Carla Reemtsmas Kolumne | Eine Debatte jenseits vom Heizpilz ist möglich

Porträt von Carla Reemtsma
Mit Carla Reemtsma

Liebe Leser:innen,

wer in der vergangenen Woche ins ARD-Abendprogramm geschaut oder einen der sechs in Münster empfangbaren WDR-Sender gehört hat, hat vermutlich – wissentlich oder nicht – einen Beitrag aus der ARD-Themenwoche gesehen oder gehört. Jedes Jahr im November widmen sich die Rundfunkanstalten der ARD eine Woche lang einem gesellschaftlich bedeutenden Schwerpunktthema von Zukunft der Arbeit über Bildung und Gerechtigkeit bis hin zum Glauben. Nach acht Monaten voller Corona-Sondersendungen, Corona-Statistiken und Corona-Gipfeln, täglichem Blick auf die Infektionszahlen und die Corona-Warn-App war es fast ungewohnt festzustellen, dass es auch andere Themen, andere Herausforderungen neben dem Virus gibt.

Natürlich hat die Pandemie sich auch in der übergeordneten Fragestellung der Themenwoche „Wie wollen wir leben?“ niedergeschlagen und einen Teil der Reportagen und Fragen in Talksendungen beeinflusst. Nichtsdestotrotz rief die Woche nochmal deutlich in Erinnerung, dass wir als Gesellschaft vor mehr Herausforderungen als der Pandemie stehen, und dass eine Politik, die uns zurück in den Status Quo von vor der Pandemie führt, nicht ausreichen wird, um ihnen zu begegnen.

Auch wenn die Talkshowfragen – „Würden Sie sich eigentlich unter einen Heizpilz setzen?“ – sich nicht merklich verändert haben: Zwei Jahre Klimastreiks und ein gesamtgesellschaftlicher Erkenntnisgewinn bei der Frage der Bedeutung der Klimakrise bringen selbst die bislang hauptsächlich als Autoindustriefreunde bekannten Politiker:innen dazu, zumindest ihr vermeintliches Interesse an Nachhaltigkeit und Bekämpfung der Klimakrise zu bekunden. Allerdings nie, ohne im angehängten Nebensatz wahlweise den Rechtsstaat, die Arbeitsplätze oder soziale Gerechtigkeit als Einschränkung einzuwerfen. Dank jahrzehntelanger „Klimaschutz ist Wohlstands-/Freiheitskiller“-Rhetorik fragt auch niemand mehr, inwiefern diese Kausalität tatsächlich besteht.

Kompromiss der Menschheit mit sich selbst

Aber selbst die Grünen, ehemals Vorkämpfer gegen ähnliche ökologische und rhetorische Zustände, übernehmen die Floskeln derjenigen, die den Status Quo konservieren wollen. Und dieser Status Quo ist einerseits dabei behilflich, Profite zu maximieren, andererseits trägt er dazu bei, dass Lebensgrundlagen zerstört werden und Ungleichheiten sich verschärfen.

Man dürfe nicht nur mit Klimaaktivist:innen reden, müsse kompromissbereit sein und auch die Zementarbeiter:innen zum Gespräch einladen, so formuliert Grünen-Chefin Annalena Baerbock den Anspruch, den die Grünen mit ihrem an diesem Wochenende beschlossenen Grundsatzprogramm erfüllen müssten. Wer die Forderung angeblich aufgestellt hat, nur noch mit Klimaaktivist:innen zu sprechen, wird nicht gesagt. Hat ja auch niemand gefordert.

Während Aussagen wie diese die Grünen durch die bewusste Abgrenzung von vermeintlich radikal-kompromisslosen Klimaaktivist:innen mehrheitsfähiger machen sollen, verbauen sie die Chancen für eine gesellschaftlich-politische Debatte mit ehrlichem Erkenntnisgewinn und Zukunftspotenzial. Dabei wäre eine Debatte, die über den Horizont zwischen Heizpilz und Nackensteak hinausschaut, längst überfällig.

Die Proteste, die Gespräche in Klassenzimmern und an Abendessens-Tischen, die Wahlen – die Verschiebung der Debatte, der Macht, der Interessen, das alles hat längst stattgefunden. Doch statt auf diese Entwicklung zu reagieren, ein Angebot zu machen, welches dem von Annalena Baerbock beschworenen „System Change Not Climate Change“ gerecht werden kann, wird in die Trickkiste derjenigen gegriffen, die vom Status Quo profitieren und kein Interesse daran haben, ihn zu ändern. Klimaaktivist:innen als kompromisslos darzustellen, Klimaschutzmaßnahmen als unsozial und Klimapolitik als undemokratisch, das ist so rückwärtsgewandt wie falsch.

Zur vermeintlichen Kompromisslosigkeit: Das Pariser Klimaabkommen stellt in sich schon den historischen Kompromiss dar. Es ist ein Kompromiss zwischen dem globalen Norden, der Klimakrisen verursacht, und den am stärksten betroffenen Staaten im globalen Süden. Es ist ein in der Menge der beteiligten Staaten (195 und die USA) einzigartiger Kompromiss. Und es ist inhaltlich vor allem ein Kompromiss der Menschheit mit sich selbst – in der Frage, welche Folgen der Klimakrise sie aushalten kann.

Klimapolitik ist nicht unsozial

Auch der angebliche Kontrast zwischen Klima und Rechtsstaat ist vor allem eins: herbeigeredet. Schon heute ist es so, dass alle Gesetze und Verträge dieser Welt zusammengenommen zu einer Erhitzung des Weltklimas von weit über 3 Grad führen werden. Die Menschheit steht also schon heute vor der Frage, welche Abkommen, Verträge und Gesetze sie einhalten will: Verträge über Bauprojekte oder ein weltweites Abkommen zur Sicherung der menschlichen Lebensgrundlagen.

Eine herausragende Eigenschaft moderner Demokratien ist nicht zuletzt ihre Anpassungsfähigkeit auf geänderte Rahmenbedingungen und gesellschaftliche Weiterentwicklungen. Diese Eigenschaft sollten wir auch bei der Bekämpfung der Klimakrise nicht vergessen. Von Brasilien über die USA bis nach Polen: Es sind vor allem Systeme mit mehr oder weniger stark ausgeprägten autoritären Tendenzen, in denen direkt auf den Abbau von Menschenrechten der Abbau von Klimaschutzmaßnahmen folgt. Gleichzeitig ist es die Klimakrise und nicht die Bekämpfung dieser, die die Demokratie bedroht. Zerstörte Lebensgrundlagen, ein instabiler Planet, Fluchtbewegungen und knappe Ressourcen sind keine guten Voraussetzungen, um demokratisch zusammenzuleben.

Was hingegen das demokratische Zusammenleben nicht bedroht, ist eine Politik, die die Lebensgrundlagen sichert. Bis heute behauptet ein relevanter Anteil den führenden Politiker:innen, Klimapolitik sei unsozial. Das Argument wird sogar von Politiker:innen herangezogen, die sonst gerne sozialpolitische Maßnahmen für überflüssig halten. Viel einfacher kann man sich selber nicht aus der Verantwortung ziehen. Man spielt die Politikfelder geschickt gegeneinander aus und schraubt so die Erwartungen herunter.

Ja, es gibt Klimaschutzmaßnahmen, die soziale Ungerechtigkeiten verstärken. Statt damit aber den Klimaschutz generell als unsozial zu betiteln, wäre es Aufgaben von Parteien und Politiker:innen, solche Maßnahmen zu entwickeln, die den Anforderungen des Pariser Klimaabkommens gerecht werden – und auch denen, die Bürger:innen an eine gerechte Gesellschaft stellen. Das ist möglich. Und es ist wichtig. Das zeigt sich nicht zuletzt dadurch, dass sowohl die aktuelle klimaschädliche Politik als auch Klimafolgen Haushalte mit wenig Geld besonders belasten.

In Münster machen die Koalitionsgespräche Hoffnung

Das Dienstwagenprivileg oder die Steuerbefreiung für innerdeutsche Flüge sind nur zwei von vielen klimaschädlichen politischen Maßnahmen, von denen vor allem Besserverdienende profitieren. Gleichzeitig sind es insbesondere Menschen mit geringen Einkommen, die an lauten Straßen oder in der Nähe von industriellen Anlagen wohnen und infolgedessen gesundheitliche Schäden erleiden. Es ist also kein Charakteristikum von klimapolitischen Maßnahmen, dass sie soziale Ungerechtigkeiten verstärken. Stattdessen bieten sie, richtig gestaltet, viele Möglichkeiten, unserer Gesellschaft inhärente Ungerechtigkeiten abzubauen.

Von der Themenwoche in der ARD bis zur Delegiertenkonferenz der Grünen sind es wieder dieselben rhetorischen Schreckgespenster, die die politischen Debatten rund ums Klima bestimmen. Dass wir weiter sein könnten, erlebe ich in Debatten mit Freund:innen und Verwandten genauso wie mit Industrievertreter:innen und Kolleg:innen. Auch das Klima in Münster wird gerade verhandelt. Was in den Koalitionsgesprächen zwischen Grünen, Volt und SPD besprochen wird, ist noch unklar.

Die für viele unerwartete Entscheidung der Grünen gegen Koalitionsverhandlungen mit der CDU und eine potenziell sehr komfortable Mehrheit weckt bei einigen Hoffnung. Im Ergebnis könnte eine Politik herauskommen, die auf die Herausforderungen anders reagiert, als wir es bislang kannten – eine Politik, die nicht nur den Status Quo erhält, sondern die mehr erreicht. Langfristig und auch über Münster hinaus gedacht ist aber klar, dass es mehr brauchen wird, als die papierenen Bekenntnisse einzelner Parteien.

Ich wünsche Ihnen einen schönen Sonntag.

Ihre Carla Reemtsma

Porträt von Carla Reemtsma

Carla Reemtsma

Im Januar 2019 hat Carla Reemtsma den ersten Klimastreik in Münster organisiert. Es war eine kleine Kundgebung im Nieselregeln vor dem historischen Rathaus am Prinzipalmarkt. Wenige Wochen später sprach das ganze Land über die Klima-Proteste der „Fridays For Future“-Bewegung. Der Rat der Stadt Münster beschloss das Ziel Klimaneutralität 2030. Inzwischen ist Carla Reemtsma eine der bekanntesten deutschen Klimaaktivistinnen. Geboren wurde sie in Berlin.

Die Kolumne

Immer sonntags schicken wir Ihnen eine Kolumne. Das sind Texte, in denen unsere acht Kolumnistinnen und Kolumnisten Themen analysieren, bewerten und kommentieren. Die Texte geben ihre eigene Meinung wieder, nicht die der Redaktion. Mitgliedschaften in politischen Parteien oder Organisationen machen wir transparent. Wenn Sie zu den Themen der Kolumnen andere Meinungen haben, schreiben Sie uns gern. Wenn Sie möchten, veröffentlichen wir Ihre Zuschrift im RUMS-Brief. Wenn Sie in unseren Texten Fehler finden, freuen wir uns über Hinweise. Die Korrekturen veröffentlichen wir ebenfalls im RUMS-Brief.

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