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Klaus Brinkbäumers Kolumne | Was passiert nach der US-Wahl? | Fünf Szenarien
Guten Tag, liebe Heimatstadt,
seit knappen zwei Wochen bin ich nun in Deutschland, und ich wundere mich über diese Bundesrepublik, die aus der Nähe nämlich nicht mehr so krisenfest aussieht wie aus der Distanz. Von New York aus betrachtet schien es ja ganz und gar eindeutig: Die USA waren das dysfunktionale, weil richtungslose Land, das sich nicht einmal mehr auf eine Wirklichkeit verständigen und darum auch keine Pläne entwickeln kann.
Deutschland hingegen schien, über den Atlantischen Ozean hinweg und aus der Distanz beobachtet, zu wissen, was es will: Diese Bundesrepublik war eine erwachsene, reife Demokratie, die ihre Richtung kannte, dem eigenen Wissen, also den eigenen Fachkräften vertraute, und die deshalb fähig war, aus Gemeinsinn Schlagkraft werden zu lassen.
Schon wahr, auch Deutschland musste früh die Thesen einiger alternder Herren ertragen, die gern wieder wichtig wären und das Tragen einer Maske zur Pose der Unterwerfung unter eine Diktatorin Merkel erklärten. Sich selbst ernannten diese alternden Herren zu den letzten frei denkenden und darum einzig intelligenten Menschenwesen und natürlich zu Helden des Widerstands – weil sie so tapfer waren, Klugheit und Solidarität zu verweigern, mehr war’s ja nicht.
Was ich eigentlich sagen wollte: Das Land schien so viel weiter zu sein als diese Wenigen. Es schien eine Strategie zu haben, diese umzusetzen und immer dort, wo es nötig war, zu justieren – wer in New York oder Washington fragte, welche Nationen in der Covid-Krise Vorbilder für die USA sein könnten, hörte im April, Mai, Juni: Neuseeland natürlich – und Deutschland.
Nun, zurück in der Heimat, sieht diese Heimat anders aus.
Fragiler.
Die Corona-Zahlen steigen wieder. Die Regierung dringt mit Appellen nicht durch. Die Länder kritisieren und beschimpfen einander, kommen längst zu unterschiedlichen Regeln. Wer darf wohin reisen? Nach welchen Kriterien? Viele Menschen scheinen das Thema leid zu sein, erschöpft zu sein, obwohl die Lage ja unverändert ist, sie scheinen Covid fortzuwünschen. Wer noch vor drei Wochen in den vermeintlich chaotischen Vereinigen Staaten Bahn gefahren ist und nun in deutsche Züge steigt, bemerkt den Unterschied sofort: Dort, in den USA, funktionieren Sitzplatz-Reservierungen so, dass alle Fahrgäste Abstand zueinander halten können. Hier nicht. Hier wird aus einer Reservierung für einen Gangplatz im Großraum ohne Benachrichtigung ein Fensterplatz in einem Abteil mit fünf anderen Fahrgästen, von denen zwei keine Maske tragen, da sie die gesamte Fahrt (zwei Stunden lang) zum Frühstück erklären.
Das stärkere, das robustere Land… wirklich?
Wie stolz wir Deutschen auf unsere Regeln sind, wie eisern wir diesen Regeln folgen, auch wenn die Regel selbst keinen Sinn ergibt. Maske auf, wenn wir in der Elbphilharmonie herumgehen, Maske runter, sobald wir sitzen – wieso?
Ob ich gehe oder sitze, interessiert die Aerosole gewiss außerordentlich.
Sie lächelten über Mund-Nasen-Bedeckungen
In den USA sind es nun 213.000 Covid-Tote. Das Weiße Haus ist zu einem Epizentrum der speziellen Art geworden, besonders der West Wing, das wahre Zentrum der Weltmacht.
Präsident Donald Trump ist erkrankt. Seine Ehefrau, Melania Trump, ist erkrankt. Die treue Beraterin des Präsidenten, Hope Hicks, ist erkrankt, ihr Fall wurde als erster bekannt, was aber nicht heißt, dass Frau Hicks alle anderen angesteckt haben muss. Stephen Miller ist erkrankt, Redenschreiber und wichtigster Stratege des Präsidenten, Erfinder all der xenophoben und rassistischen Trump-Reden.
Auch Nicholas Luna, Assistent des Präsidenten, auch Kayleigh McEnany, Pressechefin, auch Karoline Leavitt, stellvertretende Sprecherin, auch Chad Gilmartin, Jalen Drummond und Harrison W. Fields, allesamt stellvertretende Sprecher, sind erkrankt. Denn es ist keine Frage, so sagt es der Epidemiologe Anthony Fauci, dass es einen „super-spreader event“ im Weißen Haus gab, ohne Regeln, ohne Abstand, ohne Masken: Am 26. September stellte Donald Trump dort die mutmaßliche neue Supreme-Court-Richterin Amy Coney Barrett vor, und nun sind über ein Dutzend Teilnehmer krank.
In diesem Weißen Haus läuft nicht mehr viel rund. Einer der Mitarbeiter, mit denen ich in den vergangenen Monaten regelmäßig sprechen durfte, sagt, dass seit Beginn der Pandemie alle, die eine Mund-Nasen-Bedeckung tragen, belächelt und verspöttelt würden. Die Maske ist zum ultimativen Symbol des amerikanischen Kulturkriegs geworden: Wer sie trägt, gilt den einen, den Demokraten, als klug, sorgsam und solidarisch – und den anderen, den Republikanern als feige, unterwürfig, schwach.
Gelogen wird auch, ständig. Warum informierte die Trump-Kampagne die Kampagne des Rivalen Joe Biden nicht, obwohl sich beide Teams zur ersten Fernsehdebatte trafen? Wann erfuhr der Präsident von der eigenen Erkrankung? Wie viele Tests gab es? Bekam der Präsident Sauerstoff? Welche Medikamente bekam er außerdem? Die Öffentlichkeit muss nicht alles wissen, aber wenn Männer, die weit über 70 Jahre alt sind, für höchste Ämter kandidieren, wird der Gesundheitszustand relevant.
Viele Geschichten, viele Wahrheiten schwirren durcheinander, widerlegen einander; Trump will stärker als Corona sein, viril, unbeugsam – ist es eigentlich Zufall, dass es immer wieder ältere Herren sind, die ausgerechnet durch ihren Kampf gegen die Realität den Heldenstatus erreichen wollen?
In der Limousine ließ Trump sich vor dem Krankenhaus auf und ab fahren, seine Anhänger jubilierten; und nur Demokraten stellten die Frage, warum eigentlich die Leibwächter, Agenten, Fahrer für solche PR-Auftritte in Gefahr gebracht wurden. Dann flog Trump auch schon zurück zum Weißen Haus, im Hubschrauber, und auf dem Balkon riss er sich in dramatischer Geste die Maske vom Gesicht – es war eine jener Posen der Trump-Jahre, die bleiben werden.
Die USA schaffen es selbst in diesen Krisentagen nicht, Einigkeit oder zumindest eine gedämpfte Tonlage zu finden. Ein Deutungskrieg ist entbrannt. Ist die Erkrankung Trumps der finale Beweis für Inkompetenz und Rücksichtslosigkeit? Das sagt der demokratische Kandidat Joe Biden. Ist die Krankheit der Beweis für Kampfgeist, für den Mut, hinaus ins Land zu treten? Das sagen Trumps Leute.
Und Trump sagt: „Fürchtet euch nicht vor Covid.“
Was passiert, wenn…?
Spielen wir einige Szenarien durch:
1. „Donald Trump ist zu krank, um am 3. November bei der Wahl anzutreten.“
Dann tritt er dennoch an. Die Wahl nämlich läuft bereits, das sogenannte „early voting“ und die Briefwahl haben in diversen Bundesstaaten schon begonnen, und die Namen Trump und Biden stehen auf den Stimmzetteln. Denken wir dieses Szenario folglich weiter: Sollte Trump die Wahl gewinnen und zu krank sein, die zweite Amtszeit anzutreten, würde Mike Pence Präsident werden, denn dieser kandidiert als Vizepräsident an Trumps Seite.
2. „Donald Trump verliert nach absoluter Stimmenzahl und gewinnt trotzdem.“
Das ist trotz aller auf einen Biden-Sieg hindeutenden Umfragen möglich, der Grund liegt im Wahlrecht: Die absolute Stimmenzahl spielt am 3.11. keine Rolle. Es geht in den USA darum, in genügend Bundesstaaten jeweils die Mehrheit zu erringen und dadurch auf die Mehrheit von 538 Wahlleuten zu kommen (also 270 Wahlleute). Wer in einem Bundesstaat 50,1 Prozent der Stimmen hat, erhält dort 100 Prozent der Wahlleute: „the winner takes all“. So konnte es geschehen, dass Hillary Clinton 2016 landesweit rund drei Millionen Stimmen Vorsprung vor Trump hatte und trotzdem die Wahl verlor. Derzeit liegt Biden in den umkämpften Bundesstaaten (Florida, Pennsylvania, Michigan, Wisconsin, Ohio) vorn, prognostiziert wird landesweit sogar ein Biden-Vorsprung von bis zu sechs Millionen Stimmen. Sollte Trump derart hoch verlieren und aufgrund des windschiefen Wahlrechts trotzdem gewinnen, könnte diesmal die Einheit der Nation gefährdet sein: Kalifornien könnte die Unabhängigkeit anstreben. Wahrscheinlich ist ein radikaler Vollzug solcher bislang zaghaft diskutierten Pläne nicht, eine Modernisierung des Wahlrechts allerdings auch nicht, da die Republikaner, die von den heutigen Verzerrungen profitieren, zustimmen müssten.
3. „Biden gewinnt, doch Trump räumt das Weiße Haus nicht.“
Es hängt davon ab, wie eindeutig ein Biden-Sieg ausfällt. Drei Unterszenarien: Wenn Biden in den meisten der sogenannten Swing States gewinnt und dadurch sein Wahlsieg hoch ausfällt, werden die Republikaner Trump zu Seite räumen und so tun, als hätten sie dessen Lügen, Misogynie, Rassismus und Nepotismus nie mitgetragen. Wenn Biden knapp gewinnt, werden Trumps Söhne, vor allem Don Jr., und Leute wie der Fox-Moderator Tucker Carlson versuchen, 2024 die Nominierung der Republikaner zu erringen. Wenn Bidens Sieg an nur einem Bundesstaat hängt, wird Trump über Klagen oder auch durch schiere Wortmacht – indem er im Verbund mit Fox News in der Wahlnacht den eigenen Sieg verkündet und die Ergebnisse der Briefwahl nicht abwartet – versuchen, Fakten zu schaffen.
4. „Ganz unabhängig vom Ergebnis, die Wahl wird ins Chaos führen, Amerika steht vor einem Bürgerkrieg.“
Nein. Es gibt zwar Milizen, und es gibt jede Menge Waffen in den USA; und Trump erzählt seinen Anhängern seit Wochen, dass seine Niederlage nur möglich sei, wenn die Demokraten mit Wahlbetrug durchkämen. Wahrscheinlich sind darum Proteste, gewiss Feindseligkeiten, nicht aber ein Bürgerkrieg.
5. „Biden gewinnt, und die USA sind geheilt.“
Ebenfalls nein. Polarisierung und Hass reichen tief. Biden, 77, ist kein kraftvoller Kandidat. Und wirklich regieren kann eine Partei in den USA nur in jenen knappen Phasen, in denen sie zugleich das Weiße Haus, den Senat und das Repräsentantenhaus hält. Dass die Demokraten am 3. November auch den Senat gewinnen, ist möglich, aber nicht wahrscheinlich: 47:53 steht es aus ihrer Sicht dort im Moment, und nur 33 Sitze stehen zur Wahl.
Ich wünsche Ihnen einen schönen Sonntag im schönen Münster.
Herzliche Grüße
Ihr Klaus Brinkbäumer
Schreiben Sie mir gern; Sie erreichen mich unter klaus.brinkbaeumer@rums.ms oder via Twitter: @Brinkbaeumer.
In eigener Sache
Das Buch „Im Wahn – Die amerikanische Katastrophe“ (zusammen mit Stephan Lamby) ist soeben bei C.H.Beck erschienen. Unser Dokumentarfilm „Im Wahn“ läuft am 26. Oktober um 22.50 Uhr in der ARD.
Klaus Brinkbäumer
Klaus Brinkbäumer ist in Hiltrup aufgewachsen. Er ist Journalist, Autor, Filmemacher und seit Januar Programmdirektor des Mitteldeutschen Rundfunks in Leipzig. Von 2015 bis 2018 war er Chefredakteur des Nachrichtenmagazins Der Spiegel. Brinkbäumer gewann unter anderem den Egon-Erwin-Kisch- und den Henri-Nannen-Preis, im Jahr 2016 wurde er zum Chefredakteur des Jahres gewählt. Im Podcast „Okay, America?“ spricht er einmal wöchentlich mit der Zeit-US-Korrespondentin Rieke Havertz über die politische Lage in den USA. Klaus Brinkbäumer lebt in Leipzig.
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