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Klaus Brinkbäumers Kolumne | Hysterisch oder unaufgeregt | Vor der Wahl
Liebe Leserin und lieber Leser,
wenn ich aus der Ferne nach Münster blicke, wirkt die Heimat robust. Gelassen. Schon klar, dass der Blick aus der Distanz das Erkennen von Details verhindert. Und es könnte durchaus so etwas wie romantische Verklärung im Spiel sein: Beim vergangenen Besuch, der wegen Corona viel zu lange her ist, war die real existierende Hiltruper Marktallee gar mehr nicht so mondän wie jene in der Erinnerung.
Aber ich vergleiche Münster an dieser Stelle ja gerne mit New York. Und New York zweifelt, hadert, leidet an sich selbst und am Rest des Landes und bewegt sich darum mit einer Kombination aus Hysterie und Götterdämmerungsgewissheit Richtung Wahltag am 3. November. Münster hingegen wird am 13. September seinen Stadtrat wählen: unaufgeregt und skandalfrei, so wirkt es aus der Distanz. Die Demokratie ist hier bedroht, aber nicht in Westfalen.
Heimlich zum Preußenstadion
Kleine Einschränkung am Rande: Wenn ich nun also aus der Ferne Richtung Heimat schaue, ist nicht alles rosig, denn dann trauere ich natürlich mit dem SC Preußen. Ich bin seit ungefähr 48 Jahren leidender Liebhaber, und seit ungefähr 48 Jahren denke ich, wie so viele Mit-Münsteraner, dass der SC Preußen eigentlich in der Bundesliga spielen müsste. Mindestens natürlich in der zweiten Liga, wo er damals spielte, als die Liebe begann – und wo er ständig auf einem Aufstiegsplatz stand, doch niemals am letzten Spieltag. Mein Vater nahm mich in jenen Jahren mit ins Preußenstadion, aber er mochte unerklärlicherweise nicht an jedem Spieltag hingehen, und darum musste ich meinen Eltern bisweilen samstags um zwei vorgaukeln, dass ich nun zum Spielen zu meinem Freund Axel radeln würde – und stattdessen radelte ich dann am Kanal entlang zum Preußenstadion und gab mein Taschengeld heimlich an diesen schon damals uralten steinernen Kassenhäuschen aus. Und abends dann, beim Sportschaugucken mit dem Vater, vergaß ich niemals überrascht zu sein, wenn das Preußen-Ergebnis kam.
Ach, Erinnerungen.
6:0 gegen den Bonner SC, 4:0 zur Halbzeit, ich war neun Jahre alt und stand ganz unten am Zaun. Noch heute kann ich die Mannschaftsaufstellung aufsagen, na ja, fast: Welz im Tor, davor Grünther, Krekeler und Loos, davor Möhlmann und Karbowiak, davor Seiler, Graul und mein Held Rolf Blau. (Vergessen habe ich nur Fleer in der Abwehr und Wolf im Mittelfeld, der „Kicker“ kennt auch diese Beiden noch.)
Und nun also wieder ein Abstieg und wieder ein Neubeginn, am 4. September startet die Regionalligasaison, in Rödinghausen. Ich bin 53 Jahre alt. Ob ich es noch erleben werde, dass der SC Preußen dort spielt, wo er eigentlich hingehört?
Apokalyptisches Frühjahr
Bericht aus New York: Das Leben hier normalisiert sich, aber da ist eine dunkle Ahnung.
Wir gehen in die Parks, an die Strände, es war ein leuchtender New Yorker Frühsommer, der nun in den drückenden August übergeht. New York hat die Covid-19-Krise erst einmal und weitgehend überstanden und arbeitet gerade dieses apokalyptische Frühjahr auf. 155.000 Menschen sind in den USA bislang an dem Virus gestorben, 23.000 davon in New York City. Und auch wenn wir alle hier dachten, dass kollektive Disziplin und gelebte Solidarität dafür gesorgt hätten, dass die grausamen Wochen des März und April schnell hinter uns lagen, fällt das Ergebnis aller detaillierten Analysen trüber aus. Grauer.
Wir lernen nämlich nun, dass die scharfe Teilung der Stadt in Reich und Arm fürchterliche Folgen hatte: Die meisten Todesopfer gab es in der Bronx und in Brooklyn, und in den unterversorgten städtischen Krankenhäusern starben absurd viele, unnötig viele Patienten, da diese Krankenhäuser zu wenig Personal und sowieso zu wenig Beatmungsgeräte hatten, um mit der Apokalypse fertig zu werden. Trotzdem wurde die Patienten nicht an private Krankenhäuser in Manhattan überwiesen: Die städtischen Kliniken brauchten die Einnahmen; den privaten wiederum waren die Einnahmen durch Patienten, die nicht privat versichert waren, nicht hoch genug. Wenn aber das eine Krankenhaus Patienten nicht abgeben will, die das andere nicht aufnehmen möchte, dann bleiben diese Patienten natürlich dort, wo sie sind, und sterben eben.
Amerika kann gnadenlos sein.
Und Amerika wird mit dieser Krise nicht fertig, weil es nach sieben Monaten noch keine Strategie gefunden hat, keine Einigkeit.
Die Republikaner und ihr Präsident und ihre Wähler halten Atemschutzmasken noch immer für ein modisches Accessoire für Feiglinge; sie wollen Schulen öffnen, Schlachthöfe geöffnet halten, den Rest der Wirtschaft wieder in Gang bringen und Strandurlaub machen, obwohl in Florida, Texas und vielen, vielen weiteren Bundesstaaten Fallzahlen und Todesraten steigen. Die Demokraten und ihre Wähler sehen das anders, halten Abstandsregeln ein, tragen Masken und glauben, dass die Wirtschaft erst dann wieder anlaufen könne, wenn das Virus kontrolliert werde. Das Problem ist, dass Solidarität nicht funktioniert, wenn die Hälfte der Gesellschaft wütend „Nein“ schreit, und darum wandert das Virus hin und her.
Und das Problem New Yorks ist, dass wir hier sehen, dass die, die vor dem Virus nach Florida geflüchtet waren, nun von dort zurück nach New York flüchten … nein, das kann und wird nicht gut gehen, es ist eine Frage der Zeit, bis sich auch die New Yorker Lage wieder verändert.
Ist es nicht erschütternd, wie destruktiv Polarisierung wirken kann? Wie sie dafür sorgen kann, dass das mächtigste Land der Welt ganz klein und schwach und hilflos wird?
Das Wahrheitsexperiment
Die „amerikanischen Parteien“, das schreibt Lilliana Mason, Professorin an der University of Maryland, „werden zunehmend im sozialen Sinne polarisiert. Religion und Rasse, genauso Klasse, Geographie und Kultur, trennen die Parteien auf eine Weise, die Parteiidentität immer weiter verstärkt. Es ist nicht mehr nur ein Wettbewerb zwischen Demokraten und Republikanern, sondern eine einzelne Stimme zeigt neben der Wahl der Partei auch an, welche Religion, Rasse, Ethnie, welches Geschlecht, welche Nachbarschaft und welchen Supermarkt wir favorisieren.“ Parteiidentität sei zur Mega-Identität geworden, mit allen Folgen für Psychologie und Verhalten, die wir gegenwärtig erleben.
Ein Beispiel, ein Experiment. Es waren scharfe Farbfotos, und man konnte es zweifelsfrei sehen: Auf dem einen war eine karge, kleine Menschenmenge abgebildet, auf dem anderen eine große, gewaltige. Die beiden Politologen Brian Schaffner und Samantha Luks zeigten 1.400 Menschen diese Bilder und fragten die eine Hälfte der Testgruppe, welches Foto die Amtseinführung Barack Obamas darstelle und welches die Amtseinführung Donald Trumps.
Das Ergebnis: Trump-Anhänger sagten, dass das Foto mit der größeren Menge die Amtseinführung Trumps zeige.
Dann veränderten Schaffner und Luks das Experiment. Der zweiten Hälfte der Gruppe erklärten sie, welches Foto bei welchem Anlass gemacht worden war, und sie fragten nun, welches die größere Menschenmenge zeige. Das Ergebnis: 15 Prozent der Trump-Anhänger deuteten auf das Foto mit den halbleeren Flächen vor dem Kapitol.
„Informationskaskade“ nennen Ökonomen das Phänomen: Ein Glaube pflanzt sich innerhalb einer Gruppe fort, obwohl das Gegenteil zweifelsfrei bewiesen ist.
Das Freund-Feind-Prisma
Amerikas Polarisierung verstärkt sich, ist längst eine sich selbst erfüllende Prophezeiung geworden, weil wesentliche Teile der Medien, jedenfalls die Fernsehsender, diese Polarisierung bedienen. CNN liefert Fernsehen für Trump-Hasser, Fox News macht sein Programm für Trump-Jünger. Und dort, auf Fox News, wird in diesen Tagen die Erzählung des Präsidenten verstärkt, dass linke, marodierende Horden die hübschen Innenstädte Amerikas verwüsten würden. Dazu laufen Werbespots, die die Republikaner geschaltet haben: Eine zitternde alte Frau sieht die „linken Faschisten“ (Trump) vorrücken und ruft verzweifelt die Polizei, aber die Polizei wurde gerade abgeschafft, „in Joe Bidens Amerika“.
Wahr ist das alles nicht: Weder will der demokratische Kandidat Biden die Polizei abschaffen (oder ihr auch nur Geld entziehen), noch sind die Demonstrationen der Black-Lives-Matter-Bewegung gewalttätig. Leidenschaftlich sind sie. Kreativ. Und ja, punktuell gab es Übergriffe und Ausschreitungen.
Der amerikanische Philosoph Jason Stanley sagt, das wesentliche Problem des Journalismus unserer Zeiten sei dieses: „Es gibt eine Ideologie, die die Welt durch das Freund-Feind-Prisma sieht – du stehst entweder an der Seite des autoritären Führers, oder du bist sein Gegner. Es gibt nur noch diese zwei Seiten, auch wenn die Wirklichkeit natürlich komplexer ist.“ Wer sich nämlich, aus der Sicht des autoritären Führers, gegen eben diesen stelle, mache sich dadurch selbst zur Opposition und zur Zielscheibe, und das mache es schwieriger und teurer, heute Journalismus zu betreiben. Wenn es nur noch „wir“ und „die“ gibt, dann ist niemand mehr neutral, und niemand strebt mehr objektiv nach der Wahrheit, so Jason Stanley.
Die Historikerin und Professorin an der New York University Ruth Ben-Ghiat sagt mir, dass in Demokratien meist nur einzelne Journalisten zu Feindbildern würden, während es ein Muster autokratischer Gesellschaften sei, Journalisten als Gruppe zu bekämpfen. Der Aufstieg des Autokraten bedeute darum das Ende von Transparenz und Verlässlichkeit und die Unterdrückung von Informationen, die nicht den Autokraten stärken. Wenn sie nicht durch einen Coup an die Macht kämen, sei die Hetze gegen Journalisten das Mittel, mit welchem Autokraten an die Macht kämen. Der Autokrat wirft den Medien vor, zu lügen und zu erfinden, während er allein große Opfer im Dienste des Volkes auf sich nehme, um als einziger die Wahrheit auszusprechen. Und darum, so sagt es Ruth Ben-Ghiat, „gehen das Ende der Wahrheit und das Ende der Demokratie Hand in Hand“.
Jay Rosen, Journalist und Wissenschaftler, lehrt Journalismus an der New York University, und sagt im Gespräch: „Medien als Feindbild erfüllen ein Wahlversprechen, das für Trump längst ein Markenversprechen geworden ist.“ Das Wahlversprechen, das Trump gegeben habe, sei dieses gewesen: „Ich mache diese Leute für euch klein. Ich behandle sie mit dem Ekel, den ihr für sie fühlt.“ Wir erlebten hier die perfekte Umsetzung von Grollpolitik – und der Groll richte sich gegen die Eliten der USA. Und: „Medien zu Hassobjekten zu machen lehrt die Anhänger, prophylaktisch alle Berichterstattung abzulehnen, die da kommen wird.“ Alles, was die Fake News-Medien melden werden, sei per definitionem falsch. Je wahnwitziger Trump agiere, desto mehr glaubten seine Anhänger, dass ehrenhafte Journalisten den Präsidenten zur Strecke bringen wollten. Dadurch erzeuge Trump für sich „a freedom from facts“, eine „Freiheit von Fakten“, letztlich eine „post-wahrhaftige Politik“.
Und dies ist der Begriff für die Vereinigten Staaten von 2020.
Ich wünsche den Preußen den Wiederaufstieg und allerdings auch den New York Rangers den Stanley Cup. Ob das gut gehen kann? Die abgebrochene Saison begann gestern wieder, Eishockey im Corona-August, allerdings an zwei kanadischen Spielorten, Toronto und Edmonton, wo die Infektionsraten minimal sind.
Und ich schicke viele herzliche Grüße in die Heimat
Ihr Klaus Brinkbäumer
Sie erreichen mich unter klaus.brinkbaeumer@rums.ms oder bei Twitter: @Brinkbaeumer.
PS
Hatten Sie eine New York-Reise geplant? In diesen Wochen könnten Sie – in normalen Jahren – Fleiluftkino im Bryant Park oder Konzerte und Theater, nämlich „Shakespeare in the Park“, im Central Park genießen. All das fällt aus, die geplante Aufführung von „Richard II.“ aber gibt es als wundervolles Hörspiel.
Klaus Brinkbäumer
Klaus Brinkbäumer ist in Hiltrup aufgewachsen. Er ist Journalist, Autor, Filmemacher und seit Januar Programmdirektor des Mitteldeutschen Rundfunks in Leipzig. Von 2015 bis 2018 war er Chefredakteur des Nachrichtenmagazins Der Spiegel. Brinkbäumer gewann unter anderem den Egon-Erwin-Kisch- und den Henri-Nannen-Preis, im Jahr 2016 wurde er zum Chefredakteur des Jahres gewählt. Im Podcast „Okay, America?“ spricht er einmal wöchentlich mit der Zeit-US-Korrespondentin Rieke Havertz über die politische Lage in den USA. Klaus Brinkbäumer lebt in Leipzig.
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