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Die Kolumne von Ludwig Lübbers | Die Odyssee mit meiner Prothese
Guten Tag,
als Mensch mit Behinderung zu leben, ist mit erheblichen Einschränkungen verbunden. Moderne Technologien können helfen, die Lebensqualität zu verbessern. In meinem Fall ist es eine Beinprothese. Ohne sie wäre ich wohl im Rollstuhl gelandet.
Vor 40 Jahren waren Beinprothesen noch sehr einfach konstruiert. Sie glichen Scharnieren, die man beweglich oder steif schalten konnte. Sie waren aus Holz oder aus Eisen und wurden am Stumpf angepasst. In meiner Jugend entschied ich mich für ein steifes Gelenk. Das ist die sichere Variante, denn Stürze sind für mich besonders gefährlich. Weil ich keine Unterarme und Hände habe, kann ich mich, wenn ich falle, nicht abstützen.
Ein steifes Gelenk war damals die einfachste Lösung, allerdings wäre ich damit wohl nicht alt geworden. Für den Bewegungsapparat ist ein steifes Bein nicht gerade förderlich.
Doch ich hatte Glück. Zu Beginn meiner Studienzeit, vor etwa 30 Jahren, machte der Beinprothesenbau große Fortschritte. Aus Kunststoffen und Edelmetallen wie Titan konnte man nun bessere Beinprothesen bauen. Sie waren stabiler, passten besser und hatten eine längere Lebensdauer. Sie waren auch leichter und damit sehr viel komfortabler. Vor allem aber wurden die Gelenk-Mechaniken deutlich besser.
Die Technologie hatte Kinderkrankheiten
Eine Bremse verhinderte, dass die Prothesen bei Belastung einknickten. Eine Ölhydraulik ließ den Unterschenkel nach vorne schwingen, wenn man einen Schritt machte. Gleichzeitig verhinderte sie, dass sich das Gelenk bis zum Anschlag streckte. Diese Technologie machte das Laufen deutlich leichter. Aber sie hatte auch Kinderkrankheiten.
Die Mechanik war anfällig, wenn sie nass wurde oder Sand in die Gelenke geriet. Wenn ich im Sommer verreiste, hatte ich immer eine Ersatzprothese dabei, damit der Urlaub nicht plötzlich endete, wenn die Prothese streikte.
Wenn ich stürzte, verletzte ich mich zum Glück nie. Ich war noch jung, und das Gelenk bremste so stark, dass ich kontrolliert fiel.
Zehn Jahre später machte die Technologie einen weiteren Fortschritt. In den neuen Prothesen waren Prozessoren und Sensoren verbaut. Eine Beinprothese brauchte nun Strom, um eine kontrollierte Bewegung des Gelenks zu steuern. Das bedeutet allerdings auch: Man musste den Akku wie bei einem Handy regelmäßig laden.
Die Technik ist clever. Wenn man einen Schritt nach vorne macht, nehmen Sensoren das wahr und steuern Motoren an, die wiederum den Ölfluss im Gelenk steuern. Sie geben zum Beispiel das Öl im Gelenk frei. So kann das Öl frei fließen und der Oberschenkel kann somit frei durchschwingen.
Die Motoren können die Ventile auch schließen, dann fließt weniger Öl, das dämpft die Bewegung des Gelenks, vor allem dann, wenn die Prothese zum Standbein wird. Ein Sensor im Fuß misst dabei, in welcher Position sich der Unterschenkel der Prothese befindet. Ist er gestreckt und damit Standbein, verringern die Motoren den Ölfluss, damit das Gelenk nicht einknickt.
Tritt man nach vorne, belastet man den Vorderfuß. Dann geben die Sensoren Öl frei, damit der Oberschenkel durchschwingen kann. Aber die Technik hat auch eine Schwachstelle. Eine Vorderfußbelastung kann auch dann entstehen, wenn man auf einen Stein oder eine Bordsteinkante tritt. Dann knickt das das Gelenk unkontrolliert ein, obwohl es eigentlich zum Standbein wird. Wenn man sich nirgendwo festhalten kann, fällt man.
Tanzkurs mit Prothese
Der Hersteller der Prothese hat mich darüber nicht informiert. Ich musste diese Erfahrung also selber machen. Seitdem laufe ich immer vorausschauend. Wenn ich im Urlaub auf dem Campingplatz unterwegs bin, habe ich immer die Beschaffenheit des Bodens im Auge. Seitdem kommen Stürze zum Glück so gut wie gar nicht mehr vor.
Diese Technik hat es mir sogar ermöglicht, einen Tanzkurs zu machen. Seit ungefähr 20 Jahren tanze ich mit diesem Gelenk leidenschaftlich Discofox. Für den Hersteller des Gelenks wäre ich eigentlich ein guter Werbeträger. Auf Messen habe ich dem Unternehmen das schon angeboten.
Wahrscheinlich wundern Sie sich jetzt, warum ich den Namen der Firma nicht nenne, die dieses eigentlich so hervorragende Produkt herstellt. Das liegt daran, dass ich mich seit sechs Jahren mit dem Unternehmen streite. Und das hat leider zur Folge, dass ich das Gelenk bald nicht mehr nutzen kann.
Ich will kurz erklären, wie es dazu kam. Im Jahr 2014 brachte das Unternehmen ein neues Produkt auf den Markt. Ich durfte es zwei Wochen lang testen.
Der Hersteller hatte die Sensorik verbessert. Der Akku lud nun induktiv, nicht mehr über eine Steckverbindung. Auch sonst hatte man sich aus dem Baukasten der Handytechnik bedient. Im Gelenk steckte ein sogenannter Gyrosensor, der unter anderem die Bewegungen überwacht. Es gab nun eine Bluetooth-Schnittstelle und eine Fernbedienung, mit dem man verschiedene Modi auswählen konnte – zum Beispiel einen Fahrradmodus, der den Widerstand des Gelenks reduziert, wenn man in die Pedale tritt.
Das konnte auch mein altes Gelenk. Dazu musste ich drei Mal mit dem Vorderfuß nach vorne wippen. Ich habe die Funktion allerdings nie genutzt, weil ich Angst hatte, ich könnte vergessen, die Einstellung wieder rückgängig zu machen. Dann wäre ich nämlich gefallen.
Bluetooth-Signal ließ sich nicht abschalten
Ich fahre daher schon immer ohne Fahrradmodus. Das Gelenk hatte es mir bislang nicht übel genommen. In der Textphase irritierten mich jedoch zwei Dinge: Das Bluetooth-Signal ließ sich nicht abschalten, und ich konnte den PIN-Code nicht verändern.
Man konnte also jederzeit über einen Computer oder ein Handy eine Verbindung aufbauen. Der PIN-Code war nicht schwer zu erraten. Er lautete: 0000.
Auch der Bluetooth-Name des Gelenks ließ sich nicht verändern. Die Prothese wurde auf jedem Geräte im Umkreis von 30 Metern angezeigt. Mein Nachbar hätte theoretisch also immer sehen können, wenn ich zu Hause war.
Die Vorstellung, dass irgendwer ohne großen Aufwand den Fahrradmodus aktivieren kann, machte mich skeptisch. Angenommen, man sitzt mit vielen hundert Menschen in einem Biergarten. Dann kann jeder dieser Menschen eine Verbindung zu meiner Beinprothese aufbauen. Es könnte auch vorkommen, dass ein Mensch mit der gleichen Prothese aus Versehen eine Verbindung zum falschen Gelenk aufbaut.
Das alles wirft nicht nur technische Fragen auf. Es ist auch ein datenschutzrechtliches Problem.
Ich fragte mich, wie das passieren konnte. So eine Prothese wird ja gründlich überprüft, bevor es zugelassen wird.
Das Bluetooth-Problem war immer noch da
Ich meldete mich damals bei Reiko Kaps, einem Redakteur der Computerzeitschrift CT. Ich erklärte ihm, was ich entdeckte hatte. Er bestätigte meine Bedenken.
In Versuchen kam heraus, dass es möglich war, die Prothese mit Hilfe einer Software vibrieren zu lassen. Wenn man so ein Gelenkt trägt, möchte man daran nicht denken.
Ich hatte mich abgesichert. Das war mir wichtig. Wenn ich mich mit so einem Problem an das Unternehmen wandte, wollte ich, dass alles stimmt, was ich sage. Ich schickte der Firma ein mehrseitiges Schreiben, in dem ich die Probleme beschrieb.
Der Schritt fiel mir nicht leicht, aber ich war der Meinung, er war notwendig. Sehr wahrscheinlich betraf er ja auch andere Menschen mit dieser Prothese.
Die Krankenkasse bezahlt alle sieben Jahre eine neue Prothese. Meine alte war damals sechs Jahre alt. Es blieb also noch Zeit. Ich hoffte, dass die Probleme würden sich bis dahin lösen. Doch das passierte nicht. Das Bluetooth-Problem war immer noch da.
Mich wunderte, dass die Aufsichtsbehörden nichts unternahmen. Man konnte die Prothese weiterhin kaufen, obwohl sie die gesetzlichen Vorgaben offensichtlich nicht erfüllte. Ein weiteres Jahr später löste das Unternehmen das Problem so, wie ich es vorgeschlagen hatte.
Das war gut. Doch jetzt gab es ein neues Problem. Kurz nachdem ich das Gelenk im Sommer 2015 bekommen hatte, stürzte ich. Als ich aus dem Auto aussteigen wollte, knickte die Beinprothese unkontrolliert ein. Ich brach mir das Schlüsselbein.
Ein ärgerlicher Unfall, vor allem, weil er in meinen ersten Urlaubstagen passierte. Der Urlaub war damit zu Ende.
Sturz vor den Augen der Schulleiterin
Anfangs dachte ich, ich hätte einfach Pech gehabt. Wenn man eine Prothese verwendet, lebt man ja nun mal mit einem gewissen Risiko.
Es ging mir bald besser, doch nach acht Wochen stürzte ich wieder – diesmal im Lehrerzimmer, vor dem Augen meiner Schulleiterin.
Ich wollte von einem Stuhl aufstehen, machte eine Drehung nach rechts. Im Nachhinein war mir klar, was passiert war. Das Gelenk hatte das Bein zum Durchschwingen freigegeben, aber das sollte in diesem Moment nicht passieren. Denn die Prothese war mein Standbein.
Man konnte die Sensorik der neuen Prothese also anscheinend überlisten. Diese Erkenntnis bezahlte ich mit einem weiteren Schlüsselbeinbruch. In den kommenden drei Monaten stürzte ich mehrere Male beinahe und ungefähr sechs Mal tatsächlich.
Alle Stürze schienen damit zu tun zu haben, dass ich mich um die eigene Achse gedreht hatte.
Das Sanitätshaus versuchte, etwas an den Einstellungen zu ändern, doch das Problem blieb. Ich wies das Sanitätshaus und den Hersteller darauf hin. Allerdings mit wenig Erfolg.
Der Patientenbeauftragte des Landes Nordrhein-Westfalen empfahl mir, einen Anwalt einzuschalten. Ich wollte erreichen, dass mir wenigstens meine Schäden ersetzt werden.
Der Prothesen-Hersteller lud mich und Beschäftigte des Sanitätshauses in das sogenannte Ganglabor des Unternehmens ein. Man hänge mich in ein Sicherheitsgeschirr, um die Stürze nachzustellen. So stellte man fest, dass das Gelenk das Bein tatsächlich zum Durchschwingen freigab, wenn ich mich um die eigene Achse drehte.
In einer schriftlichen Stellungnahme sprach das Unternehmen von einer „Zweckentfremdung“ des neuen Gelenks. Man bot mir 7.000 Euro Entschädigung an, allerdings nur, wenn unter der Bedingung, dass ich eine Schweigepflichtserklärung unterschrieb.
Doch das wollte ich nicht. Das Geld löste mein Problem nicht, aber das war dringend nötig, denn ich war auf das Bein angewiesen. Und eines machte mich stutzig: Mit dem alten Gelenk konnte ich Discofox tanzen. Mit dem neuen stürzte ich schon, wenn ich vom Stuhl aufstand und mich drehte.
Der Zufall kam zur Hilfe
Das neue und im Preis viel teurere Gelenk schien nicht so sicher zu sein wie das alte. Ich fing an, zu recherchieren. Ich telefonierte mit Behindertenverbänden in ganz Deutschland und fand heraus, dass es auch andere Menschen gab, die mit dem Gelenk ähnliche Erfahrungen gemacht hatten.
Auch das Unternehmen schien mit dem Problem schon öfter zu tun gehabt zu haben. Ich hörte von anderen Fällen, in denen Menschen Schweigepflichtserklärungen unterschrieben hatten. Einmal kam mir der Zufall zur Hilfe.
Eine Kollegin aus meiner Schule erzählte mir, dass ihre Schwiegermutter mit ihrer Beinprothese gestürzt war, als sie eine Freundin umarmen wollte.
Es stellte sich heraus, dass sie dieselbe Prothese nutzte wie ich. Bei dem Sturz brach sie sich den Oberschenkelhals. Ich war anscheinend nicht die einzige Person, die sich mit der Prothese verletzt hatte.
Wie kann es sein, dass so etwas passiert? Wie kann es sein, dass der Hersteller das Problem nicht löste, obwohl es doch bekannt war. Ich weiß es nicht. Eine Antwort hat mir das Unternehmen nicht gegeben.
Seit etwas sechs Jahren stellt der Hersteller mir das alte Gelenk zur Verfügung. Doch der Service ist im Sommer abgelaufen.
Das neue Gelenk liegt beim Sanitätshaus. Ich warte darauf, dass es verbessert wird. Aber das ist bis heute nicht passiert.
Es blieb das Gefühl der Ohnmacht
Ob der Hersteller das Gelenk nicht verbessern kann oder es nicht will, kann ich nicht beurteilen. Er möchte nun das alte Gelenk zurück. Es ist eine Leihprothese. Aber er stellt mir kein verlässliches Nachfolgemodell zur Verfügung.
Ich habe den Hersteller auch jetzt noch einmal gefragt, bekam aber keine Antwort. Natürlich, ich könnte die Prothese eines anderen Herstellers testen, aber auch das wäre ein Risiko. Auch dieses Produkt könnte Schwächen haben. Ich könnte wieder stürzen.
Am Ende bleibt das Gefühl der Ohnmacht. Es fühlt sich an wie die Geschichte von David gegen Goliath. Ich bin wahrscheinlich nicht der einzige Mensch, dem es so geht.
Ich habe mich entschieden, das alte Gelenk nun so lange zu tragen, bis es nicht mehr funktioniert. Immerhin hat dieses Produkt mich nun schon seit 20 Jahren sicher begleitet.
Wenn der Hersteller das Gelenk nicht doch noch verbessert, weiß ich nicht, wie ich in Zukunft meinen Arbeitsplatz erreichen soll. Das würde mich vor ein großes Problem stellen.
Eine kleine Hoffnung bleibt, dass sich doch noch eine Lösung findet – dass der Hersteller das Problem löst oder vielleicht zuerst die Bereitschaft zeigt, das Problem lösen zu wollen. Ich würde mich sehr darüber freuen. Und ich würde auch gern dabei helfen.
Herzliche Grüße
Ihr Ludwig Lübbers
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Ludwig Lübbers
… hat an der Uni Münster Mathematik und Sozialwissenschaften studiert und anschließend das Referendariat absolviert. Heute arbeitet er als Lehrer am Freiherr-vom-Stein-Gymnasium. Von 1997 bis 2000 initiierte und betreute er das Projekt „Handicap im Internet“, eine Plattform, auf der sich Menschen mit Behinderung vernetzen und austauschen konnten. In der städtischen Kommission zur Förderung der Inklusion (KIB) setzt er sich heute für die Interessen von Menschen mit Behinderungen in Münster ein. 2021 veröffentlichte er sein erstes Buch: „L’Ultima Spiaggia – Meine letzte Hoffnung“. In seinen RUMS-Kolumnen schreibt er über Barrieren und Barrierefreiheit, über den Alltag von Menschen mit Behinderung und über Inklusion in Münster.
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