Klaus Brinkbäumers Kolumne | Zwei Wahlen, zwei Welten

Porträt von Klaus Brinkbäumer
Mit Klaus Brinkbäumer

Guten Morgen und guten Tag aus New York,

wichtige Wahlen stehen an, zuerst in Münster und dann hier in den USA. In Münster (wenn ich das aus der Ferne richtig wahrnehme) wird es am 13.9. um Infrastruktur gehen, um Umweltthemen, um schlaue Standortpolitik in diffizilen Zeiten, die wirtschaftlichen und sozialen Folgen von Covid-19 also. Hier, in den Vereinigten Staaten, geht es gleichfalls um die Pandemie und ihre vielen Konsequenzen; hier aber geht es, anders als in Münster, eher noch um Größeres, Abstrakteres, Grundsätzliches: darum, ob das Land mit sich selbst noch kommunizieren, zu Entscheidungen und dann zu Handlungen kommen kann. Ob es sich noch erträgt. Es geht diesmal tatsächlich um die amerikanische Demokratie, die Frage nämlich, ob diese noch legitimiert ist und funktioniert. Um Wahrheit geht es auch – oder um das, was von ihr übrig ist.

Die USA erreichen in diesen Tagen den Zustand permanenter Hyperventilation: Der Ausnahmezustand ist Normalzustand geworden.

Zwei Monate sind es noch bis zur US-Wahl (am 3. November), und die Menschen aus Politik und Medien, mit denen ich in den vergangenen Wochen gesprochen habe, waren sich in einem Punkt einig: „Ich bin erschöpft. So müde. Es ist ja noch lange nicht vorbei, aber ich kann nicht mehr.“ (Dieses wörtliche Zitat stammt von einem CNN-Kollegen, aber so ähnlich reden sie in Washington alle.)

Ich reise seit inzwischen 30 Jahren in dieses an vielen Orten und auch in manchen seiner wechselnden Stimmungen so wundergleiche Land, und inzwischen staune ich darüber, dass ich schon 2004 von „zwei Amerikas“ und der amerikanischen Polarisierung und Amerikas Hass auf sich selbst geschrieben habe.

Wie lange das schon so geht.

Wie wenig neu es zu sein scheint.

Und wie neu es heute aber doch ist: noch einmal tiefer reichend, so unendlich viel destruktiver also. Die USA von heute scheinen nicht mehr in der Lage zu sein, ihren Kurs zu justieren, weil sie selbst jene Fehler, die auf beiden Seiten des gespaltenen Landes diagnostiziert werden, nicht mehr korrigieren können – und die vielen anderen Fehler sowieso nicht.

Der Wahlkampf hier hat sich gedreht, abrupt verwandelt. Alles kreist nun um ein Nebenthema, alles kreist um Gewalt. Die USA tun, was eine unterhaltungssüchtige Nation gern tut: Sie lenken sich ab vom Wesentlichen.

Was wäre wesentlich?

Angst statt einem Plan

Ein nationaler Plan gegen Covid-19. Die Rückkehr zu demokratischen Prinzipien, faire Wahlen inklusive der Akzeptanz des Ergebnisses und der Einsicht, dass politische Gegner bloß andere Haltungen und Wünsche haben, aber keine Todfeinde sind. Ein wenig mehr Chancengleichheit und Solidarität, also Steuergerechtigkeit, eine staatliche Krankenversicherung, Schutz vor dem freien Fall durch Arbeitslosigkeit. Kostenlose Bildung, von Küste zu Küste. Investitionen in Umwelttechnologie und eine intelligente Infrastruktur. Eine nationale Debatte über strategische Ziele. Und dann ein außenpolitischer Neuanfang, vor allem die Erneuerung von Bündnissen und Freundschaften mit Nationen wie Deutschland.

All dies täte den USA gut, und ich kenne kaum jemanden in Washington, die oder der das nicht eigentlich wüsste. Das bloße Wissen aber hilft in diesem Land nicht mehr weiter.

Stattdessen: Angst oder, wie gesagt: Gewalt, Recht und Ordnung, das amerikanische Thema 2020.

Denn Angst und Gewalt und darum Recht und Ordnung sind jenes Thema, worüber der Präsident seit Wochen spricht, worüber der ihm in zynischer Treue ergebene Fernsehsender Fox News deshalb pausenlos berichtet (wenn man die Verdrehungen noch „Bericht“ nennen möchte). Dieses Thema wird die fraglos bedeutende Wahl entscheiden.

Das alles ist so windschief, so demagogisch verbogen, dass ich nur darüber staunen kann, dass es trotzdem immer noch weiter getrieben werden kann.

Kleiner, wichtiger Exkurs: Es wäre schlau, wenn die USA sich ernsthaft mit Gewalt auseinandersetzten: mit Schusswaffen nämlich, mit all dem Kriegsgerät auf den Straßen und in den Schulen des Landes. Eine ernsthafte Politik würde dann Regulierung bedeuten, auch eine Überprüfung und lückenfreie Registrierung von Waffenkäufern. Es wäre ebenso schlau, wenn die USA sich mit ihrer gewaltsamen Historie beschäftigten und versuchten, aus ihrer Geschichte von Völkermord und Sklaverei für die Rassismus-Debatten der Gegenwart zu lernen.

Die dreifache Verdrehung der Wirklichkeit

Das aber ist nicht die Gewalt, die der Präsident meint, nicht die, um die es im Wahlkampf geht. Donald Trump spricht von „Linksfaschisten“, „radikalen Demokraten“, „Antifa“, dem „Niederbrennen unserer Städte“, dem „Ende unseres Amerikas“, denn „in Joe Bidens Amerika wären wir nicht mehr sicher“.

Die Republikaner, die in allen seriösen Umfragen weit zurückliegen, versuchen es nun mit einer dreifachen Verdrehung der Wirklichkeit.

Sie haben auf ihrem weitgehend virtuellen Parteitag und dann auf der realen Abschlussveranstaltung im Rose Garden des Weißen Hauses einen Präsidenten Trump entworfen, der nicht existiert: weitsichtig, entschlossen, empathisch, Frauen fördernd, Migranten liebend. Sie dürften wissen, dass sie mit dem erratisch wütenden und an Covid-19 gescheiterten wahren Präsidenten der letzten vier Jahre nicht weit kommen würden.

Sie haben den Gegenkandidaten Joe Biden zur Karikatur gemacht, nämlich einerseits senil und dement und von „dunklen Gestalten“ (Trump) ferngesteuert und andererseits linksextrem, radikal anarchistisch, Gewalt herbeiwünschend. Wer den wahren Biden kennt, mag ihn ein bisschen spießig finden, allemal ein bisschen spröde, aber er ist ein ernsthafter Politiker der Mitte ohne die winzigste extremistische Neigung.

Trump ruft „law and order“

Sie haben schließlich ein Amerika entworfen, in dem Covid-19 besiegt ist und die Städte von den Demokraten niedergebrannt werden. Das New York, von dem Trump redet, ist verwüstet und verwahrlost – das New York, aus dem ich Ihnen schreibe, ist eine spätsommerlich leuchtende Weltstadt, solidarisch, ein bisschen zaghaft und still wegen der Pandemie.

Das also wird nun der Wahlkampf der letzten 60 Tage sein: Trump ruft „law and order“ und verspricht, nur er könne die Vereinigten Staaten retten.

Diese Strategie kann tatsächlich funktionieren: wenn nämlich das Bollwerk konservativer Medien diese Botschaft wieder und wieder ins öffentliche Bewusstsein rammt und jene Vorstädte jener bei US-Wahlen meist entscheidenden Bundesstaaten (Florida, Pennsylvania, Ohio, Michigan, Wisconsin) ernsthaft Angst bekommen; wenn die Demonstrant:innen der Black-Lives-Matter-Bewegung Eskalationen zulassen und nicht höllisch aufpassen; wenn Joe Biden es nicht schafft, entschlossen für progressive, soziale Themen einzustehen und sich ebenso entschlossen von jeder Gewalt zu distanzieren.

Das Ganze hat etwas von 1968. Damals war gerade Martin Luther King ermordet worden, das Land war erschüttert, und die Sympathie für die Bürgerrechtsbewegung war flächendeckend enorm. Aber natürlich waren viele weiße Amerikaner und Amerikanerinnen nervös. Der Republikaner Richard Nixon führte seinen Wahlkampf mit dem Thema innere Sicherheit, versprach „Recht und Ordnung“ und gewann.

Es gibt aber auch Unterschiede, und einer ist wesentlich.

Nixon war der Kandidat, der das Weiße Haus erobern wollte. Trump hingegen ist der Präsident, der verantwortlich ist für den Zustand des Landes. Beauftragen die Wählerinnen und Wähler tatsächlich den Mann mit dem Schutz vor jener Gewalt, die dieser teilweise erfunden und teilweise heraufbeschworen hat?

Mit vielen herzlichen Grüßen über den Atlantik

Ihr Klaus Brinkbäumer

Schreiben Sie mir gern; Sie erreichen mich unter klaus.brinkbaeumer@rums.ms oder via Twitter: @Brinkbaeumer.

PS

Ausnahmsweise ein werbender Hinweis in eigener Sache: Das Buch „Im Wahn – Die amerikanische Katastrophe“ (zusammen mit Stephan Lamby) erscheint am 28. September bei C.H.Beck. Unser Dokumentarfilm „Im Wahn“ läuft am 26. Oktober um 22.50 Uhr in der ARD.

Porträt von Klaus Brinkbäumer

Klaus Brinkbäumer

Klaus Brinkbäumer ist in Hiltrup aufgewachsen. Er ist Journalist, Autor, Filmemacher und seit Januar Programmdirektor des Mitteldeutschen Rundfunks in Leipzig. Von 2015 bis 2018 war er Chefredakteur des Nachrichtenmagazins Der Spiegel. Brinkbäumer gewann unter anderem den Egon-Erwin-Kisch- und den Henri-Nannen-Preis, im Jahr 2016 wurde er zum Chefredakteur des Jahres gewählt. Im Podcast „Okay, America?“ spricht er einmal wöchentlich mit der Zeit-US-Korrespondentin Rieke Havertz über die politische Lage in den USA. Klaus Brinkbäumer lebt in Leipzig.

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