Die Kolumne von Dina El Omari | Religion kann Teil der Lösung sein

Porträt von Dina El Omari
Mit Dina El Omari

Guten Tag,

am 25. November jährt sich der internationale Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen – und mit ihm leider auch eine Zunahme dieser Gewalt in Deutschland. Dabei ist die häusliche Gewalt das größte Feld. Sie umfasst alle Formen körperlicher, psychischer, sexualisierter und in manchen Kontexten auch spiritueller Gewalt, bei denen Täter und Opfer in einer familiären oder partnerschaftlichen Beziehung miteinander verbunden sind und sich einen Haushalt teilen.

Darüber hinaus werden Frauen und Mädchen auch jedes Jahr Opfer von Sexualstraftaten, digitaler Gewalt, Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung und politisch motivierter Kriminalität.

Außerdem zeigt sich in Deutschland, dass die überwiegende Zahl der Opfer und Tatverdächtigen laut dem Lagebild „Geschlechtsspezifisch gegen Frauen gerichtete Straftaten“ die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt. Es handelt sich also keinesfalls um ein „importiertes“ Problem.

Die schlimmste Folge dieser Gewalt ist der sogenannte Femizid, den die Weltgesundheitsorganisation recht knapp mit der Tötung einer Frau definiert.

Femizide passieren nicht plötzlich

Dass dieses Phänomen aber deutlich komplexer ist, wird auch durch die kürzlich mit dem Rita-Süssmuth-Forschungspreis ausgezeichnete Doktorarbeit der Juristin Jara Streuer von der Universität Münster deutlich.

Sie stellt nicht nur die Frage, was geschlechtsbezogen hier konkret bedeutet, sondern auch, wie sich dies definieren lässt. Kürzlich erschien ein Interview mit ihr dazu bei RUMS.

Der Weg zu einem Femizid ist meist kein plötzlicher. Vielmehr gehen diesem viele unterschiedliche Arten von Gewalt voraus. Während ein Femizid allerdings klar strafrechtliche Konsequenzen nach sich zieht, trifft das auf einige andere Gewalttaten nicht zu. So bleibt oft jahrelanger psychischer, verbaler und in religiösen Kontexten auch spiritueller Missbrauch ungestraft.

Doch diese Formen des Missbrauchs haben ebenfalls schwerwiegende Folgen für die Opfer. Sie können so tiefe Wunden in der Seele eines Menschen verursachen, dass sie nicht selten Jahre der Heilung brauchen. Die Opfer erleben immer wieder, wie sie beschimpft und abgewertet werden, ihre Wahrnehmung verdreht wird und sie psychisch demontiert werden, bis am Ende kaum noch etwas von ihnen übrig bleibt.

Die Opfer verlieren an Lebenszeit, Kraft, Hoffnung. Sie verlieren Träume und investierte Liebe. Das alles lässt sich nicht kompensieren. Dennoch wünschen sich viele Opfer, dass ihr Leid nicht ungehört verebbt.

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Auf einer rechtlichen Ebene lässt sich sicher darüber streiten, wie und was in Zukunft strafrechtlich verfolgt werden kann. Aus einer moralisch-ethischen Perspektive ist jedoch ganz klar: Jede Form von Missbrauch ist verwerflich. Man muss ihr mit aller Vehemenz entgegenwirken.

Gleichzeitig muss den Opfern das Gefühl vermittelt werden, dass sie gehört und unterstützt werden, dass das ihnen zugefügte Unrecht gesehen und verurteilt wird. Aber auch, dass sie bei ihrem Weg der Heilung nicht alleine sind. An dieser Stelle können Religionen anknüpfen, die je nach Auslegung Teil des Problems, aber genauso gut Teil der Lösung sein können.

Zunächst braucht es theologische Gegenangebote mit Blick auf patriarchale oder hierarchische Denkmuster. Diese Angebote sollen nicht nur diese Muster aufbrechen und dekonstruieren, sondern auch eine klare ablehnende Haltung gegenüber jeder Form des Missbrauchs zum Ausdruck bringen. Das betrifft auch die Auslegung von und den Umgang mit Texten, die diese Denkmuster beinhalten.

Es darf keine Täter-Opfer-Umkehr stattfinden, die in irgendeiner Weise, und sei sie noch so subtil, den Opfern die Schuld für den Missbrauch an ihnen gibt. Schuld- und Schamgefühle werden sehr gerne dazu eingesetzt, den Opfern ihre Stimmen zu nehmen und den Missbrauch überhaupt zu benennen. Verstärkt wird dies damit, dass man den Opfern dazu rät, geduldig zu sein, in der missbräuchlichen Beziehung auszuharren oder sich in der Beziehung mehr Mühe zu geben.

Hier spielen insbesondere religiöse Institutionen eine zentrale Rolle. Geistliche und Seelsorger:innen können dazu beitragen, Missbrauch entgegenzuwirken. Gleichzeitig können Religionen oder ein Gottesbewusstsein eine wichtige Ressource sein, um aus missbräuchlichen Beziehungen auszubrechen und Heilung zu erfahren. Sie können einen Weg darstellen, das erfahrene Leid zu verarbeiten.

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Dies kann zum Beispiel durch die gemeinschaftliche Verbundenheit und den Rückhalt geschehen. Und durch die Begegnung mit dem Leid in der liebenden Umarmung Gottes, der einen tröstend umhüllt und gleichzeitig bedingungslos zuhört, wenn die Klage über das erlebte Unrecht herausbricht.

Religionen können zudem Wege aufzeigen, wie man Schmerz zulassen, akzeptieren, überwinden und schließlich Heilung finden kann. Der Benediktinerpater Anselm Grün und mein geschätzter Kollege, der islamische Theologe Ahmad Milad Karimi, zeigen in ihrem kürzlich erschienen Buch „Den Schmerz verwandeln – Eine interreligiöse Reise zu spiritueller Heilung“, dass hierbei auch interreligiöse Perspektiven eine große Ressource darstellen.

Gewalt gegen Frauen in all ihren Facetten stellt ein gesamtgesellschaftliches Problem dar, bei dem viele verschiedene Ebenen zusammenkommen. Es reicht keinesfalls aus, dass sich einzelne Bereiche damit auseinandersetzen.

Vielmehr braucht es ein Zusammenspiel unterschiedlicher Strukturen, Institutionen und Akteur:innen, säkular und religiös, und ein Mitwirken jedes einzelnen Individuums. Dabei sollte das Thema auf der Tagesordnung stehen und nicht nur einmal im Jahr mit einem speziellen Tag bedacht werden.

Herzliche Grüße

Ihre Dina El Omari

Porträt von Dina El Omari

Dina El Omari

… ist Professorin für interkulturelle Religionspädagogik am Zentrum für Islamische Theologie. Sie forscht und lehrt zu den Themen feministische und geschlechtersensible islamische Theologie, interreligiöses Lernen sowie islamische Textwissenschaften.

Die Kolumne

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