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Die Kolumne von Marion Lohoff-Börger | Durch 10 Irrtümer zum Wunschwissen über Masematte
Der Weg des Paradoxes ist der Weg zur Wahrheit. Um die Wirklichkeit zu prüfen, muss man sie auf dem Seil tanzen lassen.
Oscar Wilde (1854-1900)
Guten Tag,
bevor ich meine Vorträge zum Thema Masematte beginne, kommen oft Teilnehmende auf mich zu, um mir vorab zu erklären, was ihrer Meinung nach „diese Masematte“ sei. Das scheint ihnen enorm wichtig zu sein. Und es geht dabei nicht um ihre persönliche Meinung, sondern um die allgemeingültige Wahrheit über die Hintergründe von Münsters altem Kulturgut, die mir in letzter Minute mitgeteilt werden muss. Und auch wenn die Theorien mit noch so viel Überzeugung dargebracht werden, es handelt sich in den meisten Fällen um Irrtümer mit paradoxem Charakter. Ich ziehe nichtsdestotrotz einen guten Nutzen daraus, denn ich erfahre aus erster Hand, was an aktuellen Fehlurteilen und alten Legenden über die Masematte im Umlauf ist.
Hier also meine Top 10 der Irrtümer in Sachen Masematte. Ich möchte sie heute widerlegen und Ihnen deutlich machen, was das vielschichtige Sprachgut tatsächlich ist.
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Irrtum Nr. 1
„Masematte ist das Platt, das in Münster gesprochen wird!“
Das ist eine gängige Definition und ein Zitat von niemand geringerem als Prof. Dr. Börne aus dem münsterschen Sonntagabend-Tatort. Bemerkenswert, woher die Menschen aus einer Universitätsstadt ihr Wissen haben. Prof. Dr. Börne hat aber leider, leider unrecht. Die Masematte ist kein Platt. Platt ist Niederdeutsch und das Niederdeutsche ist eine eigene Sprache mit verschiedenen Dialekten. Masematte ist kein Dialekt, sondern eine Sondersprache. Ein Dialekt hat eine eigene Grammatik. Die Wörter in einem Dialekt werden gebeugt und mit ein bisschen sprachlichem Feingefühl kann der Nichtkundige häufig erraten, um welchen Inhalt es sich bei dem Wort handelt. Beispiel kieken für gucken im Plattdeutschen. Bei der Masematte ist das anders: Roinen für gucken klingt fremd in unseren Ohren, weil es von dem jiddischen Wort rojenen stammt. Sondersprachenersetzen einzelne Wörter einer Grundsprache durch neue, fremde Wörter. Ein ähnliches Prinzip wie bei Jugendsprachen. Die Masematte hat circa 600 uns heute bekannte Wörter, keine Grammatik und keine Rechtschreibung, weil sie nur mündlich weitergegeben wurde.
Irrtum Nr. 2
„Ich kann Masematte. Ich kann ‚Das Rotdohlinchen‘ auswendig.“
Das ist selbstverständlich eine tolle Sache, wenn man „Das Rotdohlinchen“ sogar auswendig kann. Ich tippe beim Ursprung auf den Bildungsträger Waldorfschule in Gievenbeck, denn dort hat es meines Wissens eine engagierte Lehrerin gegeben, die regelmäßig mit ihren Schüler:innen die Masematte erarbeitet hat. „Das Rotdohlinchen“ ist das Märchen vom Rotkäppchen aus der Feder von Wolfgang Schemann. Bei dieser Märchenübersetzung handelt es sich um eine Kunstform der Masematte, die Sprachwissenschaftler:innen Pseudomasemattenennen. Dazu gehören auch sehr beliebte Ausdrücke wie: Transpanimurmelbeis für Überwasserkirche oder Tackoachilenkabache für Imbiss.
Vor mindestens jeder zweiten meiner Lesungen kommt jemand auf mich zu, um mich zu testen, ob ich diese Worte verstehe. Doch mit der ursprünglichen Masematte haben diese Ausdrücke wenig zu tun. Diese Masematte-Neologismen stammen von akademisch gebildeten Münsteraner:innen, die gerne, wie es auch in der deutschen Sprache gang und gäbe ist, aus einzelnen Wörtern ein sehr langes bilden, um ihre Sprachgewalt unter Beweis zu stellen. Je länger ein Wort, desto verwirrender für das Gegenüber. Ein alter und gängiger Trick der vermeintlich Alteingesessenen, um Zugezogenen zu zeigen, wer hier das Sagen hat (im wahrsten Sinne des Wortes).
Auch beim Wort Rotdohlinchen sehen wir die typische Art der Wortbildung, die sprachlich gebildete Leute nutzen, um sie für ihre Zwecke zu nutzen (Stichwort: kulturelle Aneignung!). Rot bezeichnet im Deutschen die Farbe, dafür gibt es kein Pendant in der Masematte; dohlinchen aber ist eine Verkleinerungsform von dohling, dem Hut oder der Mütze. Das chen ist eine Übertragung von Käppchen. Also haben wir es hier mit einer linguistischen Transferleistung zu tun, die sich am Deutschen orientiert und nicht an einer der Spendersprachen der Masematte, wie beispielsweise das Jiddische oder das Romanes eine wäre.
Irrtum Nr. 3
„Masematte haben die holländischen Bauarbeiter, die den Kanal gebaut haben und in Klein-Muffi wohnten, nach Münster gebracht.“
Woher dieser Tinnef (Unsinn) kommt, weiß ich bis heute nicht. Ich tippe nach meinen persönlichen Recherchen zufolge auf jemanden, der in Klein-Muffi/Mochum Stadtführungen durchführte. Fakt ist: In der Masematte findet sich kaum ein niederländisches Wort und die Öle (der Kanal) wurde definitiv fünfzig Jahre nach der Entstehung der Masematte gebaut, nämlich um 1900. Die Masematte entstand nachweislich aber schon vorher, und zwar Mitte des 19. Jahrhunderts.
Irrtum Nr. 4
„Masematte ist eine Männersprache.“
Dieser Irrtum gehört definitiv zu einer meiner Lieblingsparadoxien im Umgang mit der Masematte. Paradox ist nämlich, dass Frauen, die Masematte im Gebrauch haben, der festen Überzeugung sind, dass Masematte eine Männersprache sei und sie selbst ihrer nicht mächtig seien. Wie kann das sein? Da hat sich offensichtlich ein Grundsatz tief eingegraben. Eine Erklärung: Masematte wird und wurde immer schon unbewusst gesprochen. Wie oft melden mir Zuhörer:innen nach meinen Vorträgen zurück, dass sie so viele Wörter aus der Masematte in ihrem Sprachgebrauch haben, derer sie sich nicht bewusst sind. Trotzdem folgt man diesem Credo, dass Masematte eine Männersprache ist.
Zweite Erklärung: Frauen wurden bei wissenschaftlicher Erfassung nicht befragt. Selbstverständlich hätten die Großmütter, Mütter und Töchter genauso Masematte gesprochen wie ihre Männer, Söhne und Enkel. Das wird mir unisono von älteren Menschen aus der Umgebung berichtet. Aber offensichtlich gingen Frauen nicht damit hausieren, mussten sich nicht profilieren oder auf der Straße behaupten. Wenn nur Männer aufgrund einer falschen Annahme bei wissenschaftlichen Studien befragt wurden, ist es kein Wunder, wenn sich dieser Irrtum bestätigt. Schade ist, dass wir dadurch vermutlich den gesamten Wortschatz zu innerhäuslichen Aktivitäten und Alltagsthemen verloren haben.
Irrtum Nr. 5
„Masematte ist eine Geheimsprache.“
Geheimsprachen faszinieren. Alle, die man mit Geheimsprachen konfrontiert, sind sofort interessiert. Alle wollen den Code knacken. Man will wissen, was sich dahinter verbirgt, das Rätsel lösen, was das gleiche Phänomen ist wie beim Lesen eines Krimis.
Aber der Titel Geheimsprache, so sehr er die Masematte auch schmückt und interessant macht, ist nicht korrekt. Denn die Funktion von Geheimsprachen ist die Verdunklung von Tatsachen. Wenn wir die Masematte als Geheimsprache betiteln, handelt es sich um die Kriminalisierung einer ganzen Sprecher:innengruppe. Wenn man die Masematte als Geheimsprache betitelt, ist das ein klarer Fall von Fremdzuweisung der bürgerlich geprägten Stadtgesellschaft, die die Masemattesprecher:innen diskriminiert.
Irrtum Nr. 6
„Masematte ist die Geheimsprache jüdischer Viehhändler und Ganoven in Münster und Umgebung, die sie für ihre Gaunereien einsetzten.“
Das ist nach meinem heutigen Erkenntnisstand blanker Antisemitismus, den ich hoffentlich nicht weiter erläutern muss.
Irrtum Nr. 7
„Ich kenn‘ einen, der einen kennt, der kann fließend Masematte sprechen!“
Das höre ich immer wieder. Voller Stolz, einen solchen Menschen in seinem Umfeld zu haben, muss dieses Wissen mit mir geteilt werden. Und ich muss Sie, liebe Leser:innen, enttäuschen, denn bisher wurde dieser Mensch noch nicht gefunden. Und überhaupt, wenn das wirklich stimmen sollte, möchte ich diese Person nicht zu einem Plausch bei Kaffee und Kuchen zu mir nach Hause einladen. Denn mit jemandem, der mit 600 Wörtern auskommt, von denen viele sexistisch, homophob und frauenfeindlich sind, ist es schwierig, sich zu unterhalten. Und wenn die Sprache hauptsächlich aus Substantiven und Verben besteht und Wörter wie „Danke“ oder „Guten Tag“ fehlen, würde das die gesamte Kommunikation doch recht anstrengend machen.
Irrtum Nr. 8
„Nur Menschen, die im Stadtgebiet Münsters geboren sind und dort leben, können Masematte sprechen.“
Der Sprachgebrauch der Masematte endet nicht an den Grenzen von Münster. Im gesamten Münsterland findet man ein Gemisch aus Masematte und Plattdeutsch. Und zwar wegen des mobilen Handels in den letzten hundertfünfzig Jahren und weil Leute von Münster in die Umgebung gezogen sind und umgekehrt. Masematte ist immer schon eine Sprache gewesen, die unbewusst gesprochen wurde. Deswegen glauben viele im Münsterland, ihre Umgangssprache sei vom Plattdeutschen geprägt. Kaline (Frau), Leeze (Fahrrad) oder jovel und schofel (gut und schlecht) werden nicht den Einflüssen der Masematte zugeschrieben. Ein schönes Beispiel, das vielen Münsterländer:innen bekannt ist, ist unser Koten für das jüngste Geschwisterkind, meist ein Bruder. „Unser Koten geht jetzt auch endlich zur Schule“ wäre ein typischer Satz. Tja, die Exklusivität, die uns Münsteraner:innen die Masematte bisher bot, müssen wir leider aufgeben. Genauso verhält es sich beim nächsten Irrtum.
Irrtum Nr. 9
„So etwas wie die Masematte haben wir nur in Münster!“
Ja, ich gebe es zu, so eine Aussage passt wunderbar zu der weit verbreiteten Ansicht, dass wir in Münster etwas ganz Besonderes sind. Wir lieben unsere Stadt über die Maßen und posaunen unsere Einzigartigkeit gerne in die Welt hinaus. Da kommt uns das Phänomen einer vermeintlich alten Gaunersprache aus den dunklen Vierteln der Stadt gerade recht, um den vielschichtigen Charakter Münsters herauszukehren. Das ist so ähnlich, wie wenn man in der Familienchronik einen Onkel hat, der mal im Knast saß.
Doch parallel zu Münster haben sich Sondersprachen vor gut 150 Jahren in anderen Städten Deutschlands entwickelt. Nomadisch lebende Menschen haben etwa in Minden „Buttjersprache“ oder in Gießen das „Manische“ gesprochen.
Irrtum Nr. 10
„Die Masematte ist tot.“
Damit ist gemeint, dass in Münster nur noch die Kunstformen existieren, etwa bei Karnevalsveranstaltungen oder in Printmedien. Wirklich gesprochen würde die Masematte nicht mehr. Ich persönlich kann sagen, dass ich viele unterschiedliche Menschen kenne, die Masemattewörter in ihrem alltäglichen Sprachgebrauch unbewusst integriert haben. Neben dieser großen Gruppe gibt es ältere Menschen, die Masematte bewusst in ihrem Umfeld nutzen oder auch sehr junge Menschen. Sogar in der Fußballszene um Preußen Münster blüht die Sondersprache hier und da wieder auf. Ich wage mal die These, dass die meisten Münsteraner:innen vier bis zehn Masemattewörter kennen und vielleicht sogar aktiv nutzen. Hier ein kleiner Test am Ende meiner Kolumne:
In Münster peseln die Kaline und der Seegers, auch wenn es meimelt, mit der Leeze zur Maloche.
Ich hoffe, dass ich Ihnen heute mit den Paradoxien und Irrtümern über die Masematte eine informative wie unterhaltsame Sonntagslektüre bescheren durfte. In diesem Sinne:
Hamel Massel (viel Glück) und eine jovle (gute) Zeit …
Ihre Marion Lohoff-Börger
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Marion Lohoff-Börger
… ist die Frau mit der Masematte und den alten Schreibmaschinen. Auf letzteren schreibt sie Gedichte und verkauft diese in ihrem Atelier an der Wolbecker Straße 105 als Postkarten. Die Masematte möchte die freie Autorin in Münster zu einem lebendigen Sprachdenkmal machen und versucht, dieses mit Kursen, Vorträgen, Lesungen, Büchern und Artikeln für Zeitungen und Onlinemagazine umzusetzen. 2021 stellte sie beim Land Nordrhein-Westfalen den Antrag „Masematte als Immaterielles Kulturerbe“, der abgelehnt wurde mit dem Hinweis, die Stadtgesellschaft Münster müsse sich noch mehr für dieses Kulturgut engagieren.
Die Kolumne
Immer sonntags schicken wir Ihnen eine Kolumne. Das sind Texte, in denen unsere acht Kolumnistinnen und Kolumnisten Themen analysieren, bewerten und kommentieren. Die Texte geben ihre eigene Meinung wieder, nicht die der Redaktion. Mitgliedschaften in politischen Parteien oder Organisationen machen wir transparent. Wenn Sie zu den Themen der Kolumnen andere Meinungen haben, schreiben Sie uns gern. Wenn Sie möchten, veröffentlichen wir Ihre Zuschrift im RUMS-Brief. Wenn Sie in unseren Texten Fehler finden, freuen wir uns über Hinweise. Die Korrekturen veröffentlichen wir ebenfalls im RUMS-Brief.
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