Die Kolumne von Christoph Hein | Bauernproteste und Laborfleisch

Porträt von Christoph Hein
Mit Christoph Hein

Guten Tag,

Trecker am Ludgerikreisel, der Beginn der Grünen Woche in Berlin und ein Auf- und Ab der Subventionen: Die Bauern bescheren der Bundesregierung einen sehr heißen Januar. Im Kern geht es ihnen um eine auch für kleinere Betriebe funktionierende Landwirtschaft. Und damit die Ernährung Deutschlands. „Ist der Bauer ruiniert, wird dein Essen importiert“, lautet einer der Protestsprüche, die die Landwirte auf Plakate gepinselt haben. 

Gegen den Import von Essen wehren sich nicht nur die deutschen Bauern. Auch die Regierung auf der Äquatorinsel Singapur versucht seit Jahren mit aller Macht, ihre Abhängigkeit von der Einfuhr von Nahrung zu verringern. Die Voraussetzungen sind nicht vergleichbar: In dem reichen Kleinstaat leben nur 5,5 Millionen Menschen, seine Fläche ist kaum größer als Berlin und eigene Rohstoffe oder Felder hat Singapur nicht.

Selbst ihr Wasser muss die Tropeninsel vom großen Nachbarn Malaysia über Rohrleitungen importieren, Obst und Gemüse kommen aus China oder Australien, das Grundnahrungsmittel Reis aus Thailand oder Indien, das auch die Kartoffeln liefert, das Fleisch wird aus Australien oder Japan eingeflogen.

Welches Risiko diese Abhängigkeit darstellt, hat die strikte Führung des Stadtstaates längst vor dem Kollaps der Versorgung Deutschlands mit russischem Gas festgestellt. Angesichts einer Durchschnittstemperatur von fast 30 Grad und immer wiederkehrenden Spannungen mit seinem Wasserlieferanten Malaysia bildete die Versorgung mit dem lebensnotwendigen Nass die Priorität.

Schon vor Jahren begannen die Singapurer, Regenwasser in großen Stauseen zu sammeln, zahlten Siemens für die Meerwasserentsalzung und begannen, Schmutzwasser in „New Water“ zu wandeln, gereinigtes Trinkwasser. Eine öffentliche Kampagne, bei der selbst der Ministerpräsident freudestrahlend das „New Water“ genoss, machte die Bürger mit der sicheren Eigenversorgung vertraut. 

Nur ein Prozent der Fläche kommt in Frage

Heute, elf Jahre später, sind die verschiedenen Wasserquellen längst akzeptiert. Die Regierung hat in den vergangenen Jahren alles darangesetzt, die Abhängigkeit auch bei der Versorgung mit Nahrungsmitteln so schnell als möglich zu verringern – zum einen durch Diversifikation, bei der inzwischen 170 Länder Lieferanten sind („multisourcing“), zum anderen durch technische Konzepte, die Anbau oder Aufzucht auch im Ministaat möglich machen sollen.

Nur ein Prozent der Landfläche Singapurs käme überhaupt für landwirtschaftliche Nutzung in Frage. Bis 2030 aber will Singapur, das Land ohne Fläche, 30 Prozent seines Nahrungsmittelbedarfs aus eigener Produktion decken. 

Also versucht sich die Stadt an der staatlich geförderten Fischzucht, an Urban- und Vertical-Farming, der Herstellung pflanzenbasierten Fleischersatzes und an der Entwicklung von Laborfleisch. Auch Deutsche drehen an dem großen Rad mit: Dirk Eichelberger und Michael Voigtmann züchten Fisch auf Hochtechnologie-Farmen vor der Insel, die von Siemens gefördert werden. Bosch erforscht hier den Bau großer Shrimps-Farmen.

Der Niedersachse Timo Recker arbeitet an pflanzlichem Fleisch. „Es war ein langer Weg“, sagt Recker. Er wuchs als Junior in einer Fleischfabrik in Wetschen bei Vechta auf. Nachdem er mit seinem Vater zusammen erfolgreich Sojafleisch produziert hatte, trennte er sich: Nach dem Verkauf der Firma zog Recker mit seiner Lebensgefährtin auf die Äquatorinsel.

„Ich bin hier sehr schnell angekommen“, sagt der Deutsche, der von Singapur ein Gründervisum erhielt. „Ich würde den Standort immer wieder wählen. Die Wirtschaftsentwicklungsbehörde hilft uns, die Netzwerke stimmen.“ Das schaffte die Atmosphäre, die der Investor für den nächsten Schritt brauchte: den Aufbau der Marke Tindle für Hähnchenschenkelfleisch aus Pflanzen.

„Wir entwickeln Rezepturen, lassen dann aber in mehreren Ländern von Drittanbietern fertigen.“ An mehreren Finanzierungsrunden beteiligten sich nicht nur internationale Investoren, sondern auch der Staat. Auch der amerikanische Agro-Riese Archer Daniels Midland Company (ADM) eröffnete ein Großlabor für pflanzliche Lebensmittel für Asien in Singapur. 

Der kleine, reiche Staat will sich eine Führungsposition zumindest im Markt der 3,4 Milliarden Asiaten sichern. Das Land macht sich zum Testlabor. Die neuen Ernährungsformen sollen insbesondere den weltweiten Fleischmarkt im Volumen von rund 2 Billionen Dollar revolutionieren. Allein der Weltmarkt für Hähnchenfleisch liegt bei rund 193 Milliarden Dollar.

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So bleibt es denn auch nicht bei Soja. Als erstes Land der Welt hat Singapur einem Hersteller erlaubt, Hühnchenbrust aus dem Labor zu züchten und zu verkaufen. Der Verkauf des Kunstfleisches von Eat Just aus San Francisco verlief indes in homöopathischen Dosen und diente vor allem dem Marketing: Nur der Imbiss in der Schweizer Metzgerei Huber’s Butchery im Szeneviertel Dempsey Road durfte samstags bis zu vier Personen das „Good Meat“ aus dem Reagenzglas kredenzen – Anmeldung für den besonderen Mittagstisch immer Montags per Internet.

„So wie Elektroautos eines Tages nur noch als Autos bezeichnet werden, kann kultiviertes Fleisch zum Standard werden, wenn die Industrie ausreichend öffentliche und private Mittel erhält, um sich zu vergrößern”, sagt Mirte Gosker, Asien-Chefin beim Good Food Institute. Singapur versucht, diese Mittel bereit zu stellen, um sich und seine Position zu festigen.

Das kleine Land folgt bei seiner Förderung der neuartigen Ernährung einer nüchternen Betrachtung der Nachfrage und einem eingeübten Fahrplan: Denn die Entwicklung neuer Produkte bringt auch Forschung mit sich, bei der junge Wissenschaftler und Forscherinnen in den staatlichen Labors an neuen Techniken arbeiten.

Die Regierung holt Nobelpreisträger aus dem jeweiligen Feld in die Stadt, lobt Preise und Stipendien aus, gründet Labore. Selbst die Schulen werden in solche Programme eingebunden. So wird die eigene Bevölkerung ausgebildet; zugleich aber sichert der Staat seinen Menschen dauerhafte, gut bezahlte Arbeitsplätze: Die Vereinten Nationen schätzen, dass mehr als 350 Millionen Menschen in der Region unterernährt sind, rund eine Milliarde leide unter Unsicherheiten in der Versorgung mit Lebensmitteln. Zugleich sucht die neue Mittelschicht Asiens nach immer mehr Proteinen, etwa durch Fisch und Rindfleisch. Der Markt, in den Singapur vorstößt, erscheint fast unbegrenzt. 

Angesichts des hochtechnologischen Tauziehens um Anbautechniken der Zukunft dürfte manchem wackeren Landmann aus dem Münsterland übel werden. So fragten einige Bauern auf ihren Protestplakaten: „Müsst ihr erst hungern, bevor ihr versteht?“ Dieser Logik folgend hat die Regierung von Singapur, die ganz und gar kein Freund von Demonstrationen oder gar Blockaden ist, verstanden. Ganz ohne eigene Landwirte. 

Herzliche Grüße
Ihr Christoph Hein

Der Autor

Christoph Hein hat ein Vierteljahrhundert in Asien gelebt, um von dort für die Frankfurter Allgemeine Zeitung zu berichten. Nun ist er nach Münster zurückgekehrt. Und wundert sich über uns Deutsche und in der Rückschau über manches, was sich in Asien zuträgt. Hein wurde in Köln geboren und ist in Münster aufgewachsen. Er hat an der Uni Münster studiert, hier promoviert und während seines Studiums für die Westfälischen Nachrichten und den WDR gearbeitet. Im Jahr 1998 fing er bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung an, zunächst als Korrespondent in Stuttgart. Ein Jahr später ging er als Korrespondent zunächst für Südostasien und China, ab 2008 für den Süden Asiens einschließlich des Pazifikraums nach Singapur. Dort wurde auch seine Tochter geboren, die inzwischen in Münster studiert. Christoph Hein hat zahlreiche Bücher publiziert, zuletzt mit „Australien 1872“ einen Bildband über einen deutschen Goldsucher auf dem fünften Kontinent.

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