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Die Kolumne von Christoph Hein | Weihnachten mit Shrimps und Lachs
Guten Tag,
an der Lambertikirche leuchtet die Himmelsleiter in die Winternacht, ansonsten hat Münster in diesem Jahr an Weihnachtslichtern kräftig gespart. Ganz anders am anderen Ende der Welt: Der Rohstoff-Riese Rio Tinto, einer der größten Erzförderer der Erde, verleiht der entlegensten Metropole der Welt echte Festtagsgefühle: Zwar steigt das Thermometer im australischen Perth in diesen Tagen des Frühsommers durchaus schon auf 30 Grad. Das aber hindert niemand daran, abends Selfies auf der mit Neon-Weihnachtshirschen geschmückten Hay Street zu machen. Oder bei dem aus Dutzenden Lautsprechern plärrenden „Rudolph The Red Nosed Reindeer“ mitzusummen.
Rote Nasen gibt’s hier nur vom „Booze“, dem Alkohol. Aber davon später. Nett sind sie alle hier. Das australische „no worries“ ist gerade von den handfesten Typen in der Minen-Hauptstadt Perth immer wieder zu hören – ob ich länger brauche, mein Geld zu zählen, ob ich eine Telefonkarte kaufen will, oder tanke – das australische „null problemo“ gehört zur Grundausstattung der Kontaktaufnahme.
Aber warum suche ich überhaupt Kontakt in Perth? Nun, ich arbeite hier. Nicht häufig, aber dann und wann. Und das heißt: Ich gucke zu. Ich höre zu. Und vergehen mir Hören und Sehen nicht, schreibe ich meine Eindrücke dann auf, so nah wie möglich an der Wahrheit. Das muss schnell gehen, denn in Frankfurt warten die Kolleginnen einer Zeitung und Internetseite, hinter denen angeblich lauter kluge Köpfe stecken. Also: Ich bin Korrespondent, zuständig für den Süden Asiens und den Stillen Ozean, und das ist eine Region von Pakistan bis Palau, von Südasien bis tief in den Pazifik. Indien liegt darin, die zehn Länder Südostasiens, mein geliebtes Australien, aber auch Länder wie Timor-Leste, Papua Neuguinea oder ein Dutzend Atolle im Stillen Ozean.
Menschen in Asien lächeln keinesfalls immer
Ich habe fast 30 Jahre in Münster verbracht. Und seit einem knappen Viertel Jahrhundert lebe ich jetzt im Stadtstaat Singapur, im Herzen einer Weltregion mit mehr als drei Milliarden Menschen. Viele von ihnen ringen tagtäglich darum, sich und ihre Familien durchzubringen. Immer mehr dürfen davon träumen, sich bald ein Moped, dann ein Auto, später eine Wohnung leisten zu können. Und einige lassen ihre Milliarden verwalten. Bis auf eines der Länder – und ich verrate hier nicht, welches – habe ich in den vergangenen 23 Jahren alle „meine“ Länder besucht. Und unendlich viel gelernt. Zum Beispiel, dass die Menschen in Asien keinesfalls immer lächeln, sondern sehr laut und sehr wütend werden können. Dass sie sehr gute Gründe haben, Europa skeptisch zu betrachten. Dass sie mehr und mehr auf ihre eigene Kraft vertrauen. Und dass es manchmal schwierig ist, das dem Publikum in Deutschland über dem Frühstücksei zu vermitteln.
In den vergangenen Wochen war ich also in Australien. Genauer gesagt in West Australia. Das ist wichtig, denn die Menschen dort sitzen auf Bergen von Erz, Kupfer und Gold. Und weil sie immer noch glauben, dass diese Bodenschätze unendlich seien, denken viele von ihnen, eigentlich sei der riesige Landesteil besser ein eigener, unabhängiger Staat, statt ständig Abgaben auf die Ostseite Australiens, in die Hauptstadt Canberra zu überweisen.
Hier unten auf der Weltkugel sind nicht nur die Jahreszeiten entgegengesetzt. Hier ist auch Weihnachten ganz anders – auch wenn es natürlich den selben Ursprung hat und am 24. Dezember gefeiert wird. Obwohl – auch das stimmt schon nicht. Weihnachten feiern die Australier eher am 25., unserem Ersten Weihnachtstag. Weil sie damit aber so spät dran sind, steht ihr Weihnachtsbaum – wie bei vielen Briten – schon seit Wochen jeden Abend hell erleuchtet im Wohnzimmer. Und wer seine Kinder so richtig ärgern will, der hat die verpackten Geschenke darunter gelegt. Dann können alle schon mal raten, in welchem die Krawatte, der neue Steven King oder der solargetriebene Haartrockner stecken.
Gern ein oder zwei über den Durst
Auch sind die Weihnachtsbäume hier längst nicht so festlich, wie sie ab dem 25. in den hell erleuchteten Fenstern des Kreuzviertels wirken: Hier wird alles drangehängt, was Halt findet. Das ist dann auch schon mal ein Koalabär mit Nikolausmütze. Oder ein surfendes Känguru. Erlaubt ist, was lustig ist. Denn Weihnachten hier ist kein Weihrauchfest, sondern eines des Spaßes – und, ja – des kräftigen Feierns. Man zieht gern zum Strand oder auf eines der zahlreichen „Greens“ in der Stadt, packt Champagner, Familie und Freunde ein und lässt es richtig krachen. Dabei darf die ganz große Fischplatte nicht fehlen. Was in Deutschland vielleicht mal der Weihnachtskarpfen war und heute die vegane Gans ist, das sind hier Austern, Shrimps und Lachs. Selbst das Einkaufen macht Spaß – tragen die meist locker eingestellten Kassiererinnen doch seit Wochen ein wackelndes Hirschgeweih an Drähten oder zwei Weihnachtssternchen als Kopfputz. Und finden das in Ordnung.
Dann ist da noch was. Der Australier trinkt gern. Gern auch einen oder zwei über den Durst. Weihnachten bietet dafür den perfekten Anlass, obwohl es den nicht braucht – schließlich sollte man auch Freitagnachmittag jedes Wochenende mit einem Gläschen einläuten. Aber Weihnachten wird garantiert ein-, aus- und zwischengeläutet. Nicht, dass das ein wirkliches Problem wäre. Alkohol gibt es in eigenen Läden, den „bottle shops“ wie Dan Murphey‘s, ausreichend zu kaufen. Dort aber kommt man nur rein, wenn man älter als 21 ist. Weshalb uns neulich, als wir Betagte auf einer Terrasse in der Fußgängerzone unser Dinner einnahmen, eine Teenagerin bat, für sie „booze“ zu kaufen. Wir kamen nicht so weit, sie zu fragen, was sie bereit sei, dafür zu geben.
Viele Menschen in Australien vertragen viel. Viele aber würden besser weniger zulangen. Nun sind die 26 Millionen hier zwar nicht das Volk, das am meisten dem Alkohol zuspricht. Aber dennoch: Die Webseite mit dem schönen Titel „alcohol.org“ erklärt uns, dass Australier sich 27-mal im Jahr betrinken, während der weltweite Durchschnitt nur bei 15-mal liege.
Das mag nun stimmen oder nicht. Tatsache aber ist, dass häusliche Gewalt in Australien ein großes Problem ist. Trotz der scheinbar so emanzipierten Gesellschaft ist jede dritte Frau (31,1 Prozent) schon Opfer eines Übergriffs geworden – sehr oft unter Alkoholeinfluss des Täters. In der Hauptstadt Canberra finden abstruse, oft entwürdigende Prozesse über Vergewaltigungen im Parlament und der politischen Oberschicht statt. Auch da haben sich Opfer und Täter in der Regel bei Feiern im Büro bis fast zur Bewusstlosigkeit betrunken.
Derzeit pausiert das Verfahren eines „political staffer“, einer Mitarbeiterin im Ministerbüro, gegen einen männlichen „staffer“: Sie wirft ihm Vergewaltigung vor, nachdem sie morgens früh auf der Couch der Ministerin fast unbekleidet aufwachte. Gegen zwei Uhr morgens war sie mit ihm – augenscheinlich an allen Wachleuten vorbei und augenscheinlich sturzbetrunken – in das Bürogebäude getorkelt. So richtig gewundert zu haben scheint sich darüber niemand.
Männerschweiß und Kautabak
Und diese ist nur eine von mehreren Verhandlungen. Auf der anderen Seite des riesigen Kontinents, zurück im westaustralischen Perth, ringen die Bodenschatzkonzerne mit sexuellem Missbrauch in Wort und Tat. Denn diese Gesellschaft ist zu weiten Teilen maskulin bestimmt, in den Minen riecht es noch nach Männerschweiß und Kautabak – und das, obwohl Frauen als die besseren, verlässlichen Mitarbeiterinnen heiß begehrt sind.
Nun aber kam bei einer Untersuchung des Gasriesen Chevron heraus, dass Vorgesetzte im Internet nach Bikinifotos von Frauen suchen, die sich bewerben. Und Schlimmeres. Einer gestandenen Pilotin der Fluggesellschaft Qantas Airways empfahlen die Kollegen, Push-up-BHs zu tragen – was sie zu Protokoll gab. So geht es weiter, und das Tag für Tag, mit und ohne Überdosis Alkohol.
Das „no worries“ hilft da so wenig wie die Herzlichkeit der Australier, ihr Lachen oder ihre langen Strände. Weihnachten hat zwar auch in der Hitze das Zeug dazu, die Debatten zu unterbrechen. Doch spätestens wenn alle Ende Januar aus ihrem Sommerurlaub wieder zurück sind, wird es wieder losgehen. Mit dem Trinken. Mit der häuslichen Gewalt. Selbst das schönste Land der Erde hat eben einen Haufen Probleme zu lösen. Die seien, das sagt gerade jeder Aussie, nicht so schlimm wie unsere in Europa. Aber ganz so sicher bin ich mir da manchmal nicht.
Herzliche Grüße
Ihr Christoph Hein
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Christoph Hein
… ist in Köln geboren und in Münster aufgewachsen. Er hat an der Uni Münster studiert, hier promoviert und während seines Studiums für die Westfälischen Nachrichten und den WDR gearbeitet. Im Jahr 1998 fing er bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung an, zunächst als Korrespondent in Stuttgart. Ein Jahr später ging er als Korrespondent zunächst für Südostasien und China, ab 2008 für den Süden Asiens einschließlich des Pazifikraums nach Singapur. Dort wurde auch seine Tochter geboren, die inzwischen in Münster studiert. Nach einem Vierteljahrhundert im indo-pazifischen Raum ist er nach Deutschland zurückgekehrt und leitet den wöchentlichen Newsletter F.A.Z. PRO Weltwirtschaft. Christoph Hein hat zahlreiche Bücher publiziert, zuletzt mit „Australien 1872“ einen Bildband über einen deutschen Goldsucher auf dem fünften Kontinent.
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