Die Kolumne von Christoph Hein | Der nüchterne Blick

Porträt von Christoph Hein
Mit Christoph Hein

Guten Tag,

am münsterschen Rathaus wehte nach der Terrorattacke der Hamas vor gut einem Jahr die Fahne Israels. Unter ihr auf dem Prinzipalmarkt machten Demonstranten auf das Elend im Gazastreifen nach dem israelischen Einmarsch aufmerksam, während andere unbedingte Solidarität mit Israel forderten. Die grauenvollen Bilder aus dem Nahen Osten und noch länger jene aus der Ukraine lassen sich nicht abschütteln. Die Emotionen kochen hoch.

Wer wie ich über Jahrzehnte auch aus Katastrophengebieten wie nach dem Tsunami in Thailand und Sri Lanka, nach Erdbeben in Nepal und Indonesien, Überflutungen, verheerenden Waldbränden und Bürgerkriegszonen in Myanmar (Burma) oder auf den Philippinen berichtet hat, musste früh lernen, umzuschalten. Umzuschalten heißt nicht abzuschalten.

Die Bilder kommen wieder. So wie die Fragen nach dem „Warum“, nach dem „Was wurde wohl aus…“ und die schwerste: „Habe ich in jenen Stunden das Richtige getan?“ Aber in der Situation selber treten sie zurück, weil mit dem Berichten eine Aufgabe im Vordergrund steht. Notärztinnen und Notärzte, Sanitäter, Feuerwehrleute oder Kriegsfotografen wissen, was ich meine.

Man kann eine Notlage über Bilder verstehen. Je mehr Emotionen aber wachsen, umso schwerer fällt es, zu argumentieren. Auch in der aufgeheizten Stimmung in einem Deutschland, das sich um die Wahl in den USA, die Gräuel im Nahen Osten und der Ukraine, den Aufstieg der AfD, um hohe Mieten und Preise sorgt.

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Der nüchterne Blick tut also Not. Denn nackte Zahlen sind und bleiben oft die Grundlage für Einschätzungen und Entscheidungen. Die vergangenen Tage waren gespickt mit Zahlen und Daten zu den großen, menschengemachtenKatastrophen dieser Jahre.

Dahinter steht immer das menschliche Leid. Es wird nicht vergessen. Aber dort, wo es möglich ist, könnte es vielleicht gemindert werden, wenn sich eine unumstrittene Grundlage für die Entscheidung über die nächsten Schritte findet.

Die schlimmste Zahl der vergangenen Woche war eine abstrakte, hinter der Hunger und Verzweiflung stehen. Die Weltbank in Washington erklärte, dass das Ziel nicht zu halten sei, extreme Armut bis 2030 auszuradieren. Fast 700 Millionen Menschen rund um die Erde leben in extremer Armut – das heißt, sie fristen ein Dasein mit weniger als 2,15 Dollar am Tag oder deutlich weniger, als ein Stück Streuselkuchen bei Tollkötter kostet.

Im Gazastreifen kommen nun schätzungsweise knapp zwei Millionen Arme hinzu. Denn die Wirtschaftskraft des Landstrichs sei, so heißt es bei der Weltbank, seit den israelischen Angriffen um 86 Prozent gesunken. Hier hilft ein Vergleich: Für das zerbombte Deutschland direkt nach dem Zweiten Weltkrieg gehen Ökonomen von einem Minus von 64 Prozent aus. Die Zerstörung in Gaza sei größer als bislang aus Kriegen bekannt, schreiben die Analysten.

Auf einer Konferenz in Berlin rechnete Moritz Schularick, Präsident des Kiel Institut für Weltwirtschaft unterdessen vor, dass die gesamten deutschen bilateralen Militärhilfen für die Ukraine weniger als 0,25 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung Deutschlands entsprächen. „Bezogen auf die Dauer des Krieges von mehr als zweieinhalb Jahren seit Russlands Überfall Anfang 2022 sind das nur rund 0,1 Prozent der Wirtschaftsleistung in diesem Zeitraum.“

Der Ökonom ergänzte, dass allein das Dieselprivileg den deutschen Steuerzahler jährlich „rund doppelt so viel“ koste wie die Hilfe für die Ukraine. Als Dieselprivileg wird allgemein die geringere Energiesteuer auf Diesel im Vergleich zu Benzin bezeichnet. Das mag Radfahrer und jene Menschen, die von einem Frieden ohne Waffen überzeugt sind, nicht überzeugen. Doch zeigen die Zahlen und Vergleiche zumindest, wo wir in der Debatte über die Bewaffnung der Ukraine eigentlich stehen.

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Ein drittes Beispiel deutet sich mit Blick auf einen erneuten Präsidenten Donald Trump in den USA an. Der amerikanische Geopolitik-Experte Adam Posen erklärte mir gerade, Trump plane dezidiert die gewaltsame Abschiebung von gut acht Millionen illegalen Migranten über die Grenze nach Mexiko. Trumps Leute hätten längst Pläne für Lager bis zu Abschiebung entworfen.

„Wir haben das simuliert: Jenseits aller moralischen Fragen sind die Folgen für die amerikanische Wirtschaft schlimm. Die Migranten decken spezielle Arbeiten ab, Bau, Gesundheit, Tourismus. Fehlen diese Arbeitskräfte, erzeugt das einen plötzlichen Mangel in ausgewählten Branchen.

Lieferketten werden brechen, wie wir es bei Covid erlebt haben. Zugleich trifft die Abschiebung die heimische Nachfrage“, warnte Posen nüchtern. Und rechnet mit einer sprunghaft steigenden Inflation und höheren Leitzinsen in Amerika. Was wiederum die Armen rund um die Welt wenige Monate später treffen wird.

Wo wir auch hinschauen, verheißt der kühle Blick auf die Zahlen wenig Gutes in diesem Herbst. Angesichts der Auswirkungen des Weltgeschehens bis tief hinein in die Lokalpolitik – etwa beim „Jahrhundertthema Migration“, wie mein RUMS-Kolumnisten-Kollege Ruprecht Polenz die Zuwanderungsfrage zurecht nennt – ist er aber unerlässlich. Denn er hilft, in einer anschwellenden Kakophonie Argumente zu finden, zu Entscheidungen zu kommen.

Herzliche Grüße

Ihr Christoph Hein

Porträt von Christoph Hein

Christoph Hein

ist in Köln geboren und in Münster aufgewachsen. Er hat an der Uni Münster studiert, hier promoviert und während seines Studiums für die Westfälischen Nachrichten und den WDR gearbeitet. Im Jahr 1998 fing er bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung an, zunächst als Korrespondent in Stuttgart. Ein Jahr später ging er als Korrespondent erst für Südostasien und China, ab 2008 für den Süden Asiens einschließlich des Pazifikraums nach Singapur. Dort wurde auch seine Tochter geboren, die inzwischen in Münster studiert. Nach einem Vierteljahrhundert im indo-pazifischen Raum ist er nach Deutschland zurückgekehrt und leitet den wöchentlichen Newsletter F.A.Z. PRO Weltwirtschaft. Christoph Hein hat zahlreiche Bücher publiziert, zuletzt mit „Australien 1872“ einen Bildband über einen deutschen Goldsucher auf dem fünften Kontinent.

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