valley und der intellektuelle Zauber von Universitäten wie Stanford oder Columbia existieren weiter.

Für das politische Amerika und die Welt der Medien stimmt die Beobachtung aber fraglos, auch für das digitale Amerika: Diese Vereinigten Staaten sind so weit von ihrem Weg abgekommen, dass sie auf Krisen nur noch mit immer neuer Aggression, neuer Ausgrenzung, also neuen Fehlern reagieren können. Und wie eigentlich will eine Gesellschaft, die sich derart verirrt hat, wieder zu sich selbst finden?

Um 20 Uhr beginnt in New York nun die Sperrstunde. Ich musste diesen Satz erst einmal sacken lassen, ehe ich seine Wirkung begriff: New York ist „the city that never sleeps“.
Sperrstunde? Hier? Um acht?
Mein Sohn allerdings wollte nicht ins Bett. Er stand auf der Sofalehne am Fenster und sah den Hubschraubern im Sonnenuntergang zu.

Mit vielen Grüßen in die eigentliche Heimat und allen besten Wünschen
Ihr Klaus Brinkbäumer

Sie erreichen mich unter:
@Brinkbaeumer
klaus.brinkbaeumer@rums.ms

Porträt von Klaus Brinkbäumer

Klaus Brinkbäumer

Klaus Brinkbäumer ist in Hiltrup aufgewachsen. Er ist Journalist, Autor, Filmemacher und seit Januar Programmdirektor des Mitteldeutschen Rundfunks in Leipzig. Von 2015 bis 2018 war er Chefredakteur des Nachrichtenmagazins Der Spiegel. Brinkbäumer gewann unter anderem den Egon-Erwin-Kisch- und den Henri-Nannen-Preis, im Jahr 2016 wurde er zum Chefredakteur des Jahres gewählt. Im Podcast „Okay, America?“ spricht er einmal wöchentlich mit der Zeit-US-Korrespondentin Rieke Havertz über die politische Lage in den USA. Klaus Brinkbäumer lebt in Leipzig.

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