Die RUMS-Kolumne von Michael Jung | Auf dem Weg nach Florida?

Porträt von Michael Jung
Mit Michael Jung

Guten Tag,

das Jahr geht mit schnellen Schritten zu Ende, und es ist wieder Zeit für die Bilanzen. Auch für Städte gibt es dieser Tage wieder jede Menge Rankings. Das Interessante daran ist meist nicht die Platzierung, weil die doch meist recht willkürlich ausfällt, als vielmehr das, was die dahinter liegenden Studien inhaltlich über die Situation der Städte herausgearbeitet haben.

So hat zum Beispiel dieser Tage die Wirtschaftswoche ein Ranking veröffentlicht und dabei als Stärken einer bekannten NRW-Großstadt Folgendes herausgearbeitet: Es erfolgen dort viele Unternehmensgründungen, es gibt jede Menge wissensintensive Dienstleistungen, es werden viele Patente angemeldet, viele Unternehmen sind stark im Bereich der Nachhaltigkeit, und der Gewerbesaldo ist positiv – es entstehen mehr neue Unternehmen, und es ziehen mehr Firmen in die Stadt als umgekehrt.

Das ist ein Profil, das nach ganz guten Zukunftsperspektiven klingt. Sie haben es vermutlich gleich erraten, um welche Stadt es sich handelt. Genau, das ist das Profil von Essen. Eine Stadt, auf die man bei uns in Münster gerne mal etwas herabschaut, weil sie ja im Ruhrgebiet liegt und natürlich auch Schwächen hat: eine höhere Arbeitslosigkeit, gerade auch bei Jüngeren und entsprechend mehr Transferleistungsbezug zum Beispiel.

Dafür bietet die Stadt bezahlbare Mieten und Kaufpreise. Alles in allem kann man aber sagen: Es ist das Profil einer Stadt, die erkennbar den Strukturwandel meistert und sich gute Perspektiven für die Zukunft hart erarbeitet hat. Interessant wird es, wenn man das Profil von Essen mit dem von Münster im gleichen Ranking vergleicht.

Vielleicht überraschend, Münster hat auch Schwächen

Als Stärken Münsters werden da geführt: eine niedrige Arbeitslosigkeit, auch bei Jüngeren, und eine entsprechend geringe private Überschuldung. Hinzu kommen die meisten Hotelübernachtungen bezogen auf die Einwohnerzahl und ein positiver Pendlersaldo – es kommen mehr Leute zum Arbeiten in die Stadt als herausfahren. Außerdem ist das Fahrradklima positiv.

Für regelmäßige Leser:innen der Westfälischen Nachrichten überraschend, die Wirtschaftswoche kennt auch Schwächen Münsters: eine geringe Zahl von Ingenieur:innen, hohe Miet- und Immobilienpreise, eine hohe Zahl von Abwanderungen von Menschen und verhältnismäßig viele Straftaten, verbunden mit einer sehr niedrigen Aufklärungsquote. Das ist ein interessantes Profil unserer Stadt, das der weit verbreiteten Selbstzufriedenheit so gar nicht entspricht. Schauen wir mal auf die Fakten.

Dass Münster eine Stadt ist, in die viele Menschen zur Arbeit einpendeln, ist als Oberzentrum und Solitärstadt zunächst einmal wenig überraschend und sicher keine neue Entwicklung. Wer morgens zur Rush Hour auf den Ausfallstraßen oder in den Zügen unterwegs ist, kennt das Phänomen.

Münster hat ein großes Einzugsgebiet und profitiert vom Umland. Dass Münster auch als Ausflugsziel für Tagestourist:innen und für Städtereisende attraktiv ist, belegen die Übernachtungszahlen: Im letzten Jahr stiegen sie um 26 Prozent auf fast zwei Millionen. Das sind über 5.000 Übernachtungsgäste pro Tag in der Stadt, eine beachtliche Zahl, die sich auch in neuen Hotels niederschlägt. Die Hotelbranche floriert.

Dass Münster wegen neuer Fahrradstraßen beim ADFC-Fahrradklimatest wieder auf Platz eins gelangt ist, wurde bereits so ausführlich abgefeiert, dass wir hier nicht mehr darauf eingehen müssen.

Aufklärungsquote auf niedrigem Niveau

Schauen wir auf die Schwächen. Da dürfte das Merkmal hoher Kriminalität am überraschendsten sein, weil es im Kontrast zur gefühlten Sicherheit steht. Und jahrelang war das Mantra: Klar, das sind die vielen Fahrraddiebstähle. Stimmt aber nicht.

Die polizeiliche Kriminalstatistik zeichnet für Münster ein durchaus beunruhigendes Bild: So haben die „Rohheitsdelikte“, also Körperverletzungen, Bedrohungen und Nachstellungen, im letzten Jahr um rund 15 Prozent zugenommen, Sexualdelikte um 16 Prozent. Wohnungseinbrüche stiegen um 20 Prozent, die Zahl der Straftaten insgesamt ging um 9 Prozent nach oben. Knapp die Hälfte davon sind weiterhin Eigentumsdelikte, 30 Prozent Fahrraddiebstähle. An der Aufklärung hapert es weiter: Bei den Wohnungseinbrüchen wird weniger als jeder Fünfte aufgeklärt.

Bei den Rohheitsdelikten werden vier von fünf aufgeklärt, und insgesamt wird nur bei gut jeder zweiten Straftat in der Stadt ein Täter ermittelt. Zwar ist die Tendenz bei der Aufklärungsquote leicht positiv, aber sie bleibt auf einem verhältnismäßig niedrigen Niveau. Davon hört man wenig in der Stadt, vor allem von der medial so präsenten Polizeipräsidentin. In jedem Fall ist die Kriminalitätsstatistik in Münster ein gutes Beispiel für die gern ausgeblendeten Fakten im Profil der Stadt.

Auch wenn man das Stärkenprofil der Stadt Münster mit dem Essens vergleicht, dann wirken die Stärken gar nicht mehr so stark: Die Stadt entwickelt sich zum Tourismusziel und es gibt schöne Radwege, und nebenan im Ruhrgebiet entstehen Profile mit Patenten und wissensbasierten Dienstleistungen.

Wenn dann in Münster noch hohe Mieten und Immobilienpreise dazukommen und eine verstärkte Abwanderung von Menschen im berufstätigen Alter (was zusammenhängen dürfte), dann entsteht ein interessantes Bild der Stadt.

Eldorado für Pensionär:innen

Dazu passt, dass Münster fast zeitgleich in einem anderen Ranking Platz eins belegte: Münster ist die attraktivste Stadt in Deutschland für Senior:innen. In diesem Ranking konnte Münster mit viel Grün, guten Naherholungsmöglichkeiten und einer sensationellen Ärztedichte punkten. Im Grunde bestätigt dieses Ranking dasselbe Profil, das auch die Wirtschaftswoche herausgearbeitet hat.

Fasst man es zusammen, so kann man sagen: Münster entwickelt sich in eine ganz andere Richtung als Essen. Während dort, aus schwierigen Rahmenbedingungen des Strukturwandels kommend, zunehmend zukunftsfähige Jobs entstehen und Menschen dort Wohnung und Arbeit finden, wird Münster zum Eldorado vermögender Pensionär:innen und Privatiers.

Mit dem Fahrrad zum Markt, dort ein kleiner Piccolo, dann noch etwas ins Grüne, und wenn die Pumpe mal nicht mitmacht, ist der Kardiologe des Vertrauens gleich ums Eck. Dank hoher Mieten und Kaufpreise bleibt das vermögende Publikum bald unter sich, man muss sich die Stadt leisten können. Wer hier noch arbeitet, der darf bald einpendeln, denn vom Arbeitseinkommen kann man sich das Wohnen kaum leisten. Das einzig Unangenehme ist, dass auch die Straftäter wissen, dass in den Penthouses und Lofts was zu holen ist. Willkommen im Florida Westfalens.

Diese Entwicklung ist nicht neu, aber die neuen Rankings bestätigen sie erneut in aller Deutlichkeit. Die Stadt verändert sich massiv, sie wird teurer, reicher, älter und punktet vor allem mit ihrem hohen Freizeitwert. Gearbeitet wird anderswo. Das ist das Ergebnis einer Wirtschaftspolitik, die seit Jahren Wirtschaftsförderung mit Stadtmarketing verwechselt.

Hübsche Wohlfühlveranstaltungen wie das Hansemahl (den unerträglichen Skandal fehlender Schinkenschnittchen mal ausgeblendet), Reitturniere, Weinfeste, Stadt(teil)feste und Weihnachtsmärkte florieren ebenso wie der Tourismus. Sie sehen es jederzeit in der engeren und weiteren Innenstadt: Die Gastronomie ist zu jeder Tageszeit gut nachgefragt, auch in den Zeiten, die anderswo Kernarbeitszeiten genannt werden.

Kaum Flächen für Neuansiedlungen

Münster ist auf dem Weg zur Freizeitwirtschaft. Das ist nicht verwerflich – es gibt ganze Regionen, die gut davon leben. Es ist eben nur ganz etwas anderes als das, was sich die Stadt selbst vor 20 Jahren mit dem damaligen Motto „Wissenschaft und Lebensart“ auf die Fahnen geschrieben hatte.

Damals wollte man nicht nur mit guten Lebensbedingungen punkten, sondern eben auch als Stadt, die wissensbasierte Wertschöpfung in den Mittelpunkt ihrer Wirtschaftsförderungspolitik stellte und entsprechende Cluster entwickeln wollte. Davon ist die Stadt ein ganzes Stück weit abgekommen.

Zwar ist es gelungen, in der Batterieforschung den Zuschlag zu erhalten, aber in der Breite sieht es schwieriger aus. Die Gründe sind einfach zu benennen: Es gibt kaum noch Flächen für die Ansiedlung neuer Unternehmen oder für die Erweiterung von bestehenden – seitdem mit dem Batterieforschungszentrum auf einen Schlag ein erheblicher Teil der zur Verfügung stehenden Gewerbeflächen belegt wurde, wurden planerisch kaum neue entwickelt.

Im Gegenteil, manche prominente Vertreter der Wirtschaftselite sind inzwischen aus ihrem ererbten Unternehmen ausgestiegen und machen jetzt auf Immobilien – der Trend zur Feudalisierung des Wirtschaftsbürgertums ist hier auch unverkennbar.

Die hohen Immobilienpreise und die faktisch nicht mehr vorhandenen bezahlbaren Mietwohnungen wirken inzwischen als ernsthafte Wirtschaftsbremse. Welche Auszubildenden und Fachkräfte will man gewinnen, wenn man Tariflohn zahlt und in Münster nach Abzug der Wohnkosten kaum was fürs Leben übrig bleibt – nebenan in Essen oder anderswo aber schon?

Das gilt übrigens entsprechend für die Hochschulen: Seit Jahren – und nicht wegen Corona – steigt der Anteil der Studierenden, der zum Studium einpendelt und nicht mehr in der Stadt wohnt. Die überteuerten und knappen WG-Zimmer und Wohnungen sind etwas für die Kinder aus vermögenden Familien, wer weniger reiche Eltern hat, pendelt zur Hochschule ein. Auch das verstärkt den Trend der Stadt, reicher, älter und satter zu werden.

Sie möchten dieses Thema mit anderen Leser:innen diskutieren oder uns Hinweise geben

Nutzen Sie einfach unsere Kommentarfunktion unterhalb dieses Textes. Wenn Sie diese Kolumne gerade als E-Mail lesen, klicken Sie auf den folgenden Link, um den Text auf unserer Website aufzurufen:

diese Kolumne kommentieren

Mit dem unzureichenden und seit fünf Jahren noch dazu verschlechterten öffentlichen Nahverkehr werden in Zukunft allerdings sicher weniger Pendler:innen zu gewinnen sein. Während Münster seine Qualitäten bei Tourismus und Lebensart ausbaut, fällt es bei Arbeit und harten wirtschaftlichen Standortfaktoren deutlich zurück.

Noch ist Zeit, sich nicht nur über die zweifellos vorhandenen Stärken zu freuen, sondern auch an den Schwächen zu arbeiten. Es braucht neue und bezahlbare Wohnungen, neue Gewerbeflächen und ein ernsthaftes politisches und planerisches Interesse an neuen zukunftsfähigen Arbeitsplätzen.

Ansonsten dürfte Münster in den nächsten Jahren sein Gesicht deutlich verändern: Es wird noch mehr zu einer Stadt, die in erster Linie von Menschen mit Vermögen lebt, die nicht für ihr Geld arbeiten müssen und in großen Wohnungen oder Häusern zu hohen Preisen leben können. Drumherum eine Wirtschaft, die diesen Menschen Dienstleistungen in der Freizeitwirtschaft und im Gesundheitssektor anbietet und hochpreisige Shopping-Angebote macht, wobei die Beschäftigten meistens aus dem zum Wohnen noch preiswerteren Umland einpendeln werden. Und eine Stadt, in der andere dann auch mal Kurzurlaub machen und es sich gut gehen lassen wollen.

Aber soll Münster wirklich so werden? Wäre es nicht spannender, wenn es dazu auch noch Menschen gäbe, die hier ein ganz normales Leben von ihrem Erwerbseinkommen führen können? Wäre es nicht auch gut für das politische und gesellschaftliche Klima der Stadt, wenn das gute Leben für alle da wäre? Wie es sonst gehen kann, sehen Sie an Florida.

Herzliche Grüße

Ihr Michael Jung

Porträt von Michael Jung

Michael Jung

… lebt schon immer in Münster. Er wurde 1976 hier geboren. Er hat an der Uni Münster Latein und Geschichte studiert und in Geschichte promoviert. Heute ist er Lehrer am Annette-Gymnasium in Münster. Michael Jung war viele Jahre in der Politik: Von 2013 bis 2020 war er Fraktionschef der SPD im Rat der Stadt. Im Jahr 2020 trat er für die SPD bei den Kommunalwahlen als Oberbürgermeisterkandidat an.

Die Kolumne

Immer sonntags schicken wir Ihnen eine Kolumne. Das sind Texte, in denen unsere acht Kolumnistinnen und Kolumnisten Themen analysieren, bewerten und kommentieren. Die Texte geben ihre eigene Meinung wieder, nicht die der Redaktion. Mitgliedschaften in politischen Parteien oder Organisationen machen wir transparent. Wenn Sie zu den Themen der Kolumnen andere Meinungen haben, schreiben Sie uns gern. Wenn Sie möchten, veröffentlichen wir Ihre Zuschrift im RUMS-Brief. Wenn Sie in unseren Texten Fehler finden, freuen wir uns über Hinweise. Die Korrekturen veröffentlichen wir ebenfalls im RUMS-Brief.

Ihnen gefällt dieser Beitrag?

Wir haben Ihnen diesen Artikel kostenlos freigeschaltet. Doch das ist nur eine Ausnahme. Denn RUMS ist normalerweise kostenpflichtig (warum, lesen Sie hier).

Mit einem Abo bekommen Sie:

  • 2x pro Woche unsere Briefe per E-Mail, dazu sonntags eine Kolumne von wechselnden Autor:innen
  • vollen Zugriff auf alle Beiträge, Reportagen und Briefe auf der Website
  • Zeit, sich alles in Ruhe anzuschauen: Die ersten 6 Monate zahlen Sie nur einen Euro.

Wir freuen uns sehr, wenn wir Sie ab heute in der RUMS-Community begrüßen dürfen!

Bitte melden Sie sich an, um zu kommentieren.
Anmelden oder registrieren