Die Kolumne von Kolja Steinrötter | Überlebenswichtig

Porträt von Kolja Steinrötter
Mit Kolja Steinrötter

Guten Tag,

welche Aufgabe hat eigentlich die Kunst? Wenn viele Menschen vor großen, existenziellen Schwierigkeiten stehen, wenn in den Nachrichten Krieg und Leid dominieren und der Ausblick in die Zukunft düster ist, scheint die Beschäftigung mit Kunst vielen unwichtig, überflüssig, Kunst als etwas für die guten Zeiten, in denen man ihren Anblick genießen kann und die Reichen und Schönen sich mit ihr schmücken können. Aber wer so denkt, irrt.

Die Aufgabe von Kunst könnte nicht gegensätzlicher sein. Nur Kunst kann Betrachter:innen oder Leser:innen dazu bringen, Positionen einzunehmen, die ihnen ansonsten für immer verborgen geblieben wären. Bildende Kunst genauso wie Literatur, Film, Theater oder andere Ausdrucksformen.

Wenn Gruppen und Meinungen unvereinbar erscheinen und Menschen keine gemeinsame Sprache mehr finden, kann Kunst Brücken bauen und Verbindungen schaffen. Ein Buch, ein Bild, kann, ohne dabei parteiisch oder belehrend zu sein, Menschen dazu bringen, Dinge mit anderen Augen zu sehen. Plötzlich stehen wir auf der anderen Seite.

Hier geht es nicht um Meinungsverschiedenheiten, sondern um grundlegende, existenzielle Fragen. Vielleicht erinnern wir uns mitten im Streit um Macht, Geld und Gewalt wieder daran, was es bedeutet, menschlich zu sein.

Eine „fleischbemalte“ Flagge

Im Jahr 2015 habe ich eine Ausstellung mit dem dänischen Künstlerinnenduo Hesselholdt & Mejlvang gemacht. Die Show mit dem Titel „The Situation Room“ ist die wichtigste Ausstellung, die ich gezeigt habe.

Der Titel bezieht sich auf den „White House Situation Room“, einen Krisenraum im Keller des Weißen Hauses, in dem der Präsident und seine Berater Krisen im In- und Ausland überwachen. Die Ausstellung greift dieses Konzept auf, allerdings auf eine verdrehte Weise.

Es gibt Objekte, die auf Nationen anspielen, wie eine „fleischbemalte“ Flagge, die mehrere Nationalflaggen kombiniert. Sie stellt die Idee von nationaler Identität und Grenzen infrage.

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In der Ausstellung gibt es häusliche Gegenstände wie Weihnachtsteller, Teetassen und Kissenbezüge, die verzerrt und verändert sind, zum Beispiel durch Einschusslöcher oder gruselige Motive. Diese alltäglichen Dinge wirken plötzlich fremd.

Die Ausstellung verwendet vor allem „Schweinefarbe“, die mit der Hautfarbe von Nordeuropäern assoziiert wird, und spielt so mit nationalen Symbolen und der Frage nach Identität. Die Künstler hinterfragen bekannte Vorstellungen wie das Zuhause als sicheren Ort oder die Nation als Gemeinschaft und zeigen, dass nichts so ist, wie es scheint. „Das Andere“ ist durch seine Abwesenheit spürbar.

Diese Ausstellung hat es geschafft, dass ein überzeugter Rassist oder Nationalist seine Überzeugungen hinterfragt – weil sie ihn unbemerkt zu neuen Fragen und Antworten geführt hat, die sein egoistisches oder engstirniges Weltbild erschüttern können. Wer unter die Oberfläche der menschlichen Existenz geleitet wird, entdeckt unweigerlich Fragmente von Liebe und Mitgefühl wieder.

Es ist kein Zufall, dass in autoritären und faschistischen Gesellschaften neben der freien Presse zuerst die Freiheit der Kunst eingeschränkt wird. Bücher werden verbrannt, Kunstwerke verbannt, als „entartet“ gebrandmarkt oder zerstört.

Kunst, ein unverzichtbares Gegenmittel

Diese Verbote oder beginnenden Angriffe auf die Kunst sind keine Nebensächlichkeit. Sie bereiten den Boden für die, die auf der ganzen Welt versuchen, die Zeit zurückzudrehen.

Egal ob es russische Nationalisten, religiöse Fanatiker weltweit, rechtsextreme Bewegungen in Europa oder Südamerika sind: Die Rechte von Frauen, Gleichberechtigung, Selbstbestimmung, Freiheit und die grundlegenden Voraussetzungen für ein gemeinsames Zusammenleben sind in Gefahr. Kunst ist, wie schon immer, ein unverzichtbares Gegenmittel. Sie bezieht nicht konkret Position (looking at you again, Banksy), sondern löst sie auf und bringt uns als andere Menschen wieder zusammen.

Aber nur wenige Menschen gehen ins Museum, in Kunstvereine, Galerien oder lesen Bücher. Da scheint die Wirkung der Kunst doch nur ein Tropfen auf den heißen Stein zu sein. Natürlich, es wäre schön, wenn der Zugang zur Kunst niedrigschwelliger wäre, wenn institutionelle Kunstorte nicht nur freien Eintritt hätten, sondern ihren Vermittlungsauftrag ernster nehmen würden. Aber es ist schon gut, wenn die Kunst wenige erreicht. Vielleicht kann sie das kommende Unheil nicht aufhalten, aber solange sie nicht vergessen wird, bleibt die Hoffnung auf Menschlichkeit bestehen.

An dieser Stelle wird auch nochmal klar, warum es gute Kunst nicht interessiert, ob sie jemandem gefällt oder ob jemand dafür viel Geld bezahlt. Nur in dem kurzen Moment eines Besitzerwechsels wird Kunst zur Ware, in allen anderen Aggregatszuständen ist sie es nicht. Kunst ist ein Lebensmittel, ein Mittel zum Überleben der Menschheit.

Herzliche Grüße

Ihr Kolja Steinrötter

Porträt von Kolja Steinrötter

Kolja Steinrötter

Kolja Steinrötter, geboren 1974 in Münster, ist unter Künstler:innen und Kunst aufgewachsen, studierte Soziologe und Politikwissenschaft an der hiesigen Universität, trainiert die Fußballfrauen des SV Blau-Weiß Aasee und betreibt seit 2008 eine Programmgalerie am Germania Campus.

Die Kolumne

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