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Die Kolumne von Anna Stern | Das Theater – für alle da?
Guten Tag,
wann waren Sie eigentlich zuletzt im Theater Münster? Ich muss gestehen, dass ich nach langer Abstinenz erst vor wenigen Wochen einen neuen Versuch gewagt habe. Und bevor es weitergeht, eine Klarstellung in eigener Sache: Wenn ich hier über Stücke am Theater schreibe, tue ich das nicht als professionelle Theaterkritikerin, sondern als eine, die sich selbst als Performerin versteht, grundsätzlich gern ins Theater geht und es sich erlaubt, eine eigene Meinung zum Erlebten zu formulieren.
Viele Jahre lang war das, was die Schauspielsparte am Theater Münster zeigte, weit weg von dem, was mich persönlich ansprach. Nur ein Beispiel: Ich erinnere mich an „Die Katze auf dem heißen Blechdach“, ein Theater-Klassiker von Tennessee Williams aus den Fünfzigerjahren. 2017 kam die opulente Inszenierung von Frank Behnke beim Münsteraner Publikum gut an, es gab lang anhaltenden Applaus.
Ich saß unberührt auf meinem Platz. Das deklamatorische Sprechen hatte mich – wie immer – genervt, das aufwendige Bühnenbild, die vielen Knalleffekte, die Slapstick-Elemente hatten mich kalt gelassen.
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Ich hätte mir eine Verbindung ins Jetzt gewünscht, etwas, das dieses zynische Südstaaten-Familiendrama auf eine neue, überraschende Weise interpretiert. Stattdessen war mir letztendlich doch eine recht mittelmäßige Theateraufführung serviert worden. Mein Erlebnis passt zur Einschätzung des Stellenwerts des Münsteraner Theaters in Nordrhein-Westfalen, wie sie aus der Studie der Kulturanthropologin Rike-Kristin Baca Duque der Uni Münster hervorgeht: Nicht überragend, nicht unwichtig, halt „im Mittelfeld (…) der mittelgroßen Städte“, und entsprechend von der überregionalen Kritik selten beachtet.
Die Studie reicht bis zur Spielzeit 2021/22. Sie bescheinigt dem Theater Münster, in einer Krise der Stagnation zu stecken und analysiert eine ganze Reihe von Faktoren, die dazu beitragen. An meinem Beispiel lässt sich einer dieser Faktoren verdeutlichen: Ein öffentlich gefördertes Stadttheater muss liefern, um sich zu legitimieren, das geht am besten mit Publikumsmagneten. Und die funktionieren zumindest anscheinend in einer Stadt wie Münster gut, wenn sie niemandem wehtun. Und das wiederum steht einem künstlerischen Anspruch an Innovation oft entgegen.
Dennoch verzeichnete gerade die traditionelle Schauspielsparte in Münster zumindest bis zur letzten Spielzeit vor Corona einen ernsthaften Publikumsschwund, so ebenfalls nachzulesen in der Studie, die sich dabei auf eine Theaterstatistik des Deutschen Bühnenvereins beruft (Seite 40). Die Gründe für das große Schreckgespenst der kommunalen Theater werden seit Längerem heiß diskutiert. Unter anderem auch in hitzigen und teils polemischen Kommentaren auf der Internetseite Nachtkritik (*) zu einem Artikel der Süddeutschen Zeitung vom 8. April. Im Artikel wirft die Autorin der neuen Intendantin der Münchner Kammerspiele vor, dass sie vor lauter politischer Korrektheit – „Diversität, Inklusion und Artivismus (**)“ – die Kunst vergesse. Und dass genau deshalb das Publikum ausbleibe.
Hm, die „Kunst“? Nein, den Topf mache ich jetzt nicht auf. Aber interessant ist, dass die Autorin hier einen Gegensatz ausmacht zwischen „Sprache, Literatur und klassischen Stücken“ (das meint sie wohl mit „Kunst“) und einer „sozio- und diskurspolitischen Agenda“ der neuen Intendantin, die am „Kerngeschäft des Theaters vorbei“ gehe.
In manchen Kommentaren auf Nachtkritik wird dann auf einer Münchner Antigone-Inszenierung in leichter Sprache herumgehackt, als sei dieser inklusive Ansatz der Untergang des Abendlandes. Das klingt fast so, als könnten „Kunst“ und „Inklusion“ nicht zusammen gehen. Ziemlich elitär, oder?
Seit 2022 hat das Theater Münster nun seine erste weibliche Intendantin, Katharina Kost-Tolmein, die zugleich das Musiktheater leitet. Und Kost-Tolmein scheint exakt mit der Agenda, die in München vom Feuilleton so abgestraft wird, in Münster wieder mehr und andere Menschen ins Theater bringen zu wollen.
Ein neuer Versuch
Ein Teil dieser Agenda, der Anspruch, inklusives Theater anzubieten, wird schon bei einem Blick auf die neu gestaltete Website sichtbar: Klar und plakativ kommt sie daher, mit großer Schrift, und gleich rechts oben leuchtet ein hellgrüner Button: „Leichte Sprache“. Nach ein bisschen Scrollen erscheint neben vielen anderen Rechtecken ein dunkelgrünes mit dem Titel „Inklusion“ und dem Slogan „Theater ist für alle da!“.
Ich beschloss, erst einmal einen neuen Versuch mit dem Schauspiel zu wagen. Zunächst mit „Nachkommen – ein lautes Schweigen!“ von Emre Akal, das im Januar im Kleinen Haus Premiere hatte. Wortgewaltig sinnierten vier offensichtlich nicht (mehr) menschliche Figuren darüber, was es bedeutet hat, als Mensch in einer analogen Welt zu leben.
Das Stück packte mich auf mehreren Ebenen: Da war das Bühnenbild, ein „Guckkasten-Tinyhouse“ als Metaversum. Ein riesiger Spiegel darüber schuf eine verfremdete Perspektive auf das Geschehen. Da waren die Akteur:innen, die einen komplexen Erinnerungsstrom mal chorisch, mal ineinander verschränkt, aber immer geradezu unheimlich perfekt getaktet produzierten.
Währenddessen vollführten sie Gesten, die keineswegs das illustrierten oder unterstrichen, was sie sagten.
Stattdessen schuf die Handlungsebene eine eigenständige Bedeutung: Es wurde gewinkt ohne Gegenüber, geküsst ohne Emotion, gerudert ohne Paddel. Gerade weil hier auf jede Illusion „echter“ Charaktere verzichtet wurde, konnte der Text für mich seine Wirkung voll entfalten: ein Abgesang auf die analoge Welt, eine emotionale Achterbahn zwischen zynischer Gesellschaftsanalyse und -kritik und tiefer Melancholie. Mich hat der Abend durchaus intellektuell herausgefordert und darüber hinaus den unbedingten Wunsch erzeugt, diese Welt der Menschen zu erhalten.
Ein spannender Wechsel
Der zweite Versuch: „Skalar“, ein Stück des Jungen Theaters, ebenfalls im Kleinen Haus. Die Geschichte spielt im Kopf der Hauptfigur Emily. Sie erfindet sich Mutter und Tochter Paula samt Androidin Li-Qi. Als ihre Software nicht mehr aktualisiert und sie verschrottet werden soll, taucht Paula mit Li-Qi in die Cyber-Unterwelt ab, um das System ihrer Freundin zu hacken, sprich, sie zu befreien.
Auch wenn hier ähnlich existenzielle Fragen nach dem gestellt wurden, was letztendlich Menschsein im Angesicht der Möglichkeiten digitaler Welten und Künstlicher Intelligenz bedeutet, war es weniger das Was dieses Abends, das mich beeindruckte, sondern das Wie.
Das vom Theater Münster eingeladene freie Künstler- und Medienkollektiv „Sputnic“ hat gemeinsam mit Schauspieler:innen des Hauses einen Live-Animationsfilm mit von einer KI erzeugten Bühnenbildern auf die Bühne gebracht, die handgezeichneten täuschend ähnlich sahen, mit hunderten von Folien, die in rasendem Wechsel über Overheadprojektoren (ja, die gibt es noch) an die Wände geworfen wurden, von den Protagonist:innen selbst manipuliert.
Es war der spannende Wechsel zwischen Spiel und Nicht-Spiel, Rolle und Distanz, analogen und digitalen Medien, der mich in Atem hielt. Das fast ausschließlich junge Publikum war übrigens begeistert, einige besonders Enthusiastische blieben noch zum Publikumsgespräch mit den Schauspieler:innen (ich auch). Mein Fazit aus den beiden Versuchen (zugegeben, ich habe diese Vorstellungen sehr bewusst ausgewählt) ist überraschend positiv. So macht zumindest mir (Stadt-)Theater wieder Spaß!
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Inklusive Aspekte konnte ich allerdings bei keiner der beiden Vorführungen ausmachen. Als ich die Intendantin dazu befrage, erklärt sie, dass der neue Schwerpunkt nicht in jeder Vorstellung sichtbar werde. Zurzeit werde jedoch auf vielen Ebenen daran gearbeitet.
Das Thema Menschen mit Behinderungen (***) werde im Theater üblicherweise beiseite gelassen, sei aber von allen Beteiligten am Haus als gut und richtig angenommen worden.
Was die neue Intendanz im Bereich Inklusion, Diversität und Barrierefreiheit vorhat, konnten Sie schon im Beitrag von Constanze Busch am vergangenen Dienstag lesen. Doch ungleich aufwändiger als Audiodeskription anzubieten oder ein inklusives Ensemble einzuladen, ist es, das nicht barrierefreie Gebäude zu verändern, das unter Denkmalschutz steht.
Ins Studio kommt man nur über eine Treppe, das Foyer ist duster und verstaubt, es fehlt eine attraktive und bezahlbare Gastronomie. Und wenn wir schon beim Geld sind: Die happigen Eintrittspreise sind eine Barriere der anderen Art. Als Familie ins Theater gehen, das wird schnell teuer. Selbst im zweiten Rang weit oben kostet ein Ticket im Großen Haus noch zwischen 19 und 23 Euro.
Flucht nach vorne
Kost-Tolmein sind diese Punkte bewusst, und sie weiß auch, dass das Theater die Flucht nach vorne antreten sollte, um mehr und andere Menschen zu erreichen. Das bedeutet für sie unter anderem, den sicheren Bühnenraum zu verlassen und sich in den öffentlichen Raum Münsters zu wagen.
Gut könnte das gemeinsam mit Akteur:innen der freien Szene gelingen. Die letzten Punkte treffen exakt den Ansatz des Stadtensembles (meine Kolumne dazu), einem Zusammenschluss zwischen 120 Künstler:innen am Theater und in der freien Szene.
Das Stadtensemble hatte unter der letzten Intendanz gerade eine Kooperation mit dem Theater begonnen, gefördert aus den Mitteln der NRW-Landesförderung „Neue Wege“. Dennoch entschied sich Kost-Tolmein gegen eine Fortführung der Zusammenarbeit. Ihre Begründung: Letztlich habe es keinen Raum für gemeinsame Themen gegeben, da das Stadtensemble eine Struktur mit eigener künstlerischer Leitung und Themensetzung sei und das Haus als Hintergrund mit Ressourcen nutzen wolle.
Die Förderung sei aber dezidiert als Unterstützung der kommunalen Theater gedacht. Nun wird stattdessen der Schwerpunkt Inklusion über „Neue Wege“ gefördert. Beim Stadtensemble sorgte diese Entscheidung im letzten Jahr für Unverständnis, um es vorsichtig zu formulieren.
Ich bleibe gespannt, welche Kooperationen die Intendanz zukünftig auf-, aus- oder auch abbaut und wie das Theater Münster im Stadtraum sichtbar werden will. Und ich werde in einem weiteren Selbstversuch mindestens eine der aktuell genau vier Veranstaltungen besuchen, die sich hinter dem dunkelgrünen Rechteck mit dem Slogan „Theater ist für alle da!“ verbergen.
Herzliche Grüße
Ihre Anna Stern
(*) Das im Jahr 2007 gegründete Portal „Nachtkritik“ nennt sich das „erste unabhängige und überregionale Theaterfeuilleton im Internet“. Der Name bezieht sich auf die sportliche Herausforderung, „zu allen wichtigen, von der Redaktion ausgewählten Inszenierungen im deutschsprachigen Theater (…) am Morgen nach der Premiere eine Theaterkritik“ zu veröffentlichen.
(**) Artivismus, eine Neuschöpfung aus Art und Aktivismus, beschreibt Kunstformen mit klarer sozialer und gesellschaftskritischer Agenda im öffentlichen Raum, siehe Lilo Schmitz’ Buch „Aktivismus –Kunst und Aktion im Alltag der Stadt“, Transkript 2015.
(***) Die Aktion Mensch vertritt auf ihrer Website für das Projekt „Kommune inklusiv“ einen weiten Inklusionsbegriff: „Jeder Mensch soll sich gleichberechtigt und unabhängig von Behinderung, sozialer Herkunft, Geschlecht, Alter, sexueller Orientierung oder sonstiger individueller Merkmale und Fähigkeiten an allen gesellschaftlichen Prozessen beteiligen können.“ Menschen mit Behinderungen sind dabei nur eine von vielen gesellschaftlich benachteiligten Gruppen.
Anna Stern
… ist unter anderem Performance-Künstlerin. Sie lebt und arbeitet seit 30 Jahren in Münster. Sie studierte an der Kunstakademie Münster, später an der Berliner Universität der Künste, wo sie aktuell Vertretungsprofessorin am Institut für Ästhetische Bildung und Kunstdidaktik ist.
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