Die Kolumne von Dina El Omari | Unrecht bleibt Unrecht

Porträt von Dina El Omari
Mit Dina El Omari

Guten Tag,

vor ein paar Tagen habe ich einen Vortrag in einer christlichen Bildungsstätte über die koranische Schöpfungsordnung mit Blick auf die Frage nach der Gleichstellung der Geschlechter gehalten. Dabei ging es auch um das Gerechtigkeitsprinzip, das dieser Schöpfungsordnung inhärent ist, denn das Fundament der gesamten Schöpfung basiert laut dem Koran auf einer gerechten Ordnung.

Sobald nun der Mensch auf den Plan gerufen wird, beginnt diese gerechte Schöpfungsordnung ins Wanken zu geraten: Es wird gekränkt, verletzt, geneidet und gemordet.

Das wird uns nicht nur in der Geschichte, sondern auch in der Gegenwart immer wieder bitterlich vor Augen geführt. Das Herz zerspringt gefühlt täglich mehrmals, wenn man von Kindern liest, die bei einem Ausflug angegriffen und ermordet werden, wenn man das kleine afghanische Mädchen weinend auf der Bühne stehen sieht, weil sie für die Tat eines anderen angegriffen und ausgegrenzt wird, wenn die ausgemergelten israelischen Geiseln von Terroristen vorgeführt werden, wenn das kleine palästinensische Mädchen von ihrem Großvater tot aus dem zerbombten Schutt gezogen wird.

Unmenschlichkeit über Unmenschlichkeit und wo bleibt da die Gerechtigkeit?

In meinem Vortrag habe ich darauf verwiesen, dass Gott zwar die Schöpfung auf dem Fundament von Gerechtigkeit aufgebaut hat, er aber den Menschen gleichzeitig mit Freiheit und Verantwortung für diese Schöpfung ausgestattet hat und ihm somit einen recht großen Handlungsspielraum gegeben hat.

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Die Gefahr besteht dabei darin, dass Menschen diese Freiheit missbrauchen und schädigend einsetzen können, andernfalls wären die Menschen unfrei erschaffen worden und vollends determiniert, und unsere Existenz würde keinen Sinn machen.

Von einem islamischen Standpunkt aus gesehen, braucht es einen jenseitigen Gerichtstag, an dem begangenes Unrecht gescholten und die Gerechtigkeit wiederhergestellt wird. Damit schließt sich der Kreis. Einer der Teilnehmenden stellte mir daraufhin die Frage: Wenn das so ist, bedeutet das letztendlich, dass es auf dieser Welt für die Wiederherstellung von Gerechtigkeit keines Einsatzes bedarf? Sollten wir uns wirklich damit trösten, dass alles im Jenseits ausgetragen wird?

Dazu habe ich ihm ein klares Nein gegeben, denn die Aufrechterhaltung und die Wiederherstellung von Gerechtigkeit ist kein rein vertikaler, sondern ebenso ein horizontaler Prozess.

Gerade weil wir Menschen als Verantwortliche für die Schöpfung auf Erden beauftragt wurden, sind wir dazu angehalten, uns stets gegen Unrecht und für Gerechtigkeit, und zwar in allen Kontexten, sei es auf persönlicher, gesellschaftlicher oder politischer Ebene einzusetzen.

Es ist unsere Aufgabe, aufzubegehren, wenn wir Unrecht sehen und uns für alle Menschen, denen Unrecht widerfährt, egal welcher religiöser, sozialer, ethnischer oder geschlechtlicher Gruppe sie angehören, uns aktiv einzusetzen.

Unrecht ist fernab von Labels zu sehen, es sind nicht die Kategorien, in denen wir Menschen gemeinhin denken, die uns zum Handeln bewegen sollten, sondern es muss das Unrecht selbst sein.

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Gerade in Zeiten, in denen Populisten und Radikale immer mehr eine Rolle spielen, weil sie mit den Emotionen und Ängsten, den Schwächen und Bedürfnissen von Menschen spielen, müssen wir uns immer wieder in Erinnerung rufen: Es geht um das Unrecht selbst, nicht darum, wer dieses Unrecht begangen hat.

Man kann sich hier übrigens sehr leicht selbst testen: einfach mal den beziehungsweise die Täter:in austauschen beziehungsweise das Label ändern, die Tat aber beibehalten, welche innerliche Reaktion wird ausgelöst?

Ist man immer gleichermaßen schockiert und schreit man immer gleichermaßen auf? Oder muss man selbstkritisch feststellen, dass man hier Unterschiede macht?

Wir Menschen sind jederzeit gefragt, uns für Gerechtigkeit einzusetzen. Der Tag des Gerichts ist für religiöse Menschen (lediglich) die letzte Garantie, dass, wenn diese Gerechtigkeit nicht auf Erden einsetzt, es in jedem Fall spätestens im Jenseits geschehen wird.

Das bedeutet aber keinesfalls, dass wir uns aus einer passiven Haltung heraus darauf verlassen sollten, insbesondere in so schwierigen Zeiten, wie wir sie aktuell auf der ganzen Welt erleben. Dazu habe ich heute Morgen ein schönes Zitat des Schriftstellers Rafik Schami gelesen, mit dem ich gerne schließen möchte: „Es gibt kaum eine Gruppe, die so viel Einfluss auf die Weltgeschichte hat wie die Gleichgültigen. Und das Bemerkenswerte daran ist, niemand spricht von ihnen. Ihre Passion hat die radikalsten Umbrüche ermöglicht.“

Herzliche Grüße

Ihre Dina El Omari

Porträt von Dina El Omari

Dina El Omari

… ist Professorin für interkulturelle Religionspädagogik am Zentrum für Islamische Theologie. Sie forscht und lehrt zu den Themen feministische und geschlechtersensible islamische Theologie, interreligiöses Lernen sowie islamische Textwissenschaften.

Die Kolumne

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