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Die Kolumne von Christoph Hein | Wir haben, wofür die Gen Z rund um die Welt kämpft

Guten Tag,
der Wechsel wird vollzogen. Bei einer Wahlbeteiligung von fast 65 Prozent hat sich die Mehrheit der Menschen in Münster für die andere Seite entschieden: In 15 Wahlkreisen haben die Grünen zuletzt mehr als 60 Prozent der Stimmen geholt. Mit Tilman Fuchs wird erstmals ein Grüner an die Spitze der Stadt rücken.
Kampagne und Wahlen waren spannend, das Ergebnis ist ein interessantes Versprechen. Dahinter verblasst die frohe Botschaft, die uns allen viel zu selbstverständlich erscheint: Der Wechsel in Münster ist vollkommen friedlich verlaufen. Die Menschen durften ihre Wünsche äußern, Kandidaten schälten sich heraus, es gab zwei Wahlen in Folge und am Ende gratulierten sich alle – ein friedvoller, demokratischer Wechsel.
Erst wer den Blick über den Horizont lenkt, erkennt, was für ein Pfund wir da haben: eine funktionierende Demokratie. Milliarden von Menschen hätten gerne ein solches System. Deshalb demonstrieren jene, denen wir gern den Stempel der Gen Z aufdrücken, derzeit in immer mehr Schwellen- und Entwicklungsländern. Auf dem Papier haben Marokko und Madagaskar, Nepal und Peru, Serbien und Kenia wenig miteinander zu tun. Doch kommt es in all diesen Ländern gerade zu teils blutigen Aufständen, Regierungen werden von Demonstranten aus dem Amt gehoben, Premierminister ins Exil vertrieben. Es lohnt sich, nach Gleichheiten der Bewegungen und der Bedingungen zu suchen, die sie wachsen lassen.
Manga wird zum Wahrzeichen der Gen Z Proteste
Zuerst springt einem der Piraten-Totenkopf mit Strohhut ins Auge, unter dem viele Menschen an allen Ecken der Welt auf die Straße ziehen. Er stammt aus dem One-Piece-Manga des japanischen Comiczeichners Eiichirō Oda. Die Bewegung der Gen Z hat die Figur gekapert. Die Demonstranten haben die „Strohhut-Piraten“ zu ihrer Ikone gekürt, weil Manga-Held Monkey D. Luffy in mehr als einer halben Milliarde gedruckten Heften, Videos und digitalen Spielen eine autoritäre Weltregierung attackiert.
So wie er und seine Leute im Comic kämpfen die jungen Erwachsenen in der Wirklichkeit um ihre Zukunft: Aufgewachsen im digitalen Zeitalter, werden sie meist von „Babyboomern“ regiert, der Generation jener, die zwischen 1946 und 1964 das Licht der Welt erblickten. Zu weit öffnet sich für die Nachgeborenen nun die Kluft zwischen Erwartung und Wirklichkeit, zu hoch flogen ihre Hoffnungen auf persönlichen wirtschaftlichen Aufschwung, zu stark schmerzt die erfahrene Chancenlosigkeit – daraus erwächst Bitterkeit, aber auch Protest. Oft braucht er nur einen Zündfunken.
Die Auslöser der Proteste in völlig unterschiedlichen Ländern tragen ähnliche Züge: meist gut ausgebildete junge Menschen, oft Studierende, stehen hoher Inflation, einem Mangel an Wohnraum, stagnierenden Löhnen und Gehältern gegenüber. Ihre soziale Absicherung erscheint ihnen geringer als jene ihrer Elterngeneration. Sie leben in Systemen, die von Vetternwirtschaft und Korruption bestimmt werden. Selbst ernannte Eliten oder Abkömmlinge von Erbhöfen bestimmen das Land.
„Die von Jugendlichen angeführten Unruhen, die Verbreitung kultureller Symbole, die Nutzung digitaler Plattformen zur Organisation und grenzüberschreitende Inspiration zeigen, dass diese Generation neue Wege entwickelt, um Missstände anzuprangern und Rechenschaft einzufordern“, heißt es bei den Wissenschaftlern des Institute for Economics & Peace (IEP) in Sydney über die „Zoomer“.
Proteste inspirieren sich gegenseitig
Soziologen schreiben den heute 15- bis 30-Jährigen als Gruppe zu, offen zu sein, enge soziale Kontakte zu knüpfen, den Ausgleich zwischen Arbeits- und Privatleben zu suchen, Klimaschutz und mentale Gesundheit anzustreben, und sich in der digitalen Welt zu tummeln. Gefördert werden die Proteste auch vom niedrigen Altersdurchschnitt der Menschen in den Schwellenländern – junge Menschen, die alle nach Chancen suchen, befeuert auch durch das Internet. Gerade in Afrika ist die Lage in vielen Ländern dramatisch – nur 24 Prozent der Menschen in Arbeit bekommen ein festes Gehalt, berichtet die Weltbank. „Solche Fälle deuten auf eine zunehmende grenzüberschreitende Dimension des Aktivismus der Generation Z hin, wobei sich die Bewegungen gegenseitig inspirieren und voneinander lernen“, heißt es beim IEP.
Beispiel Marokko: Demonstranten beklagen dort, dass große Infrastrukturprojekte wie der Bau von Stadien im Vorfeld der Fußball‑WM 2030 Vorrang genießen vor Gesundheitssystem, Schulen und grundlegenden sozialen Diensten. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 40 Prozent. Die Proteste der „GenZ212“ kommen auf, während die Regierung das Land als kommenden Produktionsstandort der Autoindustrie vermarktet. Doch mehr als die Hälfte der Marokkaner unter 35 Jahre erwägt, auszuwandern.
Manche erinnern die Proteste an den Arabischen Frühling 2011, der unerwartet in Tunesien begann, oder auch an die Revolution auf Sri Lanka 2022, nachdem das Land wirtschaftlich zusammengebrochen war. Die Journalisten der amerikanischen „Newsweek“ sehen eine Bewegung heraufziehen. „Dieser weltweite Auftrieb unterstreicht, wie eine digital vernetzte Generation traditionelle Machtstrukturen herausfordert, die Politik prägt und die Natur des Protests im 21. Jahrhundert neu definiert.“
Unzufrieden mit dem System
Die massive Kritik fällt auf einen fruchtbaren Boden: Das Pew Research Center ermittelte bei einer Umfrage unter 31.000 Erwachsenen in 25 Ländern, dass in 20 dieser Staaten die Mehrheit der Menschen glaubt, das jeweilige politische System benötige große Änderungen und Anpassungen. Vier von zehn Befragten erklärten, dass eigentlich kein Politiker ehrlich und qualifiziert sei. In Madagaskar treiben Strom‑ und Wasserausfälle, aber auch die grassierende Korruption die Jugendlichen in Antananarivo auf die Straße. Der öffentliche Dienst versagt. Präsident Andry Rajoelina muss das Kabinett entlassen. Zwei Drittel der Menschen hier leben in extremer Armut. Bislang kam es zu zwei Dutzend Toten bei den Protesten der „GenZ Mada“.
Dank der digitalen Vernetzung sind die Jungen gut über Vorgänge und Protestbewegungen in anderen Ländern informiert – ihre Proteste sind digital gesteuert und oft dezentral. Die Demonstranten trennen Ozeane, Gebirge und Zehntausende Kilometer. Doch die Unzufriedenen nutzen Tiktok, Instagram oder auch die Spieleplattform Discord. Hinter den Demonstranten steht keine Partei oder Gewerkschaft; sie werden „fließend“, von Fall zu Fall, über das Internet organisiert. Sie gelten als führerlos.

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So brachte die Demonstranten gegen Korruption in Nepal auf, dass die Regierung auf erste Proteste 26 Social‑Media‑Plattformen zensierte. Damit griff sie direkt in die Entfaltungsmöglichkeiten der Gen Z ein. Der von China gestützte Präsident KP Sharma Oli musste gehen. Fast 70 Demonstranten starben.
Es entwickelt sich eine immer ähnliche Spirale: Auf Auslöser wie Ausschluss von Bildungschancen, ständige Strom‑ oder Wasserausfälle, schlechte Gesundheitsversorgung hin kommt es zu Protesten; die „Nepo-Kids“ – die Nachkommen der Reichen, alteingesessene Familien, die sorglos leben – geraten ins Visier der Aufstrebenden, die sich ausgebremst fühlen. Die Regierungen unterschätzen die Dynamik, reagieren dann mit rascher Repression, die Proteste weiten sich aus und werden – über soziale Medien – weltweit wahrgenommen.
Ignoranz funktioniert nicht mehr
Seit dem Sommer vergangenen Jahres protestieren junge Demonstranten in Kenia unter anderem unter dem Titel „RejectFinanceBill2024“, um höhere Steuern auf Grundnahrungsmittel zu verhindern. Sie dringen bis ins Parlament vor, die Polizei reagiert hart, bislang verloren rund 60 Menschen ihr Leben. Neue Proteste flammten nach dem Tod des Bloggers Albert Omondi Ojwang im Polizeigewahrsam im Juni auf, wieder verloren mehr als 40 Menschen ihr Leben während der Proteste.
„In der Vergangenheit haben Regierungen versucht, diese öffentliche Wut zu bewältigen, indem sie sie ignorierten, beschwichtigten oder unterdrückten“, sagte Michael Kugelman, Fellow bei der Asia Pacific Foundation of Canada. „Aber dieser Ansatz funktioniert nicht mehr.“ Und die Risikoanalysten der britischen Agentur Solace Global schreiben an ihre Klienten: „Es ist sehr wahrscheinlich, dass der weltweite Anstieg von Jugendprotesten zu weiteren Unruhen in vielen anderen afrikanischen Ländern führen wird, wo wirtschaftliche Frustrationen wie Arbeitslosigkeit und steigende Lebenshaltungskosten ebenfalls in der Bevölkerung, insbesondere bei der Generation Z, zu spüren sind.“
Die südafrikanische Zeitung „Daily News“ geht noch weiter: „Es steht zu erwarten, dass Gen-Z-Aufstände in den nächsten zwölf Monaten auch über traditionelle westliche Demokratien hinwegfegen. Diese Proteste wurzeln im wachsenden Glauben, dass die Babyboomer-Generation und ihre Millennials-Kinder die Welt betrogen haben.“ In Europa sehen Politologen auch eine heraufziehende Vermischung mit den wachsenden Protesten gegen die israelischen Angriffe auf Gaza.
Natürlich wird Tilman Fuchs nicht alle Wünsche der Menschen in der Stadt ausbalancieren können. Wie auch. Doch wer immer diese Stadt mit einer gewählten Mehrheit führt, ob wir dafür oder dagegen gestimmt haben: Wir genießen hier, was immer mehr Heranwachsende rund um die Erde so sehr begehren, dass sie dafür ihr Leben riskieren. Die Freiheit, zu wählen.
Herzliche Grüße
Ihr Christoph Hein
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Christoph Hein
ist in Köln geboren und in Münster aufgewachsen. Er hat an der Uni Münster studiert, hier promoviert und während seines Studiums für die Westfälischen Nachrichten und den WDR gearbeitet. Im Jahr 1998 fing er bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung an, zunächst als Korrespondent in Stuttgart. Ein Jahr später ging er als Korrespondent erst für Südostasien und China, ab 2008 für den Süden Asiens einschließlich des Pazifikraums nach Singapur. Dort wurde auch seine Tochter geboren, die inzwischen in Münster studiert. Nach einem Vierteljahrhundert im indo-pazifischen Raum ist er nach Deutschland zurückgekehrt und leitet den wöchentlichen Newsletter F.A.Z. PRO Weltwirtschaft. Christoph Hein hat zahlreiche Bücher publiziert. Gerade ist „Unsere Wirtschaft neu denken. Ein Leitfaden für die Machtverschiebungen unserer Zeit“ im Brandstätter Verlag erschienen.
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