Die RUMS-Kolumne von Michael Jung | Wer Anna Krückmann wirklich war

Porträt von Michael Jung
Mit Michael Jung

Guten Tag,

in Münster gibt es ein Anna-Krückmann-Haus und einen Anna-Krückmann-Weg. Die Familienbildungsstätte heißt schon seit ihrer Gründung in den 1950er Jahren so, der Weg erst seit kurzem, als das Baugebiet neu entstand. 

An verschiedenen Stellen im Netz lassen sich interessante Geschichten über die Namensgeberin lesen – zum Beispiel hier: Eine sozial engagierte, organisationspraktisch kompetente evangelische Christin, die Münsters Hausfrauenverein gründete und später lange leitete, bis die Nationalsozialisten ihn auflösten. Doch das ist eine Legende – die Wirklichkeit sah anders aus. 

Anna Krückmann war die Ehefrau eines Mannes, der in Münster den radikalnationalistischen Alldeutschen Verband leitete, während des Ersten Weltkrieges umfassende Annexions- und Deportationsdystopien entwickelte, die auf einen annexionistischen Siegfrieden zielende Vaterlandspartei mitbegründete und nach dem Krieg einer der führenden Köpfe der republikfeindlichen Deutschnationalen war. 

Sie selbst war über alle Epochenbrüche hinweg eine Protagonistin des Kolonialismus in Münster (auch als die realen Kolonien lang verloren waren), engagierte sich wie ihr Mann bei der Vaterlandspartei, saß für die Deutschnationalen sechs Jahre in der Stadtverordnetenversammlung, trat dort aktiv gegen die republikanische und demokratische Ordnung auf und gehörte dem radikal antisemitischen Deutsch-Völkischen Schutz- und Trutzbund an, der Menschen jüdischer Herkunft die Staatsangehörigkeit entziehen wollte. 

Keine Gegnerin, eine Konkurrentin

Der Hausfrauenverein, den Anna Krückmann in der Weimarer Republik autoritär führte, war auch kein Bund kochender und putzender Frauen, die gelegentlich Ausflüge machten, sondern eine deutschnationale Vorfeldorganisation bürgerlicher Damen, die Boykottaufrufe auf nationalistischer Basis als politisches Mittel etablierte, Vorträge über „Rassenhygiene“ lange vor 1933 organisierte, aktiv gegen Gewerkschaften kämpfte und die Vision von der Hausfrau als der Chefin des bürgerlichen Hauses verfocht, die den Haushalt als Arbeitgeberin führen sollte – und zwar frei von Tariflöhnen und Arbeitszeitbegrenzungen für das angestellte Personal. 

Anna Krückmann war auch keine Gegnerin des Nationalsozialismus, sondern eine Konkurrentin, die drei Jahre lang mit NS-Frauen der jüngeren Generation rang, wer die Führung der Frauenschaft in der Stadt übernehmen durfte, und am Ende knapp im Machtkampf unterlag.

Wie konnte es kommen, dass eine solche Frau nach dem Zweiten Weltkrieg zur Namenspatronin einer Familienbildungsstätte und einer Straße wurde? Ursächlich dafür war eine Legende, an der sie selbst noch aktiv mitgearbeitet hatte. Nachdem ihr Mann bei dem verheerenden Bombenangriff auf Münster am 10. Oktober 1943 ums Leben gekommen und ihr gesamtes Haus zerstört war, kam Anna Krückmann bei Freunden aus dem deutschnationalen Netzwerk im Münsterland unter und kehrte erst 1948 nach Wolbeck (was damals noch nicht zu Münster gehörte) zurück. 

Ihr blieben noch sieben Jahre, in denen sie ihre Geschichte neu erzählen konnte. Die Ursprünge des Hausfrauenvereins im Kolonialfrauenbund verschwieg sie jetzt ebenso wie die nationalistischen Boykottaufrufe oder den Kampf für den Statuserhalt der bürgerlichen Frau als Chefin des Hauses. 

Ein Bild, das sich gut einfügte

Von Antisemitismus war jetzt keine Rede mehr. Stattdessen zeichnete sie das Bild eines Vereins von Mittelschichtsfrauen, der eine Art Konsumverein gewesen sei, regelmäßig schöne Ausflüge gemacht habe und in dem emsig rackernde Hausfrauen mit technischen Innovationen wie Staubsaugern bekannt gemacht worden seien, die ihnen Entlastung von ihrer harten Arbeit versprechen konnten. 

Das war nicht völlig falsch, aber nur die halbe Wahrheit, vor allem ein Bild, das sich gut einfügte in die rekonstruierte Bürgerlichkeit der frühen 1950er-Jahre. Sie selbst ließ sich porträtieren als gütige ältere Ratgeberin – eine Journalistin verglich sie gar mit Goethes Mutter. 

Sie selbst, so wusste sie zu berichten, sei von ihrem Mann, dem Professor und Geheimrat, immer wieder als „Köchin Anna“ im Bekanntenkreis gelobt worden, so als hätte sie selbst als Hausfrau stets am Herd gestanden und als würden nicht Stellenanzeigen in den Lokalzeitungen über 40 Jahre die Suche nach Hauspersonal auch für die Küche des Hauses Krückmann dokumentieren.

Die Strategie war ebenso klar wie erfolgreich: Anna Krückmann wollte einen Verein geführt haben, der den Vorstellungen der mittelschichtsorientierten Nachkriegszeit entsprach. Von der deutschnationalen, kolonialistischen und antisemitischen Agenda der Zwischenkriegszeit war keine Rede mehr. Sie übernahm zwar – inzwischen über 80 Jahre alt – nicht mehr die Führung des wiederbegründeten Hausfrauenvereins, aber sie ließ sich ganz im alten Stil bei ihren Auftritten dort von den alten Getreuen feiern. Als sie Anfang 1955 starb, hatte sie das Bild der Vergangenheit selbst noch gezeichnet, das sie erinnert haben wollte.

Ihre zweite Nachfolgerin an der Spitze des Hausfrauenvereins, Johanne Walhorn, teilte mit Anna Krückmann zwei Gemeinsamkeiten: Auch sie führte den Verein als nichtkonfessionelle Einheit (und das hieß in Münster: der Verein war dezidiert nicht Teil des katholischen Milieus), und sie stammte als Rechtsanwältin auch aus dem juristisch gebildeten Bürgertum. 

Politisch aber einte Walhorn und Krückmann nichts, denn Walhorn zog in den 1960er-Jahren für die SPD in den Stadtrat ein. Dennoch gab sie der von ihr gegründeten Familienbildungsstätte den Namen Anna Krückmanns. 

Eine Sozialdemokratin erhielt das Denkmal

Dafür dürfte es gute Gründe gegeben haben, denn noch in den 1970er Jahren finden sich im Beirat des Hauses Damen aus genau jenen Familien des Wirtschaftsbürgertums, die einst den Vorstand des Hausfrauenvereins unter Krückmann gebildet hatten. Rücksicht auf die Loyalistinnen der älteren Generation dürfte hier also entscheidend gewesen sein. 

Walhorn richtete den Verein neu aus: Zwar wurden weiterhin Produkte durch die Hausfrauen boykottiert, allerdings richtete sich der Zorn der Endverbraucherinnen jetzt nicht mehr gegen die Feinde im Ausland, sondern gegen die Preise der heimischen Produzenten. 

Folgerichtig positionierte Walhorn den Verein an der Seite des Deutschen Gewerkschaftsbundes – das war das genaue Gegenteil dessen, was Krückmann in den Weimarer Jahren verfochten hatte. Die Pflege der Krückmann-Tradition war ganz offensichtlich der traditionalistische Deckmantel für die inhaltliche Neuausrichtung. 

Eine Sozialdemokratin erhielt das Denkmal, das die deutschnationale Protagonistin sich gebaut hatte. Man hätte denken können, dass mit einem Generationswechsel die Krückmann-Tradition an ihr Ende hätte kommen können. Doch das Gegenteil war der Fall.

Als in den 1980er und 1990er-Jahren zivilgesellschaftliche Gruppen sich bis dahin von der akademischen Forschung marginalisierter Aspekte der Geschichte anzunehmen begannen, da waren es vor allem Menschen aus dem Milieu der SPD und der neu entstandenen Grünen, die diese Bewegung in Münster trugen. 

Die Aufdeckung von NS-Verbrechen und die Beschäftigung mit der Perspektive von Frauen in der Geschichte waren zwei zentrale Themenbereiche. Es spricht für die politische Kultur der Stadt in jenen Jahren, dass die Herausgeforderten sich dem Diskurs stellten. 

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So waren in der Arbeitsgemeinschaft Münsterscher Frauenorganisationen auch Christdemokratinnen aktiv. Und wenn ein damals herausgegebener Sammelband zur Frauengeschichte der Stadt zwar sehr deutlich der Suche nach „progressiven“ Perspektiven verpflichtet war, hinderte das eine Christdemokratin nicht, auch eine bürgerliche Frauenbewegung zu entdecken. 

In den Jahren 1987 bis 1993, also im Vorfeld des Stadtjubiläums, machte sich Magdalena Gefroi auf die Suche nach einer bürgerlichen Frauenbewegung. Sie fand Anna Krückmann. Die war nicht links gewesen, sondern schien mit ihren Hausfrauen irgendwie konservativ und bürgerlich. 

Gefroi startete umfangreiche Forschungen, die sie ausweislich ihrer im Stadtarchiv erhaltenen Unterlagen allerdings nur zu den Quellenzeugnissen der Nachkriegszeit führten. So reproduzierte sie mit hohem Aufwand das, was Anna Krückmann selbst vor ihrem Tod als Legende formuliert hatte. 

Gefroi sah den Hausfrauenverein als eine Selbstorganisation bürgerlicher Frauen, sie machte sich auf die Suche nach politischen Umsetzungserfolgen Anna Krückmanns als Stadtverordnete und schrieb ihr die Etablierung von Frauentoiletten auf dem Domplatz zu Die spätere Vorsitzende des Sozialausschusses sah in Krückmann eine sozialpolitisch engagierte Protagonistin. 

In zwei biographischen Manuskripten hielt sie ihre Ergebnisse fest, Quellen aus der Zwischenkriegszeit hatte sie mit Ausnahme der Personalakte von Paul Krückmann nicht eingesehen. 

Die Legende übertrug sich in die Forschung

So formulierte sie neu, was in der Nachkriegszeit als Legende entstanden war. Und ausweislich ihrer Aufzeichnungen ließ sie sich auch nicht von dem Umstand aufhalten, dass die DNVP nach ihren Recherchen „antisemitisch“ gewesen sei. Die Frage, ob ihre Protagonistin das vielleicht auch gewesen war, trieb sie nicht um. Anna Krückmann sollte eine bürgerliche Frauenaktivistin gewesen sein. 

Gefroi sammelte bei den Münsterschen Frauenorganisationen Geld für die Sanierung und Pflege der Grabstätte der beiden Krückmanns, die noch heute erfolgt. So bestätigten zwei politisch in demokratischen Parteien und im Stadtrat aktive Frauen, Johanne Walhorn von der SPD und Magdalena Gefroi von der CDU, die Legende, die eine Deutschnationale in der Nachkriegszeit gesponnen hatte. 

Am Erstaunlichsten aber ist, dass diese Legendenbildung sich sogar in die zeitgenössische historische Forschung übertrug. Als in einer Dissertation 1992 die Geschichte rechtsextremistischer Organisationen in Münster vor 1933 erschlossen wurde, da entdeckte der Autor die Mitgliedschaft Anna Krückmanns im antisemitischen Deutsch-Völkischen Schutz- und Trutzbund in den Archivquellen und wies dies auch nach. 

In seinem Vorwort aber stellte er – bezeichnenderweise ohne Quellenbeleg – die Behauptung auf, Krückmann habe sich später davon distanziert, und er rückte sie an die Seite des von den Nationalsozialisten ermordeten Oberpräsidenten Ferdinand von Lüninck und des jahrelang im KZ inhaftierten Pfarrers Martin Niemöller. 

Dabei hatte Anna Krückmann bei bester Versorgung die freundlichen Glückwünsche der NS-Organisationen zu ihren Geburtstagen entgegengenommen, während ihr Mann der Reichskanzlei briefliche Ratschläge zur Enteignung „jüdischen“ Vermögens gab. 

Mit dieser Behauptung ging der Autor der Dissertation noch über die eigene Legende von Anna Krückmann hinaus: Die hatte zwar nach 1945 vieles aus ihrem Narrativ eliminiert. Aber zu Erklärungen von Reue und Umkehr hatte sie keinen Grund gesehen, nicht einmal zum Opfer hatte sie sich gemacht, im Gegenteil: Ihr Vorwurf an die Nationalsozialisten war, dass sie sie bei der Auflösung des Hausfrauenverbands getäuscht hätten. 

Es gab auch rechtsextremistische Frauen

Darin spiegelte sich noch die Erinnerung an den verlorenen Machtkampf und die Stellung als „Führerin“ aus eigenem Recht, aber eine inhaltliche Distanzierung war das nicht. So brachten die 1990er-Jahre nicht eine Dekonstruktion der Krückmann-Legende, sondern ihre Bestätigung.

Im Jahr 2017 erfolgte dann die Benennung einer Straße in Rumphorst nach Anna Krückmann. Es ist bemerkenswert, dass niemand in der Verwaltung es für nötig hielt, die zuständige Bezirksvertretung auf die damals auch schon seit 25 Jahren in der Literatur dokumentierte Mitgliedschaft Anna Krückmanns im antisemitischen Trutzbund hinzuweisen (der im Übrigen wegen der Verstrickung in den Rathenau-Mord 1922 verboten wurde). 

So bekam der Weg seinen Namen, und man sieht: Die in Münster aktuell vorherrschende Tendenz, Frauennamen bei Straßenbenennungen für politisch korrekt zu halten und nicht weiter zu recherchieren, kann auch zu groben Fehlern führen. Es gibt auch rechtsextremistische Frauen. Anna Krückmann war eine davon. Eine Antisemitin, kolonialistische Protagonistin und eine entschiedene Gegnerin von Republik und Demokratie. 

Herzliche Grüße

Ihr Michael Jung

Im April erscheint im Aschendorff-Verlag Michael Jungs Buch „Im Netz der Rechten“ über das Ehepaar Anna und Paul Krückmann. Hier können Sie es vorbestellen.

Porträt von Michael Jung

Michael Jung

… lebt schon immer in Münster. Er wurde 1976 hier geboren. Er hat an der Uni Münster Latein und Geschichte studiert und in Geschichte promoviert. Heute ist er Lehrer am Annette-Gymnasium in Münster. Michael Jung war viele Jahre in der Politik: Von 2013 bis 2020 war er Fraktionschef der SPD im Rat der Stadt. Im Jahr 2020 trat er für die SPD bei den Kommunalwahlen als Oberbürgermeisterkandidat an.

Die Kolumne

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