Die Kolumne von Carla Reemtsma | Wetter oder Klimawandel? Von kurz- und langfristigen Trends

Porträt von Carla Reemtsma
Mit Carla Reemtsma

Liebe Leser:innen,

vor zwei Wochen standen meine Freund:innen auf dem Aasee, meine Mitbewohnerin musste ihren Einzug aufgrund verschneiter Autobahnen verschieben und in den Statusmeldungen sozialer Netzwerke trubelten sich Bilder und Videos Schlittschuh laufender und Langlaufski fahrender Menschen. Eine Woche später öffnete ich die Wetter-App auf meinem Handy und fragte mich beim Anblick der frühlingshaften Prognosen, ob ich die Winterklamotten schon wieder wegräumen kann – ein Temperaturunterschied von knapp 40 Grad innerhalb weniger Tage.

Parallel zu alledem übertrafen sich Nutzer:innen sozialer Netzwerke mit Tweets und Facebook-Beiträgen, alle nach dem Schema: „Und? Wo ist EUER Klimawandel jetzt? Schon mal von Wetter gehört?“ Es mag seltsam anmuten, zwischen halbmeterhohen Schneebergen Banner mit Klimaforderungen hochzuhalten oder wie die Hamburger FFF-Aktivist:innen ein Klimacamp vor dem Rathaus bei Minusgraden im zweistelligen Bereich aufrecht zu erhalten. Und es sind nicht nur Twitter-Nutzer:innen wie @thomas2938720 mit F*CK GRETA-Profilbild, sondern auch Bekannte und Freund:innen, die sich wundern, sich wenig Reim darauf machen können, wie die Schneemassen der vergangenen Wochen mit den Hitzesommern der vergangenen Jahre zusammenpassen können.

Dabei ist es keine Neuigkeit, dass Wetter und Klima nicht dasselbe sind und nicht jedes Wetterereignis die langfristigen Klimatrends abbilden muss. Nicht ohne Grund sprechen Wissenschaftler:innen und Aktivist:innen schon lange nicht mehr von „Klimaerwärmung“, sondern von „Klimawandel“ und „Klimakrise“. Denn der Begriff der Erwärmung suggeriert eine eindeutige, einseitige Entwicklung. Eine solche lässt sich zwar im langfristigen globalen Trend beobachten – die globale Durchschnittstemperatur ist im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter schon um mehr als ein Grad gestiegen –, in ihren Folgen für das alltäglich spürbare Wetter ist sie allerdings weit weniger eindeutig. Denn der durch den Treibhauseffekt verursachte Temperaturanstieg sorgt nicht einfach für gleichmäßig über den Globus und auf die Jahreszeiten verteilte höhere Temperaturen; er bringt Klimasysteme aus dem Gleichgewicht und der Zuwachs an Extremwetterereignissen Ökosysteme und Gesellschaften nachhaltig durcheinander.

Klimaextreme kosten Milliarden – und Menschenleben

Welche unterschiedlichen Formen dies annehmen kann, zeigen die Titelbilder von Zeitungen im Jahr 2020: Menschen, die mit Booten vor den Buschfeuern Australiens fliehen, wöchentliche Meldungen von rekordverdächtigen Taifunen und Hurricanes sowie die im Funkenmeer versinkende Golden Gate Bridge in San Francisco. Alleine die Flutkatastrophe während der Monsunzeit in China verursachte Schäden in Höhe von 32 Milliarden US-Dollar und kostete 278 Menschen das Leben, während die Schäden der weltweiten Klimakatastrophen Kosten im dreistelligen Milliardenbereich verursachten.

In diese Reihe an klimabedingten Wetterereignissen lässt sich auch der von einigen Medien als „Schneebombe“ betitelte Wintereinbruch in diesem Frühjahr einreihen: Trotz der ungewöhnlichen Schneemassen erreichten der vergangene Dezember und Januar beide Temperaturen deutlich über den Monatsmittelwerten der Vergleichsperioden. Gleichzeitig sahen wir Kälteeinbrüche sowohl in Madrid als auch im für seine milden Winter bekannten Texas. Während der Schneesturm in Madrid für chaotische Zustände auf den Straßen sorgte, verursachte die Kombination aus klirrender Kälte, Stromausfällen und nur schlecht beheizbaren Häusern in Texas den Tod von mindestens 20 Menschen.

Diese Temperaturanomalien sind nicht etwa ein Beleg, um die Erkenntnisse jahrzehntelanger wissenschaftlicher Forschung zur Klimakrise zu widerlegen. Ursächlich für sie ist viel mehr der Zustand des Polarwirbels. Eigentlich ist er eine eisige Luftmasse, die sich über dem Nordpol dreht. Wird dieser allerdings schwächer als gewöhnlich oder kehrt gar seine Richtung um, hält er weniger seiner Polarluft über dem Nordpol. Diese kalte Luft entweicht stattdessen aus dem Wirbel über Landmassen und sorgt in den dortigen Regionen für starke Temperaturabfälle. Dieses Verhalten des Polarwirbels trat in den vergangenen Jahren immer häufiger und länger auf – und lässt sich auf den Rückgang des arktischen Eises zurückführen.

Warme Meere im Sommer – mehr Schnee im Winter

Während also die aus dem ungewöhnlich schwachen Polarwirbel ausgebrochene Arktisluft den Aasee zum Lieblings-Winterausflugsziel der Münsteraner:innen befördert hat, machte ein anderes Phänomen die Anreise besonders beschwerlich: die Schneemassen. Auch wenn im Volksmund die kalten Temperaturen und der Schnee gerne unter als „Extremwinter“ zusammengefasst werden, handelt es sich genauer betrachtet um zwei getrennte Phänomene. Wir erinnern uns: Schnee ist auch nur Regen, der bei Minusgraden fällt. Die fortschreitende Klimaerhitzung sorgt mit den höheren Temperaturen auf der Erde und in den Weltmeeren allerdings dafür, dass die Luft mehr Feuchtigkeit aufnimmt, welche dann wiederum in kalten Wintern als massenhafte Schneefälle den Boden erreichen – und das Wetter ganzer Regionen auf den Kopf stellen.

Die Klimakrise kann ganz verschiedene Formen annehmen; klar ist aber, dass die häufig sehr geophysikalisch-technischen Phänomene der Klimaerhitzung in den Meeren oder in der Arktis ganz konkrete Auswirkungen auf das alltägliche Leben der Menschen haben. Und meist keine guten.

Falls Ihnen also in der nächsten Zeit jemand über den Weg läuft, der nach den Wetterphänomenen der vergangenen Wochen doch skeptisch über den katastrophalen Zustand unseres Klimasystems geworden zu sein schien, dann erinnern Sie ihn gerne daran, dass der Aasee vor wenigen Wochen zwar zugefroren, im Sommer 2018 aber auch der Todesort für 20 Tonnen Fische war, da das Wasser aufgrund der hohen Temperaturen nur wenig Sauerstoff aufnehmen konnte. Wenn die Skepsis auch bei aufgefrischten Erinnerungen noch fortbesteht, können Sie ja mit der Erklärung des Polarwirbels weitermachen.

Ich wünsche Ihnen einen sonnigen Sonntag,

Ihre Carla Reemtsma

Porträt von Carla Reemtsma

Carla Reemtsma

Im Januar 2019 hat Carla Reemtsma den ersten Klimastreik in Münster organisiert. Es war eine kleine Kundgebung im Nieselregeln vor dem historischen Rathaus am Prinzipalmarkt. Wenige Wochen später sprach das ganze Land über die Klima-Proteste der „Fridays For Future“-Bewegung. Der Rat der Stadt Münster beschloss das Ziel Klimaneutralität 2030. Inzwischen ist Carla Reemtsma eine der bekanntesten deutschen Klimaaktivistinnen. Geboren wurde sie in Berlin.

Die Kolumne

Immer sonntags schicken wir Ihnen eine Kolumne. Das sind Texte, in denen unsere acht Kolumnistinnen und Kolumnisten Themen analysieren, bewerten und kommentieren. Die Texte geben ihre eigene Meinung wieder, nicht die der Redaktion. Mitgliedschaften in politischen Parteien oder Organisationen machen wir transparent. Wenn Sie zu den Themen der Kolumnen andere Meinungen haben, schreiben Sie uns gern. Wenn Sie möchten, veröffentlichen wir Ihre Zuschrift im RUMS-Brief. Wenn Sie in unseren Texten Fehler finden, freuen wir uns über Hinweise. Die Korrekturen veröffentlichen wir ebenfalls im RUMS-Brief.

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