Die Kolumne von Michael Jung | Wetterampel statt Verkehrswende

Porträt von Michael Jung
Mit Michael Jung

Guten Tag,

wenn Sie wie ich schon ein bisschen älter sind, dann können Sie sich bestimmt noch erinnern. Vor langer Zeit, es muss im Sommer 2020 gewesen sein, herrschte Aufregung in der Stadt. Es war Kommunalwahlkampf, und es ging um die Frage, ob Münster eine autofreie Innenstadt bekommen sollte oder nicht.

Die CDU warnte vehement davor, der Untergang des Einzelhandels drohe, und vielleicht noch größere Katastrophen. Die Grünen aber stritten für ihre älteste Idee, als hätten sie sie gerade neu erfunden: Die Parkhäuser in der Innenstadt sollten geschlossen, die wichtigsten Achsen in der Altstadt für den Autoverkehr gesperrt werden.

Der Ausgang der Wahl ist bekannt: Die CDU wurde knapp stärkste Partei, geriet aber mangels politischer Partner im Rat in die Isolation. Die Grünen führen seither eine politische Mehrheit im Rat an, die noch keine einzige Abstimmung verloren hat. Und seither läuft es heiß in der Verkehrspolitik, aber anders, als man hätte denken können.

Atemlos diskutiert die Stadt aufregende Projekte in der Verkehrspolitik – jetzt gerade ist es eine Wetterampel. In einem Versuch soll eine Ampel installiert werden, die bei schlechtem Wetter an einer Stelle Radfahrenden Vorrang gibt.

Ganz Deutschland blickt auf dieses Projekt, so wissen die Westfälischen Nachrichten zu berichten, die immer einen sicheren Blick für das Einzigartige und Großartige in Münster haben. Und so wird Deutschlands erste Wetterampel wohl bald kommen – und so ist Münsters Verkehrspolitik: innovativ, einzigartig, sensationell.

Neuer Versuch, neue Debatte

So war es schon zuvor der Leezenflow, der Radfahrenden zuerst an der Promenade 20 Meter vor der Ampel anzeigte, ob die rot oder grün leuchtet. Dieses fantastische und nur wenige zehntausend Euro teure Projekt ermöglicht es seither Menschen, die mit dem Rad unterwegs sind, 20 Meter vor einer roten Ampel noch einmal abzusteigen, ins mitgebrachte Biodinkelbrötchen zu beißen oder dem Kind im Lastenrad noch einen Karottenstick zuzustecken.

So komfortabel war es früher nicht, als man erst zwanzig Meter weiter erfuhr, ob die Ampel rot zeigt. Das sind Münsters Verkehrsversuche, die die Verkehrspolitik revolutionieren. Es gab auch schon eine Busvorrangspur, eine Promenadenkreuzung mit Vorfahrt für Radfahrende, und manch andere Sensation, die bald wieder verschwand, denn die nächste wartete schon.

Neuer Versuch, neue Debatte, in dichtem Takt folgt ein aufregendes Projekt dem nächsten. Nur die autofreie Innenstadt, die kam noch nicht vor.

Das ist das politische Ergebnis mehr als vier Jahre nach der Wahl und kurz vor der nächsten: Es ist kein Parkhaus geschlossen, keine Straße für den Autoverkehr gesperrt in der Altstadt, und nicht einmal die Autos sind weniger geworden, im Gegenteil. An der fehlenden politischen Mehrheit hat es nicht gelegen.

Dass das Programm von 2020 bisher nicht Wirklichkeit wurde, liegt an einem bemerkenswerten Strategiewechsel der Gegenseite. Als es in den 1990er-Jahren schon einmal hoch her ging in der Verkehrspolitik, da waren die Fronten klar: Hier eine rot-grüne Ratsmehrheit, die Straßen sperrte, Parkgebühren erhöhte, Fahrradparkhäuser baute und Autoparkplätze zu Fahrradstellplätzen machte.

Auf der anderen Seite stand eine oppositionelle CDU, die Alarm schrie, der Oberbürgermeisterin jedes Knöllchen persönlich zuschrieb, und der Generation Bleifuß versicherte, dass Bremswege nicht von der Physik, sondern vom fahrerischen Können abhängen und Tempolimits daher überflüssig seien.

Seit 2020 kam es zwar zu ähnlichen Mehrheitskonstellationen, aber nicht zum alten Geschrei. Die CDU und ihre Mannschaft in der Verwaltung hatten sich anders aufgestellt.

Dieses Mal war die Strategie anders. Die Verwaltung wartete nicht auf die politischen Anträge der Grünen, sondern flutete den politischen Raum mit viel hauptamtlicher Power selbst mit Ideen, die stets transformierend klimafreundlich ausgeschmückt waren: Könnte man den Fahrradverkehr nicht mit einem millionenschweren „Flyover“ am Aasee fördern? Einen Leezenflow, eine Wetterampel, wäre das nicht was?

Alles dient dem großen Ziel

Oft kommen die Vorschläge als Verkehrsversuch daher, und natürlich ist die Verwaltung flexibel, hier und da mal eine grüne Idee aufzugreifen: eine Busvorrangspur am Bahnhof oder eine Fahrradvorfahrt an der Promenade?

Kann auch mal probiert werden, warum denn nicht? Und so startet ein Verkehrsversuch nach dem anderen, der große Vorteil dabei: Er wird intensiv diskutiert, dann umgesetzt, und dann wieder abgeräumt und natürlich gut evaluiert.

Und dann steht schon der nächste an. Aber alles dient dem großen Ziel der Verkehrswende. Damit das Ziel nicht aus dem Auge verloren wird, gibt es natürlich auch Masterpläne. Da finden sich die radikalen Ideen der Grünen in politischen Grundsatzbeschlüssen wieder.

Der Masterplan 2035+ etwa dokumentiert, wie radikal die Verkehrswende ausfallen könnte: „2035+“. Das heißt: nicht so bald, in gut zehn Jahren. Oder irgendwann mal. Hauptsache, nicht jetzt. Ein klares Nein kommt nie von der Verwaltung, das ist anders als früher.

Die Grünen werden umarmt und ganz lieb mit einem kleinen Sachzwang vertröstet. Im Moment gerade schwierig, aber das ist doch was für den Masterplan. Ganz tolle Idee, 2035+ könnte es soweit sein.

Nur ganz selten schert mal einer aus der Strategie aus – so geschehen, als der Stadtwerke-Geschäftsführer mittels Interview in den Westfälischen Nachrichten wissen ließ, Metrobusse würden nicht funktionieren und Busvorrangspuren kämen bestimmt nicht zulasten des Autoverkehrs.

Das war ein Ausreißer, der sich nicht wiederholen sollte. Klare Absagen an grüne Verkehrsideen gibt es nicht, Konflikt und Richtungsstreit wird vermieden, stattdessen wird auf Versuch reduziert und auf der Zeitachse geschoben. So ist die Wahlperiode schon fast rum, und die Stadt hat viele Verkehrsversuche gesehen, aber keine Verkehrswende.

Die Illusion von Macht

Das ist kein Zufall, sondern Strategie. Im Kern sieht die Stadt verkehrspolitisch heute genauso aus wie 2020. Oder, anders gesagt, sie sieht genau so aus, als hätte die CDU die Mehrheit im Rat gewonnen, und nicht die Grünen.

Die Strategie der Planungsverwaltung, die vom auf Vorschlag der CDU gewählten Stadtbaurat Robin Denstorff geführt wird, hat die Grünen nämlich an ihrer empfindlichsten Stelle getroffen und nicht etwa auf Konfrontation gesetzt.

Stattdessen hat sie erkannt, dass die Grünen am liebsten Mikromanagement betreiben. Und grüne Ratsmitglieder wollen vor allem eines sein: Als die fachlich Besten anerkannt, deswegen wühlen sie sich emsig durch alle Papiere, die die Verwaltung ihnen hinlegt und diskutieren jedes Detail aus.

In endlosen Hintergrundgesprächen muss das alles mit der Verwaltung besprochen werden, es ist die kleine Illusion von Macht, wenn man im Vorfeld einer Ratssitzung oder in den Sitzungen dafür sorgen kann, dass der Beschluss eine andere Formulierung bekommt.

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Das ist ein ewiges Hamsterrad, aber natürlich gibt es immer endlos viel zu tun in der Detailsteuerung, und man ist im Perpetuum mobile des Austauschs mit der Fachverwaltung. Hier ein Gremium, da eine Besprechung, dort ein Telefonat.

Jeder Verkehrsversuch muss im Vorfeld in jedem Detail diskutiert werden, muss begleitet, hinterher evaluiert werden. Die Verwaltung weiß, wie sehr die Grünen das mögen, wichtig zu sein und zu Details befragt zu werden, und liefert das Futter mit endlosen Vorlagen und tausenden Details.

Fürs Gefühl, auch das große Rad zu drehen, gibt es den verbalradikalen Masterplan für die fernere Zukunft. Die Beschlusslage stimmt, und wenn nicht, wird sie mit seitenlangen Änderungsanträgen geändert. Das ist das Modell der letzten vier Jahre im Rathaus.

Die grüne Mehrheit überwintern

Kurz vor Toresschluss fiel der Mehrheit doch noch auf, dass noch nicht viel passiert ist in der Realität auf der Straße: Da gab es einen Beschluss, die Königstraße zu sperren und den Bült (als Versuch natürlich nur, die Politik macht sich schon vorausschauend klein und passt sich der Verwaltung an).

Das mit dem Bült räumte die Verwaltung natürlich schnell ab – eine Sachzwangkulisse fand sich schnell, die Bült-Sperrung war also vom Tisch (verschoben natürlich nur, aber hinter die Wahl), es blieb die Königsstraße, wo jetzt die Parkschlange am Arkaden-Parkhaus angegangen werden soll. Nicht etwa durch dauerhafte bauliche Änderungen, sondern mit Hinweisschildern und Personal.

Nichts also, was nicht in einem halben Jahr nicht auch ebenso rückstandslos wieder zu entsorgen wäre wie andere Verkehrsversuche, und genug, um vielleicht etwas willkommenen Ärger für die Grünen zu haben im Wahlkampf, wo es etwas dosierten Unmut aus dem Auto gibt.

So gelang es der Verwaltung in den letzten vier Jahren, viel Wind um nichts zu machen. Am Ende sehen die Straßen – bis auf die Rotfärbung einiger Fahrradstraßen – genauso aus wie vor der letzten Wahl. Und natürlich war es immer das Ziel, die Zeit einer grüngeführten Mehrheit zu überwintern.

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Das hat, muss man anerkennen, gut geklappt. Das Agenda-Setting in Sachen Verkehr betrieb die ganze Zeit über die Verwaltung, und nie die Politik. Das sollte nicht nur in der Theorie eigentlich andersherum sein. So kamen die Grünen nie in die politische Vorhand mit ihren Ideen, weil sie sich stattdessen an den Ideen anderer emsig abarbeiteten, die nicht als Gegenentwurf, sondern als grün eingefärbtes Placebo daherkamen.

So kann es gehen, wenn man sich selbst für die einzig Schlauen in der Politik hält und glaubt, als einzige eine Strategie zu haben. Dann übersieht man die Strategie der Gegenseite, weil man deren Existenz gar nicht für möglich hält, und sieht den Wald nicht mehr, weil man sich tief ins Unterholz locken lässt, das aber für fachlich besonders wichtig hält.

So hat man keinen Raum mehr für die eigenen Ideen, weil man zugeschüttet wird mit Vorlagen der Verwaltung. So kommt nach dem Leezenflow die Wetterampel, nur die Verkehrswende oder die autofreie Innenstadt, die kommen sicher nicht mehr bis zur nächsten Wahl. Und danach kommen sie vielleicht überhaupt nicht mehr.

Der Plan ist aufgegangen

Die verkehrspolitische Bilanz der letzten Jahre ist mehr als ernüchternd für alle, die sich bei der Wahl 2020 eine Veränderung gewünscht haben.

In Zahlen heißt das: Am 1. Januar 2024 waren in Münster 179.066 Autos zugelassen, 2019 waren es noch 168.450. Hat geklappt mit der autofreien Stadt, nur 10.000 Autos mehr in fünf Jahren.

Dazu passt, dass die 2020 diskutierte Münsterland-S-Bahn in weiter Ferne liegt, die Wiedereröffnung der WLE-Strecke sich von 2023 auf unbestimmte Zeit verspätet, die Stadtwerke Buslinien zusammenstreichen, die Eurobahn die Anbindung nach Osnabrück ausdünnt, die Landkreise die Busverbindungen nach Münster kürzen und die Ratsmehrheit trotz Einführung des Deutschlandtickets lieber monatelang über ein Münster-Ticket für zwischendurch mal 29 Euro diskutiert und im Ergebnis den Stadtwerken hohe Beträge aus dem Haushalt dafür herschenkt.

Jetzt ist bald wieder Kommunalwahlkampf. Wir dürfen gespannt sein, was da diskutiert wird. Aber seien Sie beruhigt: Hinterher bleibt in Münster alles, wie es ist. So haben wir es doch auch am liebsten. Eine Wetterampel macht auch weniger Ärger als eine autofreie Innenstadt.

Die Grünen sind irgendwo im Unterholz der Verwaltung unterwegs, aber wir müssen sie uns als glücklich vorstellen, denn niemand kennt die Details dort besser als sie. Von der Verwaltung bekommen sie gute Beurteilungen dafür. Der Plan ist jedenfalls aufgegangen: Es ist nichts passiert, und die Grünen waren allezeit gut beschäftigt. Deswegen bekommen wir eine Wetterampel und keine autofreie Innenstadt.

Herzliche Grüße
Ihr Michael Jung

Porträt von Michael Jung

Michael Jung

… lebt schon immer in Münster. Er wurde 1976 hier geboren. Er hat an der Uni Münster Latein und Geschichte studiert und in Geschichte promoviert. Heute ist er Lehrer am Annette-Gymnasium in Münster. Michael Jung war viele Jahre in der Politik: Von 2013 bis 2020 war er Fraktionschef der SPD im Rat der Stadt. Im Jahr 2020 trat er für die SPD bei den Kommunalwahlen als Oberbürgermeisterkandidat an.

Die Kolumne

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