Der Kultur-Brief von Christoph Tiemann | Notwehr einer Bibliothek

Portrait Christoph Tiemann (Kultur-Kolumne)
Mit Christoph Tiemann

Guten Tag,

„Dies ist ein Buch mit umstrittenem Inhalt“ – ein Satz den man auch in Charles Darwins „Über die Entstehung der Arten“, in Salman Rushdies „Die Satanischen Verse“ oder auch in „Genesis – Das erste Buch Mose“ hätte kleben können – der Kleber des Anstoßes pappte allerdings in einem weitaus weniger bedeutsamen Buch. Der Autor wird in der Berichterstattung der meisten Medien nicht genannt und soll es auch hier nicht – er hat die Publicity wirklich nicht verdient.

Für alle, bei denen die ersten beiden Bände der Trilogie Die Tribute von Plemplem gerade entliehen waren – hier eine kurze Zusammenfassung: Der erste Teil spielt im Jahr 2024. Da versieht die Stadtbücherei Münster zwei Bücher eines Verschwörungsphantasten mit folgendem Hinweis:

„Dies ist ein Werk mit umstrittenem Inhalt. Der Inhalt dieses Werks ist unter Umständen nicht mit den Grundsätzen einer demokratischen Gesellschaft vereinbar. Dieses Exemplar wird aufgrund der Zensur-, Meinungs- und Informationsfreiheit zur Verfügung gestellt.“

Im zweiten Teil klagt der Autor der Bücher gegen diesen Warnhinweis, das Verwaltungsgericht entscheidet aber, dass die Stadtbücherei den Hinweis anbringen darf, denn eine Stadtbücherei habe keine Neutralitätspflicht und sei lediglich an ein Sachlichkeitsgebot gebunden und das sei im vorliegenden Falle erfüllt.

Jetzt kam die mit Spannung erwartete Conclusio auf den Buchmarkt: Das Oberverwaltungsgericht schlägt zurück – und das entscheidet, dass der Hinweis im Buch doch rechtswidrig ist. Die Begründung:

„Der Einordnungshinweis verletzt den Autor in seinem Grundrecht auf Meinungsfreiheit sowie in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht. Im Buch enthaltene Meinungen werden durch den Hinweis negativ konnotiert und ein potenzieller Leser könnte von der Lektüre abgehalten werden.“

Das Hamburger Magazin „Der Spiegel” – ein Heft, das sich der Beschäftigung mit umstrittenen Inhalten verschrieben hat – interviewte in dieser Woche Stadträtin Cornelia Wilkens und fragte in seiner Subheadline schon provokant: Aber warum wurden die Werke überhaupt angeschafft? Die Erklärung der Stadträtin:

„Das besagte Buch stand auf der Spiegel-Bestsellerliste. Gefragte Titel – und eine Bestsellerliste ist ein branchenüblicher Indikator – werden automatisiert beschafft.“

Anonymer Briefkasten

Anonymer Briefkasten

Haben Sie eine Information für uns, von der Sie denken, sie sollte öffentlich werden? Und möchten Sie, dass sich nicht zurückverfolgen lässt, woher die Information stammt? Dann nutzen Sie unseren anonymen Briefkasten. Sie können uns über diesen Weg auch anonym Fotos oder Dokumente schicken.

zum anonymen Briefkasten

Der Spiegel unterließ an dieser Stelle ebenso unnachgiebig zu erklären, wie das Buch eines passionierten Faktenerfinders denn auf seine eigene Bestsellerliste kam – was ich hier gerne für die Kollegen aus Hamburg nachhole:

Die Spiegel-Bestsellerliste basiert auf Daten des Buchhandels, erfasst durch Media Control – die sammeln ständig Verkaufsdaten von über sechstausend verschiedenen Verkäufern in ganz Deutschland, von der großen Buchhandlung bis zum Online-Anbieter – und dabei kommt heraus, dass viele, wirklich viele Leute in Deutschland das Buch des Schwurbles gekauft haben. Allen, die das Buch (noch) nicht gelesen haben, ruft die Spiegel-Bestsellerliste also diesen Satz des französischen Karikaturisten Chaval zu: Millionen Fliegen können nicht irren – Esst Scheiße!

Der klagende Autor bringt jedes Jahr ein neues Buch heraus, in dem er für die großen Schlagzeilen eines Jahres noch einmal völlig neue Hintergründe erfindet, knallhart vorbei an den Fakten, dafür aber ohne den Ballast mühevoller Recherchen.

Nur damit wir alle on the same page sind, wie man im Englischen so belletristisch sagt: Der Autor schreibt unter anderem der Anschlag von Hanau sei kein rassistisch motivierter Amoklauf, sondern Teil eines Bandenkriegs gewesen, er bezeichnet Flüchtlinge als „Waffe“ und deutsche Politiker als „ferngelenkte Zombies“, meint, der Sturm auf den Reichstag während der Pandemie sei von der Polizei inszeniert worden und vermutet hinter dem Brand von Notre Dame entweder Satanisten, Islamisten oder den französischen Staat, der die Kirche mit Spendengeldern sanieren konnte, nachdem sich der Rauch erst einmal verzogen hatte. Rechtsextreme Verschwörungsphantasten (oder findige Geschäftsleute) können mit diesen Erzählungen eine Menge Geld verdienen.

Sucht man sein Werk beim Online-Händler, stehen in der berüchtigten Cross-Promotion-Zeile „Kunden, die diesen Artikel angesehen haben, haben auch angesehen“ diese Titel:

„Merkels Werk – Unser Untergang“, „Die Herrschaft Satans“ oder „Die Virus-Lüge“.

Der Nachrichtenchef beim Deutschlandfunk Marco Bertolaso hat diesen sehr schönen Satz über diesen Sammelband des Schwachsinns gesagt: „Für mich ist das Buch eine Papier gewordene geschlossene Facebook-Gruppe, vielleicht ja für besorgte Bürger ohne Internet.“

Doch wer jetzt annimmt, er wisse, in welche Schublade, beziehungsweise in welches Regal dieser Autor einzusortieren sei, der irrt. Denn dieser Autor, der nichts und niemandem traut, nicht den Bildern von der Mondlandung, nicht den Augenzeugen-Berichten von den Atombombenangriffen auf Hiroshima und Nagasaki – der vertraut der Deutschen Justiz und hat sich an sie gewandt. Denn er kennt diesen umstrittenen Text, um den der Parlamentarische Rat zwischen 1948 und 1949 gestritten hat: unser Grundgesetz. Da steht klipp und klar und unbestreitbar: „Eine Zensur findet nicht statt.“

Sie möchten dieses Thema mit anderen Leser:innen diskutieren oder uns Hinweise geben

Nutzen Sie einfach unsere Kommentarfunktion unterhalb dieses Textes. Wenn Sie diese Kolumne gerade als E-Mail lesen, klicken Sie auf den folgenden Link, um den Text auf unserer Website aufzurufen:

diese Kolumne kommentieren

Ein „betreutes Lesen“ passt nicht zu einer freien Gesellschaft, passt nicht zu mündigen Leserinnen und Lesern. Doch der britische Autor John Lawton hat mit einem großartigen Satz das Dilemma aufgezeigt, vor dem wir gerade stehen: „Die Ironie des Informationszeitalters besteht darin, dass es uninformierte Meinungen salonfähig gemacht hat.“

Regierungen, Tech-Giganten und Geheimdienste haben keine weiße Weste – das ist völlig klar. Es wurde und wird in Hinterzimmern gekungelt und verschworen, ohne dass die Bevölkerung davon erfährt: Irans demokratisch gewählter Premierminister Mossadegh ist 1953 von den Geheimdiensten der USA und Großbritanniens gestürzt worden, 1973 hat die CIA geholfen, in Chile Salvador Allende zu beseitigen und anders als von den kriegführenden Regierungen 2003 behauptet, hatte Saddam Hussein keine Massenvernichtungswaffen.

Und es gibt noch eine Verschwörung: Sie hat es in den vergangenen zehn Jahren geschafft, das Vertrauen in die demokratischen Institutionen zu erschüttern, die Freiheiten unserer Demokratie nach Strich und Faden auszunutzen, sie dabei zu untergraben und den Diskurs nach rechts zu verschieben. Sie hat einen politischen Arm im Parlament, der inzwischen zur größten Oppositionspartei geworden ist. Zuletzt ist es ihr sogar gelungen, die Wahl einer Verfassungsrichterin zu verhindern.

Den Hinweis ins Buch zu kleben, war reine Notwehr.

Herzliche Grüße

Ihr Christoph Tiemann

Portrait von Christoph Tiemann

Christoph Tiemann

ist Schauspieler, Kabarettist, Autor und Moderator. Aufgewachsen ist er in Selm. Zum Studium kam er 1998 nach Münster. Seit über 20 Jahren arbeitet er regelmäßig als Autor und Sprecher für den WDR. 2010 gründete er das Ensemble Theater „ex libris“, mit dem er Literaturklassiker wie „Die drei ???“, Sherlock Holmes und Dracula als multimediale Live-Hörspiele auf die Bühne bringt. Für seine Arbeit hat er viele Preise bekommen.

Der Donnerstags-Brief

Jeden zweiten Donnerstag schicken wir Ihnen im Wechsel den Preußen-Brief von Carsten Schulte und den Kultur-Brief von Christoph Tiemann.

Wenn Sie in unseren Texten Fehler finden, freuen wir uns über Hinweise. Die Korrekturen veröffentlichen wir im RUMS-Brief.

Ihnen gefällt dieser Beitrag?

Wir haben Ihnen diesen Artikel kostenlos freigeschaltet. Doch das ist nur eine Ausnahme. Denn RUMS ist normalerweise kostenpflichtig (warum, lesen Sie hier).

Mit einem Abo bekommen Sie:

  • 2x pro Woche unsere Briefe per E-Mail, dazu sonntags eine Kolumne von wechselnden Autor:innen
  • vollen Zugriff auf alle Beiträge, Reportagen und Briefe auf der Website
  • Zeit, sich alles in Ruhe anzuschauen: Die ersten 6 Monate zahlen Sie nur einen Euro.

Wir freuen uns sehr, wenn wir Sie ab heute in der RUMS-Community begrüßen dürfen!

Bitte melden Sie sich an, um zu kommentieren.
Anmelden oder registrieren