Klaus Brinkbäumer schreibt aus New York | Wenn die Heimat unerreichbar ist | RUMS-Kolumne

Porträt von Klaus Brinkbäumer
Mit Klaus Brinkbäumer

Liebe Leserin, lieber Leser,

Münster war immer da, die Heimat eben, immer konnte ich dorthin zurückkehren. Heimat, das ist ja bereits das Wissen, die Sicherheit nämlich, dass dieser Ort existiert.

Ausgerechnet jetzt aber geht das mit der Rückkehr nicht.

Da sind die Einreiseverbote. Die gestrichenen Flüge. Die Risiken. Die Vernunft, die auch.

Wenn jetzt etwas passierte, wenn uns in New York oder der Tochter in München oder der Schwester in Montpellier oder dem Schwiegervater in Hamburg oder den Eltern in Münster etwas zustieße, wir fänden nicht zueinander.

Denn New York, die Sehnsuchtsstadt, ist nun das Symbol und das Zentrum der Weltkrise. Und täglich reden wir mit der Familie darüber, via WhatsApp und Telefon, ob wir nach Deutschland, nach Münster reisen sollten; doch die Bewegung als solche und die vielen Begegnungen und folglich die gesamte Reise über den Atlantik wären mutmaßlich noch gefährlicher als dieser Ort hier.

Gefangen? Am freiesten Ort der Welt, in New York?

Der Blick wandert aus dem 30. Stock nach Norden. Die Bleecker Street ist verwaist, dahinter der Washington Square Park ebenso, grau ist der Himmel über Manhattan, und auch das ist selten: Das New Yorker Wetter ist an den meisten Tagen extremer als in Münster, der Himmel leuchtend tiefblau oder gewitterschwarz. Heute ist Münsterwetter.

Während ich dies schreibe, kommt die Meldung, dass Präsident Donald Trump überlegt, eine vierzehntägige Quarantäne über New York zu verfügen. Ich sehe mir die Aufzeichnung an, Trump sagt, er denke darüber nur nach, vielleicht ja, vielleicht nein; er plappert‘s so dahin beim Verlassen des Weißen Hauses, und vermutlich hängt seine Entscheidung davon ab, ob unser Gouverneur Andrew Cuomo ihn nun lobt oder nicht.

Während ich wiederum diese Zeilen schreibe, kommt Trumps Tweet: „Ich denke über eine Quarantäne für die ‚hot spots‘ New York, New Jersey und Connecticut nach. Eine Entscheidung wird bald getroffen werden, so oder so.“

Die Heimat ist unerreichbar

Dies, exakt dies ist das Leben in New York in Zeiten der Coronakrise. 8,5 Millionen Menschen fragen sich, was da kommen wird. Oder ist es längst mit voller Wucht hier?

Es werden von Tag zu Tag weniger Lichter dort oben in Midtown Manhattan. Das Empire State Building leuchtet wie die letzte Fackel von New York City.

Von Reportagereisen in Krisengebiete, von fliehenden Menschen, kenne ich diese Seelenlage: dass Menschen nicht zurückreisen können, sich ja sowieso kaum bewegen können, dass sie abhängig sind von anderen, von Zufällen, Stimmungen, dass sie ohnmächtig sind ohne diesen Reisepass der Europäischen Union. Wir Deutschen, wir Münsteraner kennen das kaum. Doch was für eine Illusion war das: zu glauben, jede Bewegung bestimmen zu können.

Wir sitzen hier im 30. Stock in der Stadt unserer Träume, und unerreichbar ist sogar diese, die neue Heimat.

New Yorker, so war das in besseren Zeiten, geben manches dafür auf, dass sie New Yorker sein dürfen. Gärten. Platz. Luft. Sie zahlen viel Geld für wenig Raum und erhalten Zutritt zur aufregendsten Spielwiese der Welt. So funktionierte das, damals.

Die letzte Ausstellung, die ich sehen konnte, war Gerhard Richters „Painting after all“ in „The Met Breuer“. Das letzte Eishockey-Spiel der Rangers, das ich im Madison Square Garden sah, gewannen wir gegen die Islanders. Das letzte Buch von „The Strand“: „Weather“ von Jenny Offill. Die letzte Oper in der Metropolitan Opera, den „Fliegenden Holländer“, sahen wir nicht mehr, wir ließen die Tickets verfallen, am Tag danach schloss die Met. Der Central Park: bedrohlich weit weg. Das ganze wahre New York City, das öffentliche, ist seit Wochen geschlossen und womöglich gestorben.

Covid-19 kam langsam hier an und dann gewaltig.

Wochenlang gab es in New York viel zu wenige Tests, und die Botschaften gingen wild durcheinander. Der Gouverneur warnte. Doch nein, es gebe ja nur 15 Fälle in ganz Amerika, demnächst seien es sowieso wieder null Fälle, weil er das Virus „total unter Kontrolle“ habe, das sagte Trump vor sechs Wochen.

Eine ernsthafte Vorbereitung gab es nicht, die ganzen USA verschliefen jene Wochen, in denen sie sich hätten wappnen können.

Am gestrigen Samstag nun waren es 26.000 Infizierte und 450 Tote in New York City, 113.000 Infizierte in den USA, mehr als in jedem anderen Land der Welt.

Die Nebenwirkungen der Krise

In allen freien Gesellschaften der Welt wird diese Debatte geführt: Wie weit dürfen Restriktionen reichen, wie lange darf der Stillstand kompletter Nationen erzwungen werden?

Wer entscheidet worüber?

Welche Nebenwirkungen werden in Kauf genommen, wie viele Arbeitslose und letztlich, gewiss auch dies: wie viel Einsamkeit, wie viele Suizide? Eine gesunde Gesellschaft muss solche Debatten austragen, braucht einen moralischen und einen politischen Kompass, aber sie sollte die Reife haben, zunächst wissenschaftliche Daten zur Kenntnis zu nehmen und die beschlossene Therapie wirken zu lassen, ehe der Kurs geändert wird.

Die USA blockieren sich selbst, auch jetzt wieder. Warum schafft diese Nation es nicht, auch nur zu gemeinsamen Diagnosen zu gelangen? Sich zu verständigen über Daten, Fakten, Wahrheiten? Und dann über Strategien?

Das Google-Beispiel erklärt so manches.

Mitte März war ich im Rose Garden des Weißen Hauses, Trump hatte zu einer Pressekonferenz geladen. Er fasste ständig sein Mikrophon an und dann sich selbst ins Gesicht, gab Dutzenden Menschen die Hand, sie alle standen zu eng beieinander.

Und dann sagte Trump, dass 1700 Programmierer bei Google „außerordentliche Fortschritte“ dabei erzielten, eine Website für Amerikas Kampf gegen Corona zu bauen.

Aber es gab die 1700 Google-Leute nicht, die Website nicht, es gab das ganze Projekt nicht, nicht einmal die Idee. Die Wahrheit war, dass Verily, eine Google-Tochter, dabei war, eine kleine, lokale Seite für Ärzte und andere Menschen aus dem Gesundheitssystem in zwei Bezirken San Franciscos zu entwickeln. Mehr nicht. Entweder hatte Trumps Schwiegersohn Jared Kushner das alles falsch verstanden; oder aber Trump hatte nicht zugehört, als Kushner ihm die Sache erklärte.

Was dann geschah, ist Amerika 2020: Bei Google begannen hektische Versuche, dem zu entsprechen, was der Präsident gesagt hatte. „Was für ein Quatsch, wie sinnlos, was für eine irrwitzige Anstrengung mit dem Ziel bloßer Gesichtswahrung“, sagt eine Google-Angestellte – offiziell sagt niemand von Google ein kritisches Wort.

Immerhin, einige Medien berichteten die Wahrheit. Trump sagte: „Fake News.“ Er besteht noch immer darauf, dass Google eine nationale Website baue, und erzählt, dass der Google-Chef Sundar Pichai ihn angerufen und sich entschuldigt habe.

Wofür?

„Kein Kommentar“, sagt eine Google-Sprecherin.

Was sagt uns dies über die USA? Wenn sich nicht einmal Google, mächtigster Konzern der Welt, noch traut, zu sagen, was wahr ist: Dann sollten wir an anderen Stellen vermutlich keine Hoffnung mehr haben.

Oder … doch?

Trump tritt täglich vor die Presse

Anthony Fauci ist der Mann, der schafft, was Google nicht schafft: Fauci hält stand.

Fauci, Jahrgang 1940, ist seit 1984 der Direktor des „National Institute of Allergy and Infectious Diseases“ und hat in den USA jene Rolle übernommen, die in diesen bizarren Frühlingstagen in Deutschland der Virologe Christian Drosten hat: Die beiden Herren klären ihre Nationen über das Virus auf, sie tun das gleichermaßen selbstbewusst wie zurückhaltend.

Manchmal, wenn Trump lügt, hält Fauci sich die Hand vor die Augen. Manchmal schüttelt Fauci, kaum merklich, den Kopf. Seine Leistung besteht darin, dass er es schafft, den Präsidenten nicht zu brüskieren und zugleich eigenständig authentisch zu sein.

Trump darf wegen des Virus keine Wahlkampfauftritte mehr machen, darum erscheint er nun täglich vor der Presse: Wir erleben die Trump-Show, die nächste Staffel. Würden Amerikas Sender nicht die kompletten 90 Minuten live übertragen, würde er sich vermutlich kürzer fassen oder fernbleiben; aber die Quoten sind hoch, also machen Amerikas Medien sich zu Komplizen, schon wieder, wie 2016.

Es fehlt jegliche Klarheit. Am einen Tag ist Covid-19 banal und bald vorbei, am nächsten der schlimmste aller Feinde, am dritten will Trump die Wirtschaft wieder anwerfen, bis Ostern, denn die „Medizin darf nicht schlimmer wirken als die Krankheit“, und am vierten geht es darum, ob New York unter Quarantäne zu stellen sei.

Immerhin ist da Fauci.

Wenn Trump dort oben sagt, das Malaria-Medikament Chloroquin wirke super, also wirklich ganz verblüffend sensationell super gegen das Virus, dann hört Anthony Fauci lächelnd zu, lässt etwas Zeit verstreichen und sagt, es gebe für diese These keine Beweise; gegen Ebola jedenfalls habe Chloroquin nicht gewirkt.

Vor einigen Tagen gab Fauci „Science“ ein Interview, das gemessen an den Spielregeln der Trumpwelt spektakulär war. „Ich kann ja nicht einfach vors Mikrofon springen und ihn niederstoßen“, sagte er über Trump. Kein zweiter Bewohner des Planeten Trump spricht so.

Natürlich beginnt nun das Gerede; die Trump-Show verträgt nur einen Star. Mehrfach erscheint ausgerechnet Fauci nicht zu den Pressekonferenzen.

„Soweit ich weiß“, das aber sagt Fauci lachend, als er wieder da ist, „bin ich noch nicht gefeuert worden.“

Supermärkte schließen bereits

New York, Heimat meiner Träume und eben deshalb nach Münster und Hamburg die dritte wahre Heimat meines Lebens, dieses New York also ist auch die perfekte Heimat für dieses Virus: so eng, so schmuddelig, so überbevölkert.

Schmierig und klebrig sind die Haltestangen in den U-Bahnen. Wir alle wohnen in Hochhäusern mit acht oder zehn oder zwölf Parteien pro Gang, wir teilen dieselben Müllschächte, dieselben Fahrstühle, eine Wand mit 120 Briefkästen, dieselben Waschküchen im Keller.

Isolation? Hier?

Wir wissen, dass es zu wenig Krankenhausbetten gibt. Trump sagt, er habe New York viele Beatmungsgeräte geschickt, New York habe sie leider verloren. Der Gouverneur Andrew Cuomo sagt, das sei Unsinn, die Regierung schicke noch immer keine Geräte. Ein Freund, der Chirurg ist, schreibt mir, vermutlich werde in zwei Wochen in seinem Krankenhaus zu entscheiden sein, wer noch beatmet werden könne und wer nicht – „falls das nicht jetzt schon geschieht“. Im Ernstfall der Abriegelung werden rasend schnell andere Probleme kommen: Supermärkte schließen bereits heute, sobald es dort Coronafälle gibt, einer nach dem anderen also. Wie wird Manhattan in zwei, drei Monaten ernährt werden?

„Es klingt apokalyptisch“, sagt der Vater am Telefon.

„Ja, leider“, sage ich, „und wie ist es zuhause?“

Passen Sie auf sich und Ihre Familie und Ihre Freunde auf.

Mit herzlichen Grüßen von der anderen Seite des Ozeans

Ihr Klaus Brinkbäumer

Sie erreichen mich unter klaus.brinkbaeumer@rums.ms oder bei Twitter: @Brinkbaeumer.

Porträt von Klaus Brinkbäumer

Klaus Brinkbäumer

Klaus Brinkbäumer ist in Hiltrup aufgewachsen. Er ist Journalist, Autor, Filmemacher und seit Januar Programmdirektor des Mitteldeutschen Rundfunks in Leipzig. Von 2015 bis 2018 war er Chefredakteur des Nachrichtenmagazins Der Spiegel. Brinkbäumer gewann unter anderem den Egon-Erwin-Kisch- und den Henri-Nannen-Preis, im Jahr 2016 wurde er zum Chefredakteur des Jahres gewählt. Im Podcast „Okay, America?“ spricht er einmal wöchentlich mit der Zeit-US-Korrespondentin Rieke Havertz über die politische Lage in den USA. Klaus Brinkbäumer lebt in Leipzig.

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