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Die Kolumne von Marion Lohoff-Börger | Masematte ist ein Aufreger
Guten Tag,
die erste Frage, die mir oft gestellt wird, ist die danach, wie ich denn zu der Masematte gekommen sei. Darauf hole ich tief Luft und erzähle Folgendes: Die Masematte und ich, das ist eine wechselvolle Geschichte, die im Jahr 2016 begann, als mir das erste Masematte-Wörterbuch in die Hände fiel. Ich las es wie einen Krimi, so spannend fand ich die Wörter, ihre Herkunft und ihren Gebrauch. Heute, nach sieben Jahren, würde ich sagen, war das der Punkt, an dem sich die Masematte wie ein alter, kranker und aus dem Hals stinkender Hund vor meine Haustür gesetzt hatte und sich nicht mehr vertreiben ließ. Also musste ich mich wohl kümmern.
Begann ich anfangs noch blauäugig und ziemlich naiv mit der Beschäftigung mit Münsters sogenannter „untergegangener Geheimsprache“, so merkte ich deutlich, wenn ich mich mit der Masematte auf Münsters öffentliches Parkett wagte, mir immer wieder ein böiger bis stürmischer Wind entgegenwehte (manchmal mit Orkanstärke). Warum das so war, das verstand ich erst viel später.
Identität und Abgrenzung
Bei einem Interview mit einer Journalistin in einem hippen Café im Hansaviertel mischte sich plötzlich eine gut gekleidete, mir völlig unbekannte Frau in den Sechzigern, die zwei Tische weiter saß, wütend in unser Gespräch ein (ja, ich habe eine laute und durchdringende Stimme, man versteht mich gut).
Sie keifte richtiggehend, was mir denn einfallen würde, die Masemattesprecher:innen derart zu verunglimpfen. Was hatte ich gerade nur gesagt? Da fiel bei mir der Groschen: Sie fühlte sich angegriffen, weil ich behauptet hatte, die Akademiker:innen hätten sich in den späten Sechzigerjahren die Masematte unter den Nagel gerissen und die Sprache in ihrer ursprünglichen Form, die Münster mit dem Holocaust verloren gegangen sei, missbraucht.
Okay, ich gebe heute zu, das war schon etwas krass ausgedrückt. Damals war ich schockiert, denn wer traut sich schon in einem Café in ein Gespräch an einem anderen Tisch einzugreifen, bei dem es sich offensichtlich um ein Interview handelt? Es musste etwas sehr Persönliches gewesen sein. Heute weiß ich es: Es ging (und das geht es immer bei der Masematte) um Identität.
Bei einer anderen Gelegenheit war ich zu einer Veranstaltung der Drogenhilfe Münster eingeladen, um den unterhaltenden Part zu übernehmen. Ich erzählte an diesem Abend fröhlich und unbekümmert auf und über Masematte. In der Pause unterhielt ich mich mit einem Streetworker, der am Bremer Platz hinter dem Bahnhof arbeitete, und er berichtete mir, dass seine ganz alten Klienten nichts mehr hätten, kein Zuhause, kein Geld, keine Zukunft. Aber nur noch eines besäßen sie, was ihre Identität ausmache und ihnen Selbstachtung schenke: die Masematte, ihre alte ureigene Sprache, mit der sie sich abgrenzen konnten.
Wer spricht überhaupt noch Masematte?
Das war ein gewaltiger Knackpunkt in meiner Beschäftigung mit der Masematte. Ich hörte auf, sie rein zu unterhaltenden Zwecken zu benutzen und begann immer tiefer zu graben und zu recherchieren, was sie eigentlich wirklich ist – dabei im Hinterkopf behaltend, dass es, wenn man sich in Münster mit Masematte beschäftigt, wirklich ans Eingemachte geht. Masematte ist ein Aufreger. Und alle interessieren sich dafür.
An diesem Punkt drängt sich die Frage auf: Wer spricht denn heute überhaupt noch Masematte in Münster? Wird die Sprache noch gesprochen und wenn ja, von wem und zu welchem Anlass?
Auf diese Frage möchte ich heute in meiner ersten Kolumne bei RUMS eingehen. Weitere interessante Ergebnisse meiner Erfahrungen und Recherchen mit der Sondersprache Masematte werde ich in Zukunft an dieser Stelle darstellen dürfen (was mich stolz und dankbar macht). Heute geht es nun erst mal nur darum, wer denn in Münster noch Masematte spricht und vor allem: wer sie ursprünglich gesprochen hat.
Masematte heißt „Handel treiben“ und kommt aus dem Jiddischen bzw. Hebräischen. Die Bezeichnung Masematte ist eine Fremdbezeichnung des Münsteraner Bürgertums, um die Menschen zu benennen, die in engen Vierteln der Stadt lebten, weil sie Mitte des 19. Jahrhunderts gezwungen wurden, sesshaft zu werden.
Vorher lebten die wenig willkommenen Gäste vom mobilen Handel und Handwerk, waren Fahrende, Schausteller und Viehhändler. Sagt heute jemand, was ich selbst anfangs blauäugig bejaht hätte, dass die Masematte eine „Sprache von Ganoven, Gaunern und jüdischen Viehhändlern“ gewesen sei, grenzt das nach meinem heutigen Erkenntnisstand an Antisemitismus.
Pluggendorf, Sonnenstraße, Kuhviertel
Ja, ja, auch das ist provokant. Und, oh ja, auch damit mache ich mich bei meinen Lesungen und Vorträgen nicht sonderlich beliebt und ecke immer wieder an. Vor allem bei der 60-plus-Generation, man erinnere sich an die oben erwähnte Frau aus dem Café, die genau zu dieser Gruppe gehörte. Aber jetzt doch mal systematisch und von vorne.
Masematte wurde von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Holocaust und dem zweiten Weltkrieg in Münster in seiner ursprünglichen Form von einer kleinen Bevölkerungsgruppe in bestimmten Vierteln gesprochen. Einigen wir uns darauf, sie die Primärmasematte zu nennen.
Der Großteil der Masemattesprecher:innen wurde von den Nazis verschleppt und umgebracht, nicht erst 1942 mit den Transporten nach Riga, sondern vermutlich schon viel früher als sogenannte „Asoziale“. Die Sprecherviertel Pluggendorf, Sonnenstraße und das Kuhviertel wurden zum großen Teil im zweiten Weltkrieg zerstört, nur Klein-Muffi (eigentlich Mochum, aber das ist eine andere spannende Geschichte) zwischen Wolbecker Straße und Kanal blieb erhalten.
In den Fünfzigerjahren tauchte die Masematte beim Wiederaufbau Münsters unter den Arbeitern erneut auf. Ab hier sprechen wir von Sekundärmasematte. Die Sprache der Maurer war die sogenannte Speismakeimersprache.
Die Kinder, die in den Fünfzigerjahren in der Schule Masemattewörter benutzten, wurden von ihren Lehrer:innen geschlagen. Das haben mir verschiedene Menschen aus der 70-plus-Generation erzählt, es wurde vielfach bestätigt. Diese Menschen, die heute siebzig Jahre und älter sind, empfinden immer noch eine gewisse Scham, wenn sie Masematte sprechen sollen. Am besten kann man ihnen ein paar Wörter entlocken, wenn man mit ihnen zwei, drei Lowinchen schickert (Bierchen trinkt).
Ursprung als reine Spaßsache
Ob die Jugend auf dem Bau in den Fünfzigern ausgeholfen hat oder die Eltern noch Bruchstücke der alten Sprache kannten, weiß man heute nicht. In den Sechzigerjahren aber wurde Masematte in der Münsteraner Jugend und Studentenschaft Kult.
Die studentische Revolution, wo Studierende sich gegen die alten verkrusteten Strukturen, Denkweisen und Personalien an Uni, Schulen und Verwaltungen wehrten, brauchte in Münster eine adäquate Sprache: Die Masematte mit ihren vielen jiddischen Ausdrücken, Worten aus dem Rotwelschen, einer alten Räubersprache aus dem Mittelalter und nicht zuletzt dem Romanes, der Sprache der Sinti:zze und Rom:nja, eignete sich hervorragend, um sich abzugrenzen.
Die Studierenden von damals, das ist die aktuelle Generation 60 plus der Masemattesprecher:innen, die sich, wie es die münstersche Stadtgesellschaft so gerne tut, brüstet, etwas ganz Besonderes zu sein, einzigartig sozusagen. „Kannst du Masematte? Nein? Ach, du bist nicht aus Münster? Hm, ist ja nicht so schlimm.“
Abgrenzung und Ausgrenzung vom Feinsten. Und da wird er wieder sichtbar, der rote Faden, der sich durch die heutige Kolumne zieht: die Identität. Abgrenzung verbunden mit Ausgrenzung ist da nur die andere, unschöne Seite.
Einige dieser Sprechergruppe dachten in den Siebzigern und Achtzigern, es wäre doch eine jovle (gute) Idee, man würde Glossen und Karnevalsreden auf Masematte schreiben und halten. Hier hat die Masematte ihren Ursprung als reine Spaßsprache – etwas, das ihr bis heute leider nachhängt.
Bei vielen meiner Lesungen mache ich die Erfahrung, dass die Zuhörer:innen, wenn ich die ersten Masematte-Wörter ausgesprochen habe, schon lachen, obwohl es noch überhaupt gar nicht lustig ist. Jovel, schofel, Leeze, Lowine und Co. sind für einige einfach witzig. Auch das musste ich erst mühsam lernen und vor allem auch den Umgang damit (wie? Ich motze die Leute an, ganz einfach).
Zugewanderte brachten die Sprache mit
Aber, oh welche angenehme wie auch spannende Überraschung: Masematte wird auch von ganz jungen Menschen in Münster gesprochen. Wo denn? Bei den Preußen-Ultras im Stadion zum Beispiel oder sonntagsnachmittags in Mecklenbeck oder Kinderhaus auf dem Fußballplatz. Die Masematte ist also auch noch in der 20-plus-Generation lebendig und wird sinnvoll genutzt. Als Sondersprache, die andere nicht verstehen sollen und zur Stärkung der eigenen Identität. Wer hätte das gedacht?
Und die gute Nachricht ist: Dass wir dieses Identitätsmerkmal in Münster besitzen, haben wir den zugewanderten Menschen aus der Mitte des 19. Jahrhunderts zu verdanken, die, nicht immer freiwillig, in Münster sesshaft wurden und darauf mit der Entwicklung einer eigenen Kulturform reagierten, der Masematte nämlich, und damit in Münster tatsächlich ureigene Spuren hinterließen.
Dieser so wichtige Umstand wurde mir kürzlich in einem Gespräch mit einer Freundin, die armenische Wurzeln hat, deutlich. Nachdem ich ihr auf Nachfrage (sehr leise diesmal) in einem hippen Café im Hansaviertel davon erzählte, was es eigentlich mit der Masematte auf sich habe, strahlte sie glücklich und sagte: „Dann haben damals schon Menschen, Spuren in Münster hinterlassen, auf die Münster bis heute so stolz ist. Vielleicht ist das in 200 Jahren mit meiner Sprache auch so?“
Herzliche Grüße
Ihre Marion Lohoff-Börger
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Marion Lohoff-Börger
… ist die Frau mit der Masematte und den alten Schreibmaschinen. Auf letzteren schreibt sie Gedichte und verkauft diese in ihrem Atelier an der Wolbecker Straße 105 als Postkarten. Die Masematte möchte die freie Autorin in Münster zu einem lebendigen Sprachdenkmal machen und versucht, dieses mit Kursen, Vorträgen, Lesungen, Büchern und Artikeln für Zeitungen und Onlinemagazine umzusetzen. 2021 stellte sie beim Land Nordrhein-Westfalen den Antrag „Masematte als Immaterielles Kulturerbe“, der abgelehnt wurde mit dem Hinweis, die Stadtgesellschaft Münster müsse sich noch mehr für dieses Kulturgut engagieren.
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